Formvollendung war gestern

Interior autonom fahrender Autos

BMW iNext - ab 2021 auf dem Mark © BMW Group

Text Andres DAMM

»Formvollendung« — ging es darum, Luxusautomobile anzupreisen, wurden bisher wenige andere Wörter von Werbern im größeren Maße überstrapaziert. Doch künftig scheint mobiler Luxus zumindest im Interieur genau durch dieses Attribut nicht mehr definierbar zu sein. Denn durch autonomes Fahren verändern sich die Bedürfnisse und Ansprüche von Kunden. Ein Blick auf die Designstudien verschiedenster Hersteller verrät, Innenräume wandeln sich in autonom fahrenden Autos nicht nur hin zu komfortablen Lounges, ganz neue, flexibel variierbare Gestaltungselemente ersetzen dort auch feste Strukturen und ermöglichen zusammen mit raffinierten Lichtsystemen und Raumkonzept gestaltenden Displays ein Maximum an Flexibilität im Design.

 

Vorne, hinten, Fahrer, Beifahrer — Sitzplätze und die Innenraumstruktur von Autos sind seit jeher so standardisiert und klar in sich gegliedert wie nur wenige andere Räume, in denen wir uns aufhalten. Die elektrisch verstellbare Rückenlehne im Fond der Luxuslimousine war bisher schon eine seltene Extravaganz, ebenso die sich gegenüberliegend angeordneten Sitzbänke im Familien-Van. Doch genau diese klaren Strukturen von Fahrzeugkabinen werden sich — laut Innovationsforschern — in naher Zukunft auflösen. 

 

Selbstbewusst nennt man bei BMW den Innenraum des iNext »My favorite Space«. Dabei wurde für die Bedienung komplett auf traditionelle Schalter und Knöpfe verzichtet — gesteuert wird über Sprachbefehle oder berührungsempfindliche Oberflächen. Die auf den ersten Blick unsichtbare Technik wurde unter dem Namen »Shy Tech« präsentiert. © BMW Group

 

Die Testphase des autonomen Fahrens geht in die Endrunde, und das nächste Kapitel mobilen Lebens kann eingeläutet werden. Die Zeit, die im komplett autonom fahrenden Auto verbracht wird, soll künftig idealerweise gänzlich anders genutzt werden, als wir es heute gewohnt sind. Arbeiten, entspannen, schlafen — glaubt man den Entwicklern der großen Marken — ähnelt das Erlebnis Autofahren in der Zukunft mehr und mehr einem First-Class-Flug.

 

Es klingt ziemlich verlockend: Fünf Stunden ausgestreckt liegen statt in der gleichen Zeit in Stadt A zum Flughafen zu fahren, am Gate zu warten, kurz zu fliegen, übermüdet in Stadt B am Kofferband zu warten um dann endlich vom Ankunftsflughafen zum eigentlichen Ziel zu fahren … Der Innenraum der Studie 360c erinnert wohl ganz bewusst auffällig an eine First-Class-Suite im Flugzeug, Volvo will mit dem autonomen Fahrzeug auf kürzeren Strecken bis zu 400 Kilometern in Konkurrenz zu Fluggesellschaften treten. © Volvo Car Group

 

Volvo 360c Exterior © Volvo Car Group

 

ÜBERFLIEGER 

Von allen bisher vorgestellten, autonom fahrenden Autos tritt wohl Volvos Konzeptfahrzeug 360C am konsequentesten in Konkurrenz zum Flugzeug. Selbstbewusst verkündete man bei der Präsentation des Wagens, als Alternative zum Kurzstreckenflug ein ganz neues Marktsegment erobern zu wollen. Sollte im 360C wirklich die gezeigte Ausstattung verbaut werden, wäre es in der Tat verlockend in ihm, statt im ordinären Linienflieger Strecken zwischen 500 und 1 000 Kilometer zurückzulegen. Das Auto wartet neben integriertem Champagnerkühler, ausgeklügeltem Beleuchtungskonzept und einem ausklappbaren, voll digitalen Konferenztisch auch mit einem Sitz auf, der in ein komplett flaches Bett verwandelt werden kann. Komfort den man zwar unter Umständen aus der First Class von Langstreckenfliegern kennt, über den Wolken zwischen München und Hamburg oder zwischen Frankfurt und Paris allerdings so wohl kaum begegnet. Zeittechnisch kann man laut Volvo auf genannten Strecken problemlos mit dem Flugzeug konkurrieren, schließlich entfallen An- und Abreise zum Flughafen genauso, wie lästige Check-in Schlangen und Wartezeiten am Gate.

Durchschnittlich 50 Minuten, also eine knappe Stunde, verbringen Autofahrer heute pro Tag hinter dem Lenkrad. Zeit, die durch autonomes Fahren für diverse andere Aktivitäten gewonnen werden kann.

»Wenn Autos keine Lenkräder mehr haben, lässt sich Premiummobilität neu definieren. In Zukunft können Menschen auf dem Weg von A nach B entspannt im Internet surfen, mit ihren Kindern spielen — oder konzentriert arbeiten«, erklärt Melanie Goldmann, Leiterin der Kultur- und Trendforschung bei Audi, die wichtigste Aufgabenstellung im Entwicklungsprozess autonom fahrender Autos.

Das Forschungsprojekt, bei dem man zusammen mit dem Fraunhofer Institut herausfinden möchte, wie man Kunden einen persönlich optimierten Innenraum zur Zeitnutzung bieten kann, nennt man bei Audi passend zum durchschnittlichen Zeitgewinn die »25. Stunde«.

Die Ergebnisse der Studie, in  der man das Verhalten und die Reaktionen von 30 Millennials, also nach 1980 geborenen Personen, analysierte, waren eindeutig: Gedimmte Scheiben, das Unterdrücken von digitalen Nachrichten und spezielle Lichteinstellungen  konnten im Labortest nachweislich die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit von Probanden gegenüber einer realitätsnahen Fahrsituation mit diversen Störreizen steigern. Dabei legt Audi insbesondere beim Informationsfluss Wert darauf seinen (künftigen) Kunden eine ausgewogene Balance zwischen Quantität und Qualität zu bieten.

»In einer digitalen Zukunft sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt, wir könnten alles im Auto anbieten — eine wahre Flut an Informationen«, sagt Goldmann, »Wir wollen aber den Mensch in den Mittelpunkt stellen. Das Auto soll zu einer intelligenten Membran werden. Die richtigen Informationen sollen den Nutzer zur richtigen Zeit erreichen.«

 

360c Interior Party: Luxuriöser Feierabend, wie man ihn sich bei Volvo vorstellt. © Volvo Car Group

 

ÜBERSTUNDE 

Auf diesen Forschungsergebnissen basierend passen sich auch beim autonomen Konzeptfahrzeug Audi Aicon, einer Luxuslimousine mit reinem Elektroantrieb, Innenlichtfarbe und das Layout des Infotainment-Systems individuell an die jeweiligen Passagiere und deren Bedürfnisse an. Gläserne Dachflächen sperren auf Wunsch das Tageslicht aus, indem sie durch elektrische Spannung ihren Transparenzgrad verändern. Integrierte OLED-Leuchtelemente erlauben zusätzlich gezielte Lichtstimmungen oder – etwa beim Ein- und Aussteigen — eine gleichmäßige Ausleuchtung des Innenraums. Idealbedingung also fürs mobile Büro.

Zudem setzt man beim Aicon auf besonders viel Platz, der variationsreich genutzt werden kann. Der Radstand des Wagens ist stolze 24 Zentimeter länger als der des Audi A8 L und wäre in dieser Form somit die längste Luxuslimousine, die bisher serienmäßig in Ingolstadt vom Band rollen würde. Die Länge des Gefährts erscheint insbesondere dann beeindruckend, wenn man berücksichtigt, dass man bei Audi von einem 2+2 Sitzer spricht. Die beiden Vordersitze können um ganze 50 Zentimeter verschoben werden, je nach Positionierung ergibt sich dann auf einer gepolsterten, in die Rückwand integrierten Sitzbank noch eine zusätzliche Sitzmöglichkeit für zwei Mitfahrer. Verzichtet man auf diese Zusatzsitze und verschiebt die Vordersitze ganz nach hinten, können die Beine komplett ausgestreckt auf einem Ottoman ruhen. Damit nicht unendlich lange, schnöde Metallschienen die Optik stören, bewegt sich der Aicon-Sitz auf einer Plattform, die mit hochflorigem Teppich verkleidet wird. Durch die enorme Flexibilität der Sitze sind auch starr integrierte Bedienelemente im autonomen Audi obsolet, schließlich müssen diverse Funktionssteuerungen von verschiedensten Ecken des Autos aus möglich sein. Die Bedienungs-Interfaces sind deshalb variabel in der Türbrüstung platzierbar, Touch- und Anzeigescreens werden digital immer an der Stelle dargestellt, die aktuell am bequemsten mit den Fingern zu erreichen oder dem Auge zu sehen ist.

 

Durch seine schnittige Coupé-Silhouette erweckt der Audi Aicon von außen betrachtet trotz seiner enormen Maße einen sportlichen Eindruck.
© Audi

Im Inneren ist das großzügige Platzangebot dann in seiner ganzen Opulenz erlebbar, insbesondere dann, wenn die beiden Vordersitze komplett nach hinten gefahren werden und die Limousine vom Vier- zum Zweisitzer wird. Von außen verdeutlicht das durch LED dargestellte Logo, dass man bei Audi voll auf Hi-Tech setzt. © Audi

 

Auch bei der Wolfsburger Schwester Volkswagen setzt man auf den enormen Zeitgewinn durch autonomes Fahren:

»Der Weg zur Arbeit wird zur produktivsten Stunde, die Fahrt zur Erholung und die Suche nach einem Parkplatz entfällt. Menschen, die heute auf andere angewiesen sind, werden unabhängiger«, ist sich Volkswagen Designer Boris Grell sicher.

»Das eigene Erleben rückt in den Vordergrund. Mit intelligenten Systemen wird das Fahrzeug lernfähig und passt sich automatisch unseren Bedürfnissen an.« Dabei sollen diverse, neue Technologien, die dem zusätzlichen Komfort dienen, idealerweise auch in einen Sicherheitskontext gebracht werden.

ROTATIONSPRINZIP

Auch bei Mercedes-Benz setzt man in der Gestaltung der Innenräume autonom fahrender Autos auf ein Maximum an Bequemlichkeit und Individualität. »Das begehrteste Luxusgut im 21. Jahrhundert werden privater Raum und Zeit sein«, erklärt Dieter Zetsche, der Vorstandsvorsitzender der Daimler AG, den Wandel des Autos vom Fahrzeug hin zum privaten Rückzugsort. Dementsprechend erinnert der Mercedes Konzeptwagen F 015 als autonom fahrende Luxuslimousine der Zukunft auch stark an die Atmosphäre eines modernen Privatjets.

Vier um 180 Grad drehbare Lounge Chairs ermöglichen sowohl eine Vis-a-Vis-Konstellation der Sitze, um ideal miteinander kommunizieren zu können, wie auch eine klassische Anordnung aller Mitfahrer in zwei Reihen. Insgesamt sechs Displays, die in Rück- und Seitenwände integriert sind, kreieren auf Wunsch einen digitalen Erlebnisraum im F 015. Durch Eyetracking und Näherungssensoren taucht auf den überdimensionierten Bildschirmen immer an der passenden Stelle das jeweils benötigte Menüfeld auf. Eine der zentralen Ideen der Autostudie ist ein kontinuierlicher Informationsaustausch zwischen Fahrzeug, Passagieren und Außenwelt. Soll heißen, man kann auf einem digitalen Konferenztisch mit den Mitfahrern Spiele spielen, aber genauso auch auf den Seitenwand-Displays Partikelströme, die die Fahrbewegung widerspiegeln, beobachten, oder mit der ins Auto integrierten Kamera Fotos vom Umland schießen. Geforscht wird bei Mercedes zudem an neuen Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen Verkehrsteilnehmern. Über Laserreflektionen sollen beispielsweise Warnbotschaften auf die Straße projiziert werden. Ähnlich wie bei Audi würde auch der F 015, sollte er denn in den aktuell präsentierten Maßen gebaut werden, größentechnisch neue Firmenrekorde setzen und die Langversion der S Klasse sowohl längen- wie auch breitentechnisch blass aussehen lassen.

 

Passend zum Innenraum wirkt der Mercedes F 015 mit seiner Stromlinienform und dem stolzen 3,61 Meter langen Radstand auch von außen äußerst futuristisch. © Daimler

 

 

Mit dem Konzeptwagen F 015 Luxury in Motion will Mercedes-Benz beweisen, dass sich die Stuttgarter Expertise in Sachen Luxuslimousine auch exzellent bei autonom fahrenden Autos anwenden lässt. Durch die um 180 Grad drehbaren Vordersitze kann man sich im geräumigen Innenraum seinen Mitfahrern zuwenden und den Verkehr — inklusive diverser Hindernisse — dem Auto überlassen. Die überdimensionierten, in die Türen integrierten Touch- Displays sind mit Näherungssensoren und Eye-Tracking-Funktion ausgestattet, sodass die relevanten Informationen immer in guter Sichtweite angezeigt werden. © Daimler

 

SELBSTBESTIMMT

Eine sich stetig wandelnde Skulptur aus weißen Luftkissen gehört zu den tendenziell abstrakteren Werken, die das V&A Museum derzeit (und noch bis 4. November 2018) im Rahmen seiner Ausstellung »The future starts here« zeigt. Was die organisch anmutenden, miteinander verwobenen, weißen Luftkissen mit dem Interiordesign von Fahrzeugen zu tun haben sollen, ist nicht unbedingt auf Anhieb erkennbar. Doch genau hierfür wurde die Technik entwickelt und erforscht.

In Zusammenarbeit mit dem Self-Assembly Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte das BMW Designteam diese Technologie für aufblasbare Materialien. Das neuartige Materialkonstrukt wird im 3-D Druck aus Silikon erzeugt.

»Je nach Menge des Luftdrucks — lässt es sich in seiner Form verändern und kann damit in Form und Größe maßgefertigt werden. Diese anpassungsfähige Materialtechnologie sorgt für veränderbare Oberflächen für Komfort und Polsterung, individuell an die jeweiligen Bedürfnisse der Passagiere angepasst«, erläutert Martina Starke, Leiterin von BMW Brand Vision & Brand Design. Es können komplexe Schläuche, Kammern und Stränge aus den luft- und wasserundurchlässigen Ballons, die miteinander verwoben sind, gefertigt werden. Durch den detailliert geregelten Luftdruck in jeder einzelnen Kammer können so verschiedene Formen und Festigkeitsgrade im Gesamtkonstrukt erzeugt werden.

Der konkrete Einsatz der Technologie ist aktuell noch nicht festgelegt, doch wenn es soweit ist, könnten die Silikonpolster nicht nur als enorm flexibles Designelement im BMW der Zukunft zum Einsatz kommen, sondern auch ihren Beitrag zur erhöhten Sicherheit leisten. Beispielsweise wenn bei einem Aufprall aus dem Sitz schlagartig ein Kokon aus Luftpolstern wird, der einen Airbag überflüssig macht. Dabei stellt Martina Starke klar, dass bereits »in nicht allzu ferner Zukunft die Mehrheit der Fahrzeuge — zumindest in bestimmten Phasen — autonom fahren können wird«. Egal ob vollständig autonom fahrend oder nur phasenweise, »die Menschen haben beim Fahren plötzlich Zeit für andere Dinge, sie können sich umschauen, lesen oder digitale Angebote nutzen, einfach nur entspannen oder eben arbeiten — und das in einem individuellen Ambiente. Damit wird auch das Interieur immer wichtiger. Es dreht sich alles darum, sich in seiner Umgebung wohl zu fühlen.«

 

Das Konstrukt aus beliebig vielen Silikonkissen kann durch eine pneumatische Steuerung im System eigenständig seine Form verändern. Die einzelnen Kissen sind extrem dehnbar und in sich unabhängig gesteuert, sodass nicht nur das Gesamtgewebe wachsen oder schrumpfen kann, sondern durch wandelbare Proportionen zwischen den einzelnen Kissen auch diverse unterschiedliche Formen entstehen können. Die sogenannten »Liquid Printed Pneumatics« sind in einer interdisziplinären Zusammenarbeit von BMW und dem Self-Assembly Lab des Massachusetts Institute of Technology im 3D-Druck-Verfahren entstanden. © BMW Group

 

Wohnzimmer, Büro oder Schlafzimmer? Die flexible Innenraumgestaltung von autonom fahrenden Autos wird bereits in naher Zukunft ganz neue Möglichkeiten des Fahrens und des Gefahren-Werdens aufzeigen. Oliver Heilmer, Vice President Design bei MINI, geht davon aus, dass nicht nur das Auto selbst sich wandeln wird, sondern vielmehr die Grenzen zwischen Wohnraum und Automobil durchlässig werden.

»Die Herausforderung hierbei liegt in der richtigen Interpretation der Verschmelzung. Das Spannendste für uns Designer wird hierbei zu entdecken, welche Elemente aus dem Möbeldesign sich in welcher Form einbringen und verändern werden«, so Heilmer.

Und wann dürfen wir all diesen Komfort des autonomen Fahrens erleben?

Volkswagen-Designer Boris Grell erklärt, dass aktuell die Konzeptfahrzeuge der Infrastruktur noch weit voraus seien: »Mit einem intelligenten Verkehrsnetz und völlig vernetzten Fahrzeugen werden allerdings schon in naher Zukunft aus autonom agierenden Einzelfahrzeugen autonome Mobilitätssysteme, deren Fahrtstrecken gesamtheitlich synchronisiert und optimiert sind. Langfristig wird es keinen Stop-and-Go-Verkehr mehr geben, keine Unterbrechungen, keine Notbremsungen. Spätestens dann wird der Passagierraum zur mobilen Relaxzone.«

Klingt äußerst vielversprechend. Welche Entwicklungen den Sprung vom Designstudio in die Serienproduktion schaffen und welchen Preis all dieser Luxus bei den verschiedenen Marken haben wird, das darf dabei mit Spannung erwartet werden.