Text Sarah WETZLMAYR
»Ich mag Dinge, die sich verändern«, sagte die italienische Designerin, Architektin, Bühnenbildnerin und Autorin Gaetana »Gae« Aulenti einmal in einem Interview. Diese Form der Beweglichkeit beanspruchte sie für sich selbst und ihre Arbeit— Zeit ihres Lebens wehrte sie sich gegen Einordnung und antwortete auf das scheinbare Fehlen einer Handschrift mit den Worten: »Stil bedeutet die Wiederholung einer immer gleichen Idee.« Ein Rückblick auf das Lebenswerk der 2012 verstorbenen Designerin.
»Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab«, heißt es in Shakespeares Komödie »Wie es euch gefällt«. Die seither omnipräsente Metapher der Weltbühne entlarvt jedoch nicht nur den Menschen als Inhabereiner Vielzahl an Rollen, sondern wirft auch die Frage danach auf, wie diese bühnenhafte Welt gebaut ist. Kurz: Wenn die Welt eine Bühne ist, bewegen wir uns dann durch diese wie durch ein riesengroßes Bühnenbild?
Das von Gae Aulenti gestaltete Bühnenbild für Ronconis Inszenierung der Rossini-Oper »Il viaggio a Reims« in der Wiener Staatsoper, 1988.
Sieht man sich die Arbeiten und die zugrundeliegende Herangehensweise der 2012 verstorbenen italienischen Designerin und Architektin Gae Aulenti an, fühlt man sich durchaus in diesem Vergleich bestätigt. Nicht nur, weil zu Aulentis umfangreichem Rollenrepertoire auch jene der Bühnenbildnerin gehörte — sie arbeitete vor allem mit dem Regisseur Luca Ronconi —, sondern auch deshalb, weil sie Mensch und Gebäude stets als zwei miteinander agierende Teile desselben Spiels verstand. Der Raum, als Mitspieler oder Anspielpartner, sollte, so Aulenti, »immer so beschaffen sein, dass er unterschiedliche Verhaltensweisen zulässt und nicht einengt.«1 Ihm wohnen also — trotz seines an sich statischen Wesens — eine Beweglichkeit und eine gestalterische Kraft inne, die auch den Kern vieler Bühnenbilder ausmachen.
Tisch Tavolo con Ruote, FontanaArte, 1980
Gare d’Orsay vor dem Umbau zum Museum
SENSIBILITÄT FÜR VORGEFUNDENES
Gae Aulenti, die als Architektin und Designerin Tische zum Rollen brachte (Tavolo con Ruote) und Bahnhöfe in Museen (Gare d‘Orsay) verwandelte, war in ihrer Arbeit stets an Beweglichkeit interessiert. So sagte sie einmal: »Es stimmt, ich bin vielleicht einfach gegen alles, was irgendwie statisch erscheint. Ich mag Dinge, die sich verändern.« Der Drang danach stets beweglich zu bleiben, spiegelte sich auch darin wider, dass sich Aulenti stilistisch nie einordnen lassen wollte. Fragen über das Fehlen einer einheitlichen Stilrichtung beantwortete die 1927 in Palazzolo dello Stella geborene Künstlerin in einem Gespräch mit der Designplattform BauNetz wie folgt: »Ich kann nicht überall mit ein und derselben Handschrift arbeiten. Denn es ist der Ort, der die Art und Weise vorgibt, wie etwas zu gestalten ist. Stil bedeutet Wiederholung einer immer gleichen Idee und von immer gleichen Details. Das hat mich nie interessiert.« Sie sei vielmehr der Überzeugung, dass man bei jedem Projekt immer wieder von vorne anfangen müsse.
Hauptgalerie des Musée d’Orsay, Paris
Hauptraum des Palazzo Grassi, Venedig
So war es vermutlich auch bei jenen Arbeiten, die Gae Aulenti zu internationaler Bekanntheit verhalfen. Dazu gehört unter anderem der Umbau des Pariser Gare d’Orsay in ein Museum. Ganze sieben Jahre dauerte es, bis das Museum am 1. Dezember 1986 endlich eröffnet werden konnte. Aulenti war es ein großes Anliegen, die alte Bausubstanz weitestgehend zu erhalten. Durch eine Reihe subtiler, manchmal sogar nur minimaler Eingriffe verwandelte sie den Bahnhof des 20. Jahrhunderts schließlich in ein Museum des 21. Jahrhunderts. Um eine möglichst enge Vernetzung zwischen der Architektur und der Logik der Ausstellung zu erzeugen, arbeitete sie eng mit den französischen Konservator:innen zusammen. »Mein Entwurf war selbst wie eine große Maschine, die wir in den Bahnhof hineingefahren haben«, brachte sie es einmal in einem Interview auf den Punkt. Auf gestalterischer Ebene war es ihr wichtig, die Räume so miteinander zu verbinden, dass ihre Größe bei den Besucher:innen keinesfalls ein Gefühl der Angst oder der Überforderung erzeugt. Man müsse, so Aulenti, immer die Möglichkeiten entdecken, die sich in alten Gebäuden verbergen, das Vorhandene nicht imitieren oder kopieren, sondern eine eigene Interpretation versuchen. »Man muss gegen den Raum arbeiten und ihn dennoch respektieren.«
Im Jahr 1980 war die italienische Designerin und Architektin außerdem die erste Frau, die ein Projekt dieser Größenordnung in einem Wettbewerb gewinnen konnte. In einem Interview merkte sie einmal an, dass ihr der Umbau des Gare d‘Orsay in dieser Hinsicht mehr Stärke gegeben hätte. »Denn die Menschen glaubten damals noch nicht, dass eine Frau ein großes Projekt auch allein entwerfen kann.« Als Frau in einer männerdominierten Branche tätig zu sein, machte es Gae Aulenti bis zu ihrem Durchbruch Anfang der Achtzigerjahre auch nicht gerade einfach, ihren eigenen Ambitionen gerecht zu werden. »Es hat viele Jahre gedauert, bis ich in der Lage war große Projekte umzusetzen, aber ich habe stillschweigend mitgemacht, ohne zu protestieren und ohne mir zu erlauben, dass diese Tatsache mein Bewusstsein zu sehr durchdringt. Aulenti war außerdem nur eine von insgesamt zwei Frauen, die 1954 ihr Architekturstudium am Politecnico di Milano abschloss.
Für Aufsehen sorgten auch Gae Aulentis Neugestaltung des Museums für moderne Kunst im Centre Georges Pompidou wie auch der Umbau des Palazzo Grassi in Venedig für Museumszwecke. Die meisten ihrer architektonischen Projekte verbindet eine behutsame Anpassung an das gebaute Umfeld, jedoch ohne sich dabei zeitgemäßer Einflüsse verschließen zu wollen. Gemeinhin wird Aulenti dem Neoliberty zugeordnet — einer architektonischen Strömung, die auf der in Italien ohnehin nur sehr schwach ausgeprägten Tradition des Jugendstils — Stile Liberty — basierte und die sich durch eine stärkere historische Ausrichtung von der Moderne der Zwischenkriegszeit abzugrenzen versuchte. Aulenti selbst sprach in Zusammenhang mit ihren Arbeiten jedoch weitaus weniger gerne über stilistische Merkmale als über die unbedingte Einbettung ihrer Gebäude in städtebauliche Kontexte. Ihre Entwürfe zeichnete, wie der ehemalige italienische Präsident Giorgio Napolitano bemerkte, eine große Sensibilität für das Vorgefundene aus.
Stuhl April, Zanotta, 1964
IKONISCHE OBJEKTE
Schon in den 1960er Jahren gelang es Gae Aulenti als Möbeldesignerin und Designerin von Industrieprodukten Fuß zu fassen. 1962 wurden ihre ersten kommerziellen Möbelprojekte vom Hersteller Poltronova herausgebracht: Der Schaukelstuhl Sgarsul, der von Thonets Freischwingersessel Nr.1 inspiriert ist, und die Stuhl- und Sofareihe Stringa. Der ikonische Sessel Locus Solus von 1964 ist Teil einer von Poltronova herausgegebenen Sammlung von Gartenmöbeln. Ihr Interesse für Industriedesign ließ sie schon bald mit den wichtigsten Unternehmen der Branche zusammenarbeiten — so entstand 1964 der Klappstuhl April für Zanotta, im Jahr darauf der Marmortisch Jumbo für Knoll und 1974 der Stuhl 4794 aus Polyurethan für Kartell.
Serie Locus Solus, Poltronova, 1964
Zu ihren ikonischsten Entwürfen gehört außerdem die Leuchte Pipistrello, die bis heute hergestellt wird und die wohl eine der am meisten von der Strömung des Neoliberty geprägten Arbeiten Aulentis ist. Wie ihre Designerin selbst möchte sich aber auch die Lampe nicht so wirklich einordnen lassen. Weil die Pipistrello ursprünglich für den Showroom von Olivetti in Paris bestimmt war, musste sie sich umso stärker von den Schreibmaschinen und Computern, die den Raum in erster Linie bevölkerten, abheben.
Lampe Pipistrello — ursprünglich für den Showroom von Olivetti in Paris bestimmt.
Als Innenarchitektin machte Aulenti sich mit der Gestaltung der Schauräume für ebenjenen Schreibmaschinenhersteller Olivetti in Paris (1966/67) und Buenos Aires (1968) einen Namen. Das italienische Autohaus Fiat beauftragte sie mit der Gestaltung der Showrooms in Brüssel und Zürich (1969/70).
DIE LEICHTIGKEIT DES SEINS
»Bühnenbild, Design und Architektur kamen bei mir stets zusammen«, sagte Gae Aulenti zwei Jahre vor ihrem Tod in einem Interview. Wie sehr das tatsächlich zutrifft, lässt sich unter anderem an Aulentis Stuhl Rossini aus Holz und Metall ablesen. 1984 für ihr Bühnenbild für Ronconis Inszenierung der Rossini-Oper »Reise nach Reims« entworfen, wurde die Produktion des Stuhls später von Maxalto/B&B Italia übernommen. Doch es sind nicht nur diese klar nachweisbaren Verbindungen zwischen Bühnenuniversum und Realität, die diese beiden Welten im Falle Aulentis so nah aneinander rücken, sodass man tatsächlich von einer Weltbühne sprechen kann. So kann man zusammenfassend vielleicht sagen, dass es Gae Aulenti in beiden Bereichen um eine gewisse Leichtigkeit ging — um Räume, die trotz ihrer Größe den Nutzer:innen keine Angst machen und um Bühnenbilder, die die Spieler:innen dazu bringen abzuheben. Sogar buchstäblich, denn für den »Barbiere von Sevilla« ließ sie die Sänger:innen in die Luft heben. »Die Personen fliegen, ja sie fliegen«, brachte es Ronconi auf den Punkt.
Also alles nur ein Spiel? So kann man das wohl auch nicht sagen. Aber so vielleicht: Wie bei einer Theater- oder Opernproduktion bündelt Gae Aulenti in ihrem Gesamtwerk unterschiedliche Disziplinen zu einer harmonisch künstlerischen Inszenierung.
ARTIKEL ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №VIII »ELEMENTS« – SOMMER 2023