Es ist ein global beobachtbares und historisch gewachsenes Phänomen: Wer das Zentrum einer Stadt aufsucht, egal ob zu Fuß, mit dem Fahrrad, den öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto, tut das im Regelfall, um sich am Ende des Tages mit gut gefüllten Einkaufstaschen wieder auf den Heimweg zu machen. Das war nicht immer so und das wird, so das Urteil zahlreicher Experten und Expertinnen, auch nicht für immer so bleiben. Kurz zusammengefasst: Die Bedeutung der Innenstädte verändert sich. Und zwar auf mehreren Ebenen.
Im Grunde ist es aber gar nicht notwendig, sich auf komplexe Abhandlungen in Fachzeitschriften zu stützen, denn es reicht, sich in der eigenen Stadt umzusehen. Dabei wird schnell augenscheinlich: Die Blütezeit des stationären Handels – selbst in den sogenannten Einkaufsstraßen – scheint erstmal vorbei zu sein. Diese Entwicklung ist nicht neu und sollte keinesfalls nur als Symptom der Corona-Pandemie gesehen werden, erklären Experten und Expertinnen wie Thomas Krüger, der sich als Stadtforscher schon lange mit diesen Veränderungen beschäftigt. »Die Innenstadt ist monofunktional geworden. Es ist eine Einkaufslage und sonst nichts. Es gibt wenig interessante Kulturangebote. Es gibt eigentlich auch keine Treffpunkte mehr, die nicht kommerziell sind. Es gibt auch nicht viel zu erleben, weil: Es ist ja eigentlich alles Shopping. Viele inhabergeführte Geschäfte finden nicht mehr statt. Und wenn ich eine neue Geschäftsidee habe, realisiere ich die garantiert nicht in der Innenstadt, weil das viel zu teuer ist«, so Krüger in einem Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Bedeutung des Erlebnisfaktors
Der Stadtforscher fordert deshalb eine komplette Neuausrichtung der Innenstädte: »Wir brauchen die neuen Geschäftsideen, wo Waren, Dienstleistungen, Handwerk, vielleicht auch kulturelle Elemente und Gastronomie miteinander neue Kombinationen suchen. Das würde die Innenstadt wirklich interessanter machen. Die Innenstadt muss wieder etwas Besonderes werden, so wie sie historisch ja entstanden ist. Das war der Ort, wo es Dinge gibt, die es sonst nirgendwo gibt.« Letzteres hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch durch den Onlinehandel stark relativiert. Schließlich ist es mittlerweile so, dass die Dinge, »die es sonst nirgendwo gibt«, verlässlich in einem der global agierenden Onlineshops zu finden sind. Die Motivation dafür den Weg ins Stadtzentrum auf sich zu nehmen, ist also drastisch gesunken.
Die Bedeutung dieses »Erlebnisfaktors« unterstreicht auch Architektin und Stadtplanerin Julia Erdmann. Für sie ist die »Austauschbarkeit« der Stadtzentren, die viele Städte kennzeichnet, ein wichtiger Aspekt. Um Veränderungen zu erwirken, die auf das Ziel der Erhöhung des Erlebnisfaktors einzahlen, können auch Zwischennutzungen eine wichtige Rolle spielen. Urbane Brachen, wie man sie immer öfter sieht, werden auf diese Weise zu Plätzen, an denen Vielfalt und Lebendigkeit möglich werden. Wie der Architekt Friedrich von Borries in einem Artikel des Wirtschaftsmagazins brand eins erklärt, können sogenannte Zwischennutzungen nämlich sehr viel mehr als nur Lückenfüller sein: »Die Geschichte der Zwischennutzung zeigt, dass dort kulturelle Räume entstehen können, vielleicht am Anfang auch in rechtlichen Grauzonen.« Er bezieht sich dabei unter anderem auf das Berlin der Nachwendejahre und findet es besser, solche Aneignungsprozesse zuzulassen, als ihre Nutzung mit öffentlich geförderten Projekten zu kontrollieren. Er ist außerdem der Meinung, dass man etwas nicht retten muss, nur weil etwas schon lange da war. Nicht die Innenstadt selbst steckt in der Krise, sondern ein bestimmtes Modell davon. Panik zu schieben, ist seiner Meinung nach also der falsche Weg. Aber auch die ruhige Kugel sollte es nicht unbedingt sein, denn die städtebaulichen Voraussetzungen, von denen solche Transformationsprozesse unter anderem abhängig sind, lassen sich nicht einfach von heute auf morgen aus dem Boden der verwaisten Fußgängerzone stampfen.
Rückkehr des Handwerks
Eine neue Lebendigkeit könnten auch Handwerksbetriebe in die Stadtzentren bringen. Für das Handwerk wäre es – nach jahrzehntelanger Abwesenheit – eine Rückkehr in die Innenstädte. Bis auf Betriebe mit besonders geringem Platzbedarf, wie Juweliere und Optiker sind sie heute kaum noch Teil zentral gelegener Stadtviertel. Doch das könnte sich ändern, wenn sich die Hinwendung zu regionaler Produktion weiter verstärkt. Das würde die Innenstädte von gesichtslosen Orten der Massenabfertigung auch wieder zu Plätzen der Begegnung machen. Dass solche Sätze von einer Hintergrundmusik begleitet werden, die stark nach Utopie klingt, ist angesichts der Tatsache, dass konkrete Projekte immer noch eher rar sind, nicht weiter verwunderlich. Einige Beispiele wie Umnutzungen von Kaufhäusern (zu Alten- und Pflegeeinrichtungen zum Beispiel), Zwischennutzungen und der verstärkte Einzug von sogenannten »Reparatur-Cafés« – und anderen kombinierten Angeboten – in die Innenstädte zeigen aber zumindest eine Tendenz in diese Richtung. Entscheidend ist aber auch, dass die Wiederbelebung der Innenstädte das Wohnen miteinschließt und dadurch der Alltag wieder stärker in die Stadtzentren zurückkehrt. Damit ließe sich auch verhindern, dass zentral gelegene Stadtteile in den Abendstunden komplett verwaisen.
Prototypen und Pilotprojekte
Wo ehemalige Industrieflächen neu bespielt werden sollen, kann gut beobachtet werden, wie Wohnen, Bildung und Erholung ineinandergreifen müssen, um den Erwartungen der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen gerecht zu werden. Und welche Rolle nachhaltige Mobilitätsangebote dabei spielen. So zum Beispiel bei einem Projekt der Bjarke Ingels Group in Japan, das in Kooperation mit dem Automobilhersteller Toyota entstehen soll. Auf dem früheren Gebiet einer Automobilfabrik möchte man mit der »Woven City« eine Art Prototyp für andere Städte errichten, in der Radfahrer, Fußgänger und Autos gleichberechtigt sind. Außerdem sollen sich Wohnen, Arbeiten und Zusammensein nicht voneinander getrennt, sondern unmittelbar nebeneinander abspielen. Wie bei anderen zukunftsweisenden Projekten dieser Art sind Robotik und Smart Home-Technologien integraler Bestandteil des Vorhabens. Ein anderes visionäres Smart City-Projekt, das soziale Interaktion hervorhebt, ist die Errichtung des Punggol Digital District im Nordosten Singapurs. Mit dem Projekt möchte man nicht nur das Wirtschaftswachstum in Singapur unterstützen, sondern gleichzeitig Arbeitsplätze und soziale Einrichtungen näher an die Bewohner und Bewohnerinnen bringen. »Der Erfolg dieses Projekts wird daran gemessen, wie lebendig all diese Gemeinschaftsflächen sein werden«, heißt es von Seiten des ausführenden Architekturbüros WOHA. [SW]