R Spandau / 50

Ein Besuch im BMW Motorradwerk Spandau

Text Philipp STADLER | FOTOGRAFIE VOLKER CONRADUS

»Fern jener Straße, hinter den profanen Fassaden industrieller Werktätigkeit, entstehen die technischen Wunder, deren Nutzung so viele Emotionen in uns auslösen kann«, könnte man sagen, wenn man vor den Toren des BMW Motorradwerks steht. Zum 50. Jubiläum (Anmerkung der Redaktion: der Artikel ist ursprünglich 2019 in der Printausgabe Chapter III erschienen) haben wir diese Produktionsstätte besucht, uns umgeschaut und der Tradition besonnen, die aus ihr hervorgegangen ist. Zusammengefasst lebt sie im Geist der BMW R nineT /5 fort.

 

 

Hier in Spandau, dem verschrobenen Berliner Vorort, hat dieser Ausspruch eine lange Tradition. Erbaut als Fertigungsstätte für Flugzeugmotoren, war die Geschichte so wechselvoll wie die des Landes, in der sie bis heute steht. Weil nach dem Zweiten Weltkrieg definitiv kein Bedarf mehr an Flugzeugmotoren bestand, stellte man auf die Produktion von Werkzeugmaschinen um. Mit denen fertigte man im Münchner Stammwerk Motorräder für die aufkeimende Massenmobilität, die ja bekanntermaßen zunächst zweirädrig daher kam. Eine BMW war damals ausschließlich in schwarz/weiß erhältlich und der Zierrat beschränkte sich auf das BMW-Emblem — eine letzte Reminiszenz an die Luftfahrt-Ära des Unternehmens.

Wenn heute ein BMW-Motorrad entsteht, dann ist das ein höchst gegensätzlicher Prozess. Zum einen die ultimative Technizität, modernste Fertigungsmaschinen in synchroner Einigkeit mit induktionsgesteuerten Transportpodesten, Fließbändern und Transportgondeln. Zum anderen eine schiere Masse von Menschen. Ja, richtig gelesen, Menschen. Hunderte Arbeiterinnen und Arbeiter an einem Strang, mehr als 2.000 insgesamt. Denn, auch wenn es sich bei einer BMW um ein hochmodernes Technikprodukt handelt, bedarf es an allen Ecken nach wie vor echter Handarbeit, um die knapp 4.000 Teile zusammenzusetzen. Die Radien der Schweißnähte sind immer noch zu komplex, als dass sie ein Schweißroboter gemäß den Ansprüchen absoluter Perfektion erzeugen könnte. Die Nachbearbeitung ist filigran und bedarf routinierter Handwerkskunst. Selbst die Geräuschkulisse ist eher menschlicher als maschineller Natur. An den Bändern stehen potente Boomboxen, nach 60 Minuten wird über eine neue Musikrichtung abgestimmt. Der Blick hinter den Sicherheitsstreifen streift über eine hochdynamische Arbeitslandschaft im Herzen der Republik, den Soundtrack steuern die Gangster-Rapper von N.W.A. bei.

 

 

Mitte der Sechzigerjahre war der Motorrad-Boom, der in den Nachkriegsjahren seinen letzten großen Kick bekommen hatte, erloschen. Große Marken gaben die Produktion auf und setzten in Gänze auf das Automobil. In München dagegen hatte man stets in die Motorrad-Linie investiert und war mit der Entwicklung innovativer Fahrwerke, die Sportlichkeit und Komfort zu verbinden wussten, erfolgreich geblieben. Das Motorrad hatte sich vom pragmatischen Fortbewegungsmittel des »kleinen Mannes« zum Accessoire der motorisierten Mittelschicht entwickelt. So stand auf einmal der Fahrspaß im Pflichtenheft der Motorradbauer. Motorräder wie die herausragende BMW R 69 S entstanden. Weil man aber auch in München immer erfolgreicher Automobile verkaufte und mit Einführung der Neuen Klasse größere Kapazitäten benötigt wurden, entschied man sich, die Fertigung von Motorrädern nach Spandau zu verlegen.

 

 

Die meisten Arbeiten werden in Sekundenschnelle erledigt, ergonomische Arbeitsplatzoptimierung in Reinform zelebriert. Die Arbeitsplätze sind umgeben von kleinen Robotern, die in schaukastenartigen »Workstations«, wie sie international normiert genannt werden, ihren Dienst vollziehen. Hier werden Arbeiten erledigt, deren Präzision nur von noch besseren Maschinen übertroffen werden könnte, die aber immer der Kontrolle eines Menschen bedürfen.

Die Entscheidung, die BMW-Motorradproduktion nach Berlin-Spandau zu verlegen, muss von Außenstehenden wie ein Ende auf Raten empfunden worden sein. Doch die Argwöhner sollten sich, wie so oft in der Geschichte der Bayerischen Motorenwerke, täuschen. Zum Produktionsstart 1969 hat man eine neue, zeitgemäße Linie entwickelt. Und das inmitten der größten Krise des europäischen Motorradbaus. Die »Strich Fünf«-Baureihe war, wie ihre Vorgänger, sportlich motorisiert und hatte ein Fahrwerk, das im Gegensatz zur PS-mäßigen Überlegenheit der fernöstlichen Konkurrenz den eigenen Leistungen gewachsen war. Die Mischung aus qualitativ hochwertiger Verarbeitung und sportlicher Auslegung blieb ebenfalls erhalten. Dafür kamen endlich Farben hinzu. Der Zeitgeist der frühen 1970er favorisierte einen freien Lebensstil, zu dem Motorradfahren als Ausdruck eines Lebensgefühls zu passen schien. Diesem Vibe zollt die R nineT /5 Tribut. Als Erbschleicher verpönt ist sie eine progressive Entwicklung, die zunächst hinter dem Rücken des Aufsichtsrats gemacht wurde. Letztlich kam der Erfolg doch prompt nach dem Verkaufsstart. Nun gilt sie als Vorreiter für Maschinen, die mit überschaubaren Hausmitteln und einem Universum aus Anbauteilen individualisiert werden können. »Modul Bikes«, die dem Purismus der Café Racer frönen.

 

 

Genau hier liegt der Anachronismus. Bänder, die zur Produktion von ultimativem High-Tech taugen, Fertigungsprozesse, die elaborierter nicht sein könnten, erzeugen das Reduzierteste, was unter dem Titel »echtes Motorrad« verstanden werden kann. Herzstück ist der epische BMW-Boxermotor. Dessen Geschichte alleine füllt schon etliche Regalmeter. Mal von der Tatsache abgesehen, dass man auch bei BMW in den 1960er Jahren Überlegungen angestellt hat, die Produktion des Boxers und der dazugehörigen Motorräder einzustellen: Wie oft stand diese Konstruktion vor dem Aus? Gefühlt jedes Mal, wenn BMW einen neuen Motor präsentiert hat, der kein Boxer war. Trotzdem ging es für dieses Artefakt aus der Frühzeit des Motorrads immer weiter. Die Vor- und Nachteile, die seit jeher von Kritikern diskutiert werden, sind so gegensätzlich wie die Arbeitsrichtung der Kolben. Man könnte meinen, sie seien über die Zeit zu einer ikonographischen Beschreibung emporgestiegen. Zum einen der vortrefflich niedrige Schwerpunkt und die unaufgeregte Niedertourigkeit dank gutem Drehmoment. Dann andererseits die ausladenden Zylinderköpfe und die Tatsache, dass die Niedertourigkeit auch ein Nachteil sein kann. Bis Reg Pridmore 1976 mit einer hochgezüchteten BMW R 90 S die amerikanische Superbike Series gewann. Gegen eine Armada aus fernöstlichen Rennmaschinen, die bis dato keine Konkurrenz zu fürchten hatten.

Bis 1997 gab es die guten alten Zweiventil-Boxer, aber schon 1993 wurden die ersten Vierventiler in die freie Wildbahn entlassen. So einer ziert die R nineT /5, die zum 50. Jubiläum des BMW-Motorradwerks in Spandau aufgelegt wurde. Klarlackiertes Leichtmetall statt des ansonsten in schwarz ausgelieferten Triebwerks machen hier den Unterschied. Der Hubraum von 1170 Kubikzentimetern, aus denen stolze 110 PS geschöpft werden, bleibt unangetastet. Der Herstellungsaufwand ist enorm, auch weil Qualität als eines der Hauptmerkmale angeführt wird. Nach jeder Bearbeitung des Blocks wird das komplette Werkstück in einem Tauchbad von Metallspänen befreit und unter Hochdruck entgratet. Denn Produktionsüberreste im Antrieb stehen einer langen Lebensdauer diametral im Weg. Letztlich kann auch die Existenz des letzten wirklich großen Motorradwerks in Europa nur so erklärt werden. Denn richtig Masse können die anderen längst besser. Doch in einer Zeit, in der für manche ein Motorrad das bedeutet, was für andere eine Handtasche ist, zählt Qualität zu den Top-Konsumgründen.

Die wichtigsten Insignien einer historischen /5 aus den ersten Tagen des Standorts Berlin wurden für die »Anniversary Edition« in die heutige Zeit übersetzt: Der klassische Kardanantrieb, genauso wie die Telegabel mit verchromten Tauchrohren und den notorischen Gummifaltenbälgen. Am Tank (dessen Lackierung inzwischen jedoch outgesourct wird) machen ein detailverliebter Smoke-Effekt mit handgezogener Doppellinierung und Gummibacken die Verneigung vor dem Motorrad-Typus, der BMW die Zweiradtradition gerettet hat, komplett.

 

 

Am Ende des gut zweistündigen Entstehungsprozesses steht die Befüllung mit Treibstoff und eine erste Ausfahrt. Allerdings findet diese nicht im Freien, sondern auf einem Rollenprüfstand im Inneren des Werks statt. Der Job des »Einfahrers« ist unweigerlich der begehrteste im gesamten Werk, erfordert aber das ultimative »Popometer«. Ein extrem geschultes Sensorium, das in wenigen Minuten auf der Walze registriert, ob die Abstimmung von Fahrwerk, ABS, Motorsteuerung und Elektrik dem auslieferungsfertigen Zustand entsprechen.

Am Dienstag, den 9. April 2019, lief das dreimillionste BMW Motorrad in Spandau vom Band. In einer Zeit, in der das Auto die Schlagzeilen dominiert, hätte das wohl kaum jemand für möglich gehalten. Aber für diejenigen, die sie bauen, ist es das Größte der Welt und der ganze Stolz.