Genie vs. Maschine

Wie wird diese Geschichte weitergehen?

Designskizze des vollelektrischen SUV Hyundai IONIQ 9, mit Marktstart 2025
© Hyundai

Text Lutz Fügener

Im Jahr 1950 wurde vom britischen Mathematiker und Logiker Alan Turing der heute nach ihm benannte Test für die Intelligenz einer Maschine eingeführt. Er dient als Maßstab zur Bewertung der Fähigkeit einer Maschine, menschliches Denken nachzuahmen. Heute, in einer Welt, in der KI-Tools, die diesen Test mit Leichtigkeit bestehen, wie ein unaufhaltsamer Sturm über die Design- und Kreativlandschaft hinwegfegen, stellt sich die Frage: Brauchen wir die genialen Einzelpersönlichkeiten noch? Kann eine Maschine, die Milliarden von Formen analysiert, rekombiniert und verbessert, deren Plätze einnehmen?

Die KI erscheint uns als ein übernatürliches Wesen, das aus einem Ozean des Wissens aufsteigt. Sie hat keinen Hunger, keine Erschöpfung, keine Ablenkung. Sie kann in wenigen Sekunden durch mehr Designbibliotheken stöbern, als ein Mensch in einem ganzen Leben zu Gesicht bekäme. Mit jedem neuen Entwurf lernt sie, wird präziser, schneller, brillanter. Und ja — sie schafft auch das Unerwartete. Unendliche Kombinationen erzeugen unendlich viele neue Ergebnisse. Wer sich derzeit in den einschlägigen Medien nach KI-generierten Bildern und Videosequenzen umsieht, öffnet damit zunehmend die Schleusen von Bilderfluten, die eine ästhetische Güte besitzen, die noch vor zwei Jahren versierte Spezialist:innen in 2D- und 3D-Software gefordert hätten. Und es ist nicht zu bestreiten, dass in der Welt des Designs die Form oft den Inhalt überspielen kann — zumindest auf den ersten Blick. »Im Theater wird immer weniger gesprochen, immer mehr gemacht. Das Bild verdrängt den Text, und das Publikum sieht gebannt zu, wie sich einer die Schuhe zubindet«, so beschrieb der Entertainer Harald Schmidt einst die Dominanz des Visuellen in seinem Metier. Das Äquivalent des Textes ist im Design die Funktion — egal, wie weit diese in einer postmodernen Definition auch greift. Kurzum: Durch den Einsatz von KI füllen sich die Medien mit hochklassigen Darstellungen oft drittklassiger Entwurfssimulationen.

Steve Jobs with first Apple computer, iMac
© UPI / Alamy Stock Foto

 

Der iMac als Produkt zweier Genies: Design-Virtuose Jonathan Ive und Tech-Pionier Steve Jobs

 

Man kann diese Entwicklung als Bedrohung für die Profession des Designs verstehen, als Aussicht auf eine fortschreitende Automatisierung dieser Tätigkeit. Und ja, es gibt tatsächlich ein ernstzunehmendes Potenzial für Unruhe: Alle, die Innovationen genau nach dem Prinzip geschaffen haben, welches die KI’s nun so uneinholbar schnell umsetzen — der Kombinatorik von Bestehendem — sollten anfangen, sich nach einem anderen Geschäftsmodell umzusehen, denn mehr und mehr sehen sich Designer und Designerinnen in einer Management Position. Sie versorgen virtuelle Mitarbeitende mit Aufgaben, worauf die in rasender Geschwindigkeit entstehenden Ergebnisse bewertet und präzisiert werden, um das Ergebnis zu verbessern. Das Handwerkliche tritt an einigen Stellen zurück, doch was bleibt — oder was jetzt wirklich zählt — ist die sichere Urteilsfähigkeit und noch viel mehr das Originäre, das Initiale, die Disruption. Man kann sich dieses Team aus Designschaffenden und KI wie ein Orchester vorstellen, in dem verschiedene Talente zusammenarbeiten müssen, um etwas Großes zu erschaffen. Doch was wäre ein Orchester ohne Dirigierende?

Foto des Apple-iPhone-16-Pro
© Apple

 

Das sogenannte »Steve-Jobs-Patent« wurde 2009 von der US-amerikanischen Patentbehörde genehmigt und deckt grundlegende Funktionen der Multi- Touch-Bedienung ab, die durch das iPhone populär wurden. Bis heute prägt das iPhone globale Standards für Smartphones in Bezug auf Design und Funktion. (Bild: iPhone 16 Pro)

 

Jonathan Ive, dieser stille Virtuose, der in seinem Studio wie ein Alchemist an einem neuen Elixier arbeitete, formte nicht nur Objekte. Der iMac war nicht einfach ein Computer. Er war ein Versprechen — ein Versprechen auf Einfachheit, auf eine Zukunft, in der Technologie nicht mehr kalt und distanziert war, sondern warm, einladend, menschlicher. Der iMac war durchsichtig, um Kontrolle über die im Verborgenen arbeitenden Innereien zu suggerieren. Er war bunt, um im Rückzugsraum der Menschen nicht wie ein Fremdkörper zu wirken, und er hatte einen Griff auf seinem Rücken, um berührbar zu sein. So stand der bunte iMac da wie ein Regenbogen in einer grauen Welt und lockte Menschen, die sonst zögerten, in die digitale Ära.
Doch die nächste, weitaus nachhaltigere Stufe des Triebwerks, welches Apple zum wertvollsten Unternehmen der Welt machte, war eine andere Idee: die tastenlose Bedienung eines menügesteuerten Geräts durch einen kapazitiven Bildschirm — niedergelegt im sogenannten »Steve Jobs Patent« über die Benutzerschnittstellen für Multitouch-Geräte. Es brauchte zwei Genies, um diese Technologie zum Zünden zu bringen. Da war Steve Jobs, ein charismatischer Pionier, der das Genie des introvertierten Briten erkannte wie ein Kunstsammler, der ein verlorenes Meisterwerk wiederentdeckt. Ihre Partnerschaft war fast wie ein Tanz — mal stürmisch, mal leise, doch immer harmonisch. Jobs verstand es, Ives kreative Vision zu nähren und gab ihm den Raum, den er brauchte, um Ideen zu verwirklichen, die mutig waren und oft gegen den Strich der Konvention gingen. Gemeinsam brachten sie Produkte wie den iPod und das iPhone auf die Welt — nicht nur als Werkzeuge, sondern als neue Lebensformen, die unser tägliches Sein grundlegend veränderten. Jobs und Ive waren das Paradebeispiel für Kongenialität.

Als Jobs im Alter von nur 56 Jahren zu Grabe getragen wurde, gehörte Ive zu den handverlesenen, wahren Freunden an seinem Grab. Seine Beziehung zu Apple war danach nie mehr wie zuvor. Er schaffte mit gewohnter Zuverlässigkeit noch ein paar Kassenschlager und verließ schließlich das Unternehmen. Hätte damals KI diesen Job erledigen können? Hätte sich unter den in beliebiger Anzahl herstellbaren Vorschlägen für ein neues, smartes Telefon, der des tastenlosen Geräts mit kapazitivem Bildschirm befunden? Es ist zu bezweifeln, denn die Logik der Kombination verlangt entweder nach Evidenz oder dem richtigen Hinweis. Erstere gab es nicht, für Letztere bedarf es eben wieder des Genies.

Rendering of Zaha Hadid, BEEAH Headquarters, Sharjah, UAE, 2014—2022
© Photographs by Hufton + Crow

 

Zaha Hadid, BEEAH Headquarters, Sharjah, UAE, 2014—2022

 

Die Architektin Zaha Hadid gehört zur Top-Liste der Stararchitekt:innen der Welt. Sie erscheint mit hundertprozentiger Sicherheit meist auf einem der ersten drei Plätze. Das Portfolio ihrer ikonischen Bauwerke ist lang und ebenso eindrucksvoll wie die Bauwerke selbst. Sie gleichen Raumschiffen, angekommen aus fernen Galaxien, gelandet im profanen Irdischen. Hadid ist die Meisterin der ganz großen Skulptur. Der Mensch steht staunend davor, darin, steht mit ihr in Beziehung wie zu den Niagarafällen oder dem Grand Canyon. Der Begriff »Nutzende« passt hier wenig, eher »Betrachtende«, »Bestaunende« oder »Geduldete«. Die Kunst Zaha Hadids vermag es, enorme Summen für die Umsetzung der oft ohne Rücksicht auf Kosten entstandenen Entwürfe zu mobilisieren, und vielleicht war genau das ihr Geheimnis: das absolut Elitäre.

staircase of Zaha Hadids Zhuhai Jinwan Civic Art Centre Zhuhai, China, 2017—2023
© Virgile Simon Bertrand

 

Zaha Hadid, Zhuhai Jinwan Civic Art Centre Zhuhai, China, 2017—2023

 

Der US-amerikanische Unternehmer und ambitionierte Segler Cornelius Vanderbilt III (1873-1942) äußerte vor rund hundert Jahren auf Nachfrage über den Preis seiner geliebten America’s Cup-Yachten: »If I thought that money was to be considered, I would not have undertaken the project.« Vanderbilt und Hadid hätten sich vielleicht großartig verstanden, doch im Unterschied zu Hadids Gebäuden waren Vanderbilts Yachten verpflichtet, einer Funktion im klassischen Sinne der Moderne zu genügen — sie mussten gewinnen. Zaha Hadids Herangehensweise ist so postmodern, dass man den Begriff hätte erfinden müssen, wenn es ihn noch nicht gegeben hätte.
Spannend ist in diesem Zusammenhang das Experiment, einer einschlägigen, bilderzeugenden KI per einfacher Texteingabe in die Prompt-Line die Aufgabe zu geben, fotorealistische Bilder eines großen Gebäudes in beliebig definierter Funktion und im Stil der Zaha-Hadid-Architektur zu generieren. Die Ergebnisse sind ausnahmslos dazu geeignet, sie erfolgreich unerkannt in einer Werksübersicht der Architektin zu verstecken. Was KI mühelos kann, ist die Skalierung von Idee, Größe und Komplexität. Die Genialität liegt hier in der Umsetzung, dem technischen und nicht zuletzt auch finanziellen »ins Werk setzen« des jeweiligen Projekts. Als Ideengeberin taugt KI hier also allemal.

Skizze eines KIA Modells von Peter Schreyer
© Kia

Während Jonathan Ive noch durch die Korridore von Apples Hauptsitz in Cupertino schritt und über die Zukunft des Designs sinnierte, fand auf der anderen Seite der Welt, in Südkorea, eine andere Revolution statt — diesmal auf vier Rädern. Peter Schreyer, ein Mann, dessen Name in Europa nur interessierten Insidern und Insiderinnen ein Begriff war, trat bei Kia ein, als diese Marke fast schon wie ein verbeulter alter Wagen war, der dringend einen neuen Motor brauchte. Schreyer, der zuvor bei Audi das unverwechselbare Design des TT verantwortet hatte, brachte mehr als nur eine neue Formensprache nach Korea — er brachte eine Vision mit.
Die Autos, die Schreyer für Kia entwarf, wirkten wie eine Erhebung aus der Masse. Sie waren nicht länger die unscheinbaren Vehikel für die untere Mittelklasse, sondern plötzlich Stolz auf vier Rädern. Das neue Kia-Design war eine Kampfansage. Schreyer befüllte die Produkte der Marke mit Selbstbewusstsein, emanzipierte sie aus der Rolle des um Aufholen bemühten Konkurrenten auf dem Weltmarkt zum Aspiranten auf die Pole Position. Die Autos verkauften sich wie nie zuvor, und Schreyer — der Zauberer — bekam immer mehr Verantwortung — jetzt auch für die Produkte des großen Mutterkonzerns Hyundai. Und er war wieder erfolgreich. In Südkorea, einem Land, in dem bescheidene Zurückhaltung zur Kultur gehört, erlebte Schreyer eine neue Form der Berühmtheit. Auf der Straße angehalten, um Autogramme gebeten, von Fans für Selfies umringt — Schreyer, dieser leise Mann aus Bayern, wurde zu einem Helden in einer fernen Heimat, die seine Kunst wie ein Volkslied feierte.

Skizze des Audi TT von Peter Schreyer
© Audi

 

Die Erfolge mit Kia und Hyundai sind nur  einige der  Fußabdrücke,  die Peter  Schreyer  bisher  im Automobildesign hinterlassen hat. Mit dem VW Beetle, dem Audi A2 oder dem Audi TT prägte er auch andere Marken nachhaltig.

 

Design ist also tatsächlich eine Produktivkraft. Doch stellt sich die Frage: Was hat Schreyer anders gemacht? Die initiale technologische Idee aus der iPhone-Geschichte fehlt hier, ebenso die ausladende Geste der Zaha Hadid. Die Produkte von Kia und Hyundai verwendeten nach wie vor herkömmliche Technologien in Herstellung und Funktion — deren schrittweiser Fortschritt sich nicht signifikant von dem anderer Marken absetzte. Um es kurz zu machen: Man weiß es nicht. Es lässt sich zwar in allen Details nachvollziehen, was das Designkonzept der Schreyer-Ära unter den ausführenden Händen vieler seiner Designer:innen an den Produkten verändert hat, aber warum es solche Akzeptanz erfahren hat, lässt sich nicht ermitteln und schon gar nicht verallgemeinern und an anderen Orten in Anwendung bringen.

Wird also die KI den Designer und die Designerin ersetzen? KI ist eine Bedrohung für das Mittelmaß. Wer bisher sein Geschäft betrieb, indem er Kreativität mit routinierter Kombinatorik vortäuschte, spürt jetzt bereits ihren Atem im Nacken, denn KI kann Formen rekonstruieren, Farben kombinieren, Texturen perfektionieren, skalieren, übertreiben und unendlich komplizieren. Doch bis heute fehlt ein entscheidendes Element: Der Wagemut, einen Schritt ins Dunkel zu tun und etwas Neues zu schaffen, das es so zuvor noch nie gab. Das Genie liegt im Bruch, im Fehler, im buchstäblich unberechenbaren Moment der Erleuchtung, um im Großen und im Detail etwas radikal Neues entstehen zu lassen. Das klingt — zugegeben — mehr nach Alchemie als nach Design. Es scheint an der Zeit zu sein für einen neuen Test, der nicht die Konversation, sondern die wirkliche, disruptive Kreativität zum Prüfkriterium macht. Aber wer weiß schon, wie die Geschichte weitergeht?

ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XI »TASTEMAKERS« – WINTER 2024/25

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