Neuland aus bekanntem Grund

Zwischen Erfahrung und Innovation

© Bang & Olufsen

Text Sarah Wetzlmayr

Wenn Elektrofahrzeuge beinahe geräuschlos durch die Straßen rollen, Lieblingslieder plötzlich einen fast schon plastischen Charakter annehmen und Banken von realen Institutionen zu bunten Smartphone-Apps werden, steckt dahinter vor allem eines: Innovation. Es sei denn der Innovationsgeist wird in die Erfahrungsschatzkiste gesperrt und muss sich dort dem guten, alten Erfahrungswissen unterordnen. Welche Gefahren die sogenannte Erfahrungsfalle birgt und ob es vielleicht auch so etwas wie eine Innovationsfalle gibt, darüber haben wir mit Thomas Ingenlath (CEO der Volvo-Tochter Polestar), Susanne Hahn (Leiterin des Lab1886), Georgina Smallwood (ehemalige CPO von N26) und Snorre Kjesbu (Head of Design, Creation and Fulfilment bei Bang & Olufsen*) gesprochen.

 

*Anmerkung der Redaktion: Snorre Kjesbu ist per 30. September 2020 aus dem Unternehmen ausgeschieden.

 

Werden Marillenknödel »mit ohne Marillen« bestellt, sitzt in der Regel ein ebenso hungriges wie trotziges Kind am Mittagstisch, das zum großen Ärgernis der Eltern nur den sanft säuerlichen Marillengeschmack am weichen Kartoffelteig toleriert, nicht aber die als viel zu sauer empfundene Marille selbst. So ärgerlich die unter Kindern relativ weit verbreitete sprachliche Neuschöpfung »mit ohne« auch sein mag, so handelt es sich dabei dennoch um die korrekte Umschreibung eines altbekannten Prinzips — des »so, nur ein bisschen anders«-Prinzips, das große wie kleine, meist stark technologiegetriebene Unternehmen auf der ganzen Welt dazu bringt, stylische Glaskuben aus dem Boden zu stampfen, die dann mit dem Titel »Innovation Lab« versehen werden. Stark verkürzt und möglicherweise etwas übertrieben bilderreich dargestellt, versteht sich.

 

DAS MAGISCHE DREIECK

Innovation, von den beiden Buchautoren Vijay Govindarajan und Chris Trimble sehr weit gefasst als »neues Projekt mit unsicherem Ausgang« beschrieben, wird also zunehmend in eigens dafür geschaffenen Laboratorien verhandelt. Vielleicht auch deshalb, weil gänzlich neue Dinge oder Abwandlungen des Alten (»so, nur ein bisschen anders« beziehungsweise »so, nur ein bisschen besser«) einfacher außerhalb der Unternehmensheadquarter entstehen und reifen können. In diesen Gewächshäusern für große und kleine Innovationen haben altbewährte Aussagen wie »Das war immer schon so. Das haben wir immer schon so gemacht.« keinen Nährboden. Aber wirkt Erfahrung tatsächlich wie ein Pflanzengift, wenn Ideen zu echten Innovationen heranwachsen sollen? Govindarajan und Trimble sind davon überzeugt, dass Erfahrung für ein innovatives Team eine schwere Last sein kann. »Innovative Initiativen sind bewusste Abweichungen von der Vergangenheit«, schreiben die beiden Autoren, deren Buch *The Other Side of Innovation als Innovationskompass für Unternehmen gefeiert wurde. Geht es nach den beiden Experten, starten viele Unternehmen trotz großen Innovationsdrangs von einer schwierigen Ausgangsbasis: »Unternehmensorganisationen sind nicht für Innovation geschaffen, sondern für Effizienz. Der alltägliche Druck ist enorm, und es ist verdammt schwer, die Disziplin der Effizienz mit der Disziplin der Innovation zu kombinieren.« Zum komplexen Wechselspiel aus Innovation und Erfahrung gesellt sich nun also auch die Effizienz. Ob sich daraus ein magisches Dreieck entwickeln kann, an deren Spitze die Innovation steht, hängt auch davon ab, wie sehr man sich nach dieser Spitze streckt. Und ob man dabei gar die Bodenhaftung verliert.

 

*The Other Side of Innovation: Solving the execution challenge, Harvard Business Review Press, 2010

 

INNOVATION, ABER BITTE VERANTWORTUNGSBEWUSST

Thomas Ingenlath, Geschäftsführer der jungen, schwedischen Elektroautomarke Polestar, ist davon überzeugt, dass Erfahrung und Innovation nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen. Auf mehreren Ebenen setzt der 56-jährige Designer und CEO daher lieber auf den Mehrspielermodus. Und denkt dabei am liebsten so divers wie möglich. »Erfahrung kann dabei helfen, Dinge schneller beurteilen zu können und Chancen möglichst früh zu ergreifen. Andererseits besteht natürlich die Gefahr, dass man den Enthusiasmus und die Offenheit verliert, wenn man zu sehr auf Erfahrung und zu wenig auf neue Blickwinkel setzt. Bei Polestar glauben wir an eine gute Mischung, auch bei unseren MitarbeiterInnen. Ich finde es unglaublich wichtig, dass junge Talente eng mit erfahrenen MitarbeiterInnen zusammenarbeiten«, meint Ingenlath. Wiederum aus Erfahrung weiß er, dass es auch für eine junge, innovative Marke, nicht ausreichend ist, nur hippe Querdenker in einem schönen Headquarter zu versammeln. »Wir machen hier nicht alles neu. Und das sollte man auch nie denken. Als Automobilhersteller ist unser Geschäft eine absolute Mischung aus beidem. Wir revolutionieren und erfinden einige Dinge in der Tat neu, aber viel von dem was wir brauchen, basiert auf Wissen und Erfahrung«, so der gebürtige Deutsche, der 2012 von Volkswagen zu Volvo wechselte und seit 2017 auch CEO der Volvo-Tochter Polestar ist. »Eine Ersatzteilversorgung kann beispielsweise nicht von Leuten organisiert werden, die das zum ersten Mal machen«, fügt er lachend hinzu. In einer Branche, die niemals stillsteht, die zu einem relativ großen Anteil aber auch aus Tradition und seit Jahrhunderten weitergegebenen Kernkompetenzen gespeist wird, spielt sich das Wechselspiel aus Innovation und Erfahrung also auf besonders dünnem Eis ab.

Das weiß auch Georgina Smallwood, bis zuletzt Chief Product Officer bei der Challengerbank N26: »Als Bank geht es bei N26 in besonders hohem Ausmaß auch um Verantwortungsbewusstsein. Den KundInnen muss ein sicheres digitales Umfeld geboten werden, in dem sie sich wohl fühlen. Immerhin geht es um das Geld dieser Menschen. Trotzdem ist es vor allem für ein digitales Unternehmen immens wichtig Visionen voranzutreiben. Aber immer mit einem Auge darauf, ob unsere KundInnen uns auf diesem Weg auch folgen können.« Von einer rein technologischen Perspektive betrachtet, sei gerade in der immer stärker von digitalen Vorgängen geprägten Finanzwelt schon sehr viel möglich. Diese Sprünge seien aber wertlos, wenn sie von den KonsumentInnen nicht mitgemacht werden können. »Ich denke dabei zum Beispiel gerne an meine Eltern, die sich am Ende des Monats mit einem Textmarker und der Kreditkartenrechnung an einen Tisch gesetzt haben. Zwar wurde aufgrund der Digitalisierung der Themenbereich Geld und Finanzen schon sehr viel stärker in den Alltag integriert, bis es voll und ganz Teil des täglichen Lebens wird, wird es aber noch etwas dauern«, erklärt Smallwood. Wie eng Verantwortungsbewusstsein und Innovation ineinander verwoben sein müssen, wurde ihr bei N26 erstmals so richtig bewusst.

 

 

Thomas Ingenlath ist seit 2017 CEO der schwedischen Elektroautomarke Polestar. Zum Wechselspiel aus Innovation und Erfahrung meint er: »Wir revolutionieren und erfinden einige Dinge in der Tat neu, aber viel von dem was wir brauchen, basiert auf Wissen und Erfahrung.« © Polestar

 

DESIGN ALS INNOVATIONSVERMITTLER

Wie es gelingt, den munteren Innovationsgeist so weit im Zaum zu halten, dass er sich nicht allzu weit vom Erfahrungsschatz der KonsumentInnen entfernt, beschäftigt auch Thomas Ingenlath. Aufgrund seiner Erfahrungen als Automobildesigner weiß er, dass dem Design in der komplexen Konstellation aus Erfahrung und Innovation eine entscheidende Rolle zukommt: »Ich habe neulich die Funktion von Design auch damit beschrieben, dass es den Kunden das bislang Unbekannte vermitteln muss. Diese Brücke zwischen dem Produkt und der Kundin oder dem Kunden ist unheimlich wichtig. Wenn sich sehr viel in unserer Welt verändert, ist es essentiell, dass es die Möglichkeit gibt, diese Veränderungen auf verständliche Weise zu übersetzen.«

Darüber, wie dieser Spagat am besten gelingt, zerbricht sich natürlich nicht nur die Automobilindustrie den Kopf. Auch bei Bang & Olufsen, dem renommierten dänischen Hersteller für Unterhaltungselektronik und Lautsprecher, ist man stets bemüht, trotz riesigen Innovationspotenzials auch das Nutzungserlebnis klar im Blick zu behalten. Erfahrung tritt hier auch in einem etwas anderem Kontext auf – nämlich als User Experience, die für Snorre Kjesbu, Head of Design, Creation and Fulfilment bei Bang & Olufsen, im Mittelpunkt der Produktion von hochwertigen Lifestyleprodukten stehen muss: »Jedes Produkt, das unsere Produktionsstätten verlässt, wurde entwickelt, um durch die einzigartige Kombination von Klang, Handwerk und Design magische Erlebnisse zu schaffen.« Erst wenn sich beim Hören die feinen Härchen an den Armen aufstellen, ist Kjesbu zufrieden. »Wir innovieren, um die Klangleistung zu verbessern und wir innovieren für den allumfassenden Genuss unseres möglichst akkuraten Klangs.« Zu diesem Genuss gehört auch das Produktdesign. »Eines unserer Kernprinzipien ist, dass es keinen Konflikt zwischen der außergewöhnlichen Klangleistung und schönem Design gibt. Wir starten Innovationen, um beides zu erreichen. Wenn wir beginnen an einem neuen Produktkonzept zu arbeiten, wird der Designprozess gleichzeitig mit allen akustischen Entwicklungsprozessen gestartet. Wenn wir etwas weiter im Entwicklungsprozess sind, führen wir dann beides zusammen«, fügt er hinzu.

 

© Bang & Olufsen

INNOVATION ALS KERNGESCHÄFT

»Im automobilen Umfeld findet man sich natürlich sehr schnell in der Ecke der technologischen Innovation wieder. Der Innovationsbegriff von Polestar ist jedoch weiter gefasst, weil es uns von Anfang an auch darum ging, wie wir unseren Betrieb und auch unseren Vertrieb aufbauen möchten. Das elektrische Auto ist eigentlich nur die Ausgangsbasis«, sagt Ingenlath über seine Marke. Wie es sich anfühlt neue Wege zu gehen, während jeder einzelne Schritt kritisch und mitunter sogar zweifelnd beobachtet wird, weiß er nicht erst seit er bei Polestar Geschäftsführer ist. »Als ich vor acht Jahren zu Volvo gekommen bin, hing dort gerade sehr viel in der Luft. Der Weg, den wir damals eingeschlagen haben, hätte in verschiedene Richtungen gehen können. Die positive Wendung, die das Ganze genommen hat, war zum damaligen Zeitpunkt noch nicht abschätzbar.« Innovation gehört also nicht erst seit gestern zum Kerngeschäft des gebürtigen Krefelders. Und auch der Umgang mit Zweiflern und Zweiflerinnen ist ihm nicht fremd. »Es ist ein ureigenes Phänomen in Europa, dass man dem Neuen, dem unternehmerischen Esprit und der Möglichkeit Chancen zu ergreifen per se zweifelnd gegenübersteht«, sagt Ingenlath. »In den USA und in China hat man damit sehr viel weniger Schwierigkeiten.« Vor einer möglichen Innovationsfalle hat er trotz des umfassenden Innovationskonzepts bei Polestar ebenso wenig Angst wie vor dem Zuschnappen der Erfahrungsfalle. Zu ausbalanciert ist Thomas Ingenlaths Angaben zufolge das Verhältnis von Altem und Neuem. Unterschätzen sollte man die Folgen ungezügelten Innovationsdrangs trotzdem nicht.

Wie real die Gefahr der Innovationsfalle tatsächlich sein kann, wurde einst sogar dem erfolgsverwöhnten Apple-Konzern schmerzlich bewusst. Der 1993 als persönlicher digitaler Assistent vorgestellte Apple Newton, der nach eigenen Aussagen des Konzerns das digitale Zeitalter definieren sollte, floppte. Die »Revolution für die Jackentasche«, wie der Newton vom damaligen Apple-Boss John Sculley bezeichnet wurde, fand viel zu wenig Absatz und riss ein tiefes Loch ins Budget des Softwareentwicklers. Im Februar 1998 ließ Steve Jobs die Produktion des Newton schließlich einstellen. Die Vision war schlichtweg nicht aufgegangen. Betrachtet man nun die Erfolgsgeschichte des iPhones, als dessen Vorläufer der Newton durchaus betrachtet werden kann, handelt es sich bei der Entwicklung des ersten persönlichen digitalen Assistenten zwar nicht um eine totale Themenverfehlung, jedoch um ein klassisches Beispiel für eine gute Idee, die zu einer Zeit umgesetzt wurde, in der der Markt einfach noch nicht bereit dafür war. Der Innovationsgeist, der dem Newton innewohnte, war für die Menschen einfach nicht zu fassen gewesen.

 

 

Das von Susanne Hahn geführte Lab1886, ist in der Daimler AG so etwas wie die Brutstätte für innovative Mobilitätslösungen und neue Geschäftsmodelle. Der Innovationsprozess folgt dabei einem Plan, der in drei aufeinander folgende Phasen gegliedert ist: Ideation – Inkubation – Kommerzialisierung. © Daimler AG

 

DER THINK-TANK BEKOMMT EIN ZUHAUSE

Auch in den Epizentren der Innovation, den sogenannten »Innovation Labs«, ist die Erfahrung ein gern gesehener Gast. Solange sie sich an die Hausordnung hält. Das bedeutet: Sie darf der Innovation nicht im Weg stehen. »Aus meiner Sicht kommt die Erfahrung dann zum Tragen, wenn es um den Innovationsprozess geht. Wir lernen dadurch sehr viel schneller und flexibler mit veränderten Bedingungen umgehen zu können. Das gilt für die Kommerzialisierungsphase genauso wie für veränderte Kundenbedürfnisse oder bei neuen Technologien. Hier ist Erfahrung ein essentielles USP«, sagt Susanne Hahn, Leiterin des Lab1886, das bereits 2007, damals noch unter dem Namen »Daimler Business Innovation«, vom Automobilhersteller Daimler installiert wurde. Als wohl bekanntestes Projekt ging car2go daraus hervor. Innovation bedeutet für Susanne Hahn, sich auch als Lab immer wieder neu zu erfinden. »Generell fragen mich die Menschen immer nur danach, wie Innovation funktioniert. Ich finde, dass es wichtig ist, sich als Organisation immer wieder zu hinterfragen. Das ist eine Grundvoraussetzung, um im Innovationsbereich wettbewerbsfähig zu bleiben. Immerhin konkurrieren wir mit hochagilen Startups am Markt. Und auch hier ist Erfahrung der Schlüssel.«

Wenn das Team rund um Susanne Hahn damit beginnt, an einer Innovation zu arbeiten, ist der Ausgangspunkt meist eine spezifische Problemstellung. »Wir starten bei einer Herausforderung und leiten daraus Ideen ab. Diese können von überall herkommen. Aus der eigenen Organisation, aus den Fachbereichen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch von Ideengebern außerhalb des Konzerns. Danach validieren wir diese Ideen. Nach einer positiven Analyse starten wir die Phase der Inkubation. Hier entwickeln wir das Produkt sowie das Geschäftsmodell. Am Ende des Prozesses steht die Kommerzialisierung. Hier liegt der Fokus darauf, das Produkt zu vermarkten.« Das Projektportfolio des Lab1886 reicht von der strategischen Partnerschaft mit dem Urban-Air-Taxi Startup Volocopter, über automatisierte LKW, Car to Car Connectivity, In-Car-Delivery Services, dem Einsatz der Brennstoffzellentechnologie in Non-Automotive-Bereichen, dem Digital Vehicle Scan bis hin zum digitalen Mitfahrservice flinc und dem Remanufacturing, der Wiederaufbereitung von gebrauchten Fahrzeugteilen. Marillenknödel mit ohne Marillen wurden leider noch nicht ins Portfolio aufgenommen. Möglicherweise haben einige MitarbeiterInnen der Innovationsschmiede nicht die allerbesten Erfahrungen mit dem Thema gemacht.

 

Susanne Hahn, Leiterin des Lab1886, © Daimler AG