Mit allen Sinnen

Gourmetrestaurants als immersive Gesamtkunstwerke

Das 2023 eröffnete Restaurant Iris ist Teil der mitten im Hardangerfjord schwimmenden Kunstinstallation »Salmon Eye« entworfen vom dänischen Architekturbüro Kvorning Design; Bild © Sebastian Lamberg Torjusen

Text Andres Damm & Sarah Wetzlmayr

Gourmetrestaurants als ästhetische Gesamtkunstwerke, bei denen Architektur, Design und immersive Dinner-Erlebnisse eine zentrale Rolle spielen: Vom spektakulär gestalteten Iris im norwegischen Fjord über die einzigartige Inszenierung im Alchemist in Kopenhagen bis zum fast schon mystischen Ultraviolet in Shanghai — hier ist jeder Raum eine Bühne, jedes Gericht ein Kapitel einer vielschichtigen Erzählung. Diese Restaurants sind nicht nur kulinarische, sondern facettenreiche ästhetische Erlebnisse, die zeigen, welche Wirkung ein perfekt kuratiertes Zusammenspiel von Inszenierung, Raum, Materialität und Geschmack entfalten kann.

Die zunehmende Wertschätzung von Genuss in Form von lukullischen Erlebnissen hatte in den letzten zwei Jahrzehnten durchaus revolutionäre Züge — auch wenn manche Konzepte dabei nur eine recht geringe Halbwertszeit hatten, nicht wenige Food-Trends kamen, um zu bleiben. Und obwohl dem Begriff »Erlebnisgastronomie« zuweilen noch ein spießbürgerliches Image anhaftet — schnell denkt man an mäßiges Essen mit mäßiger Showeinlage — so haben einige mutige Gastronom:innen das Dinner-Erlebnis mit kreativ gestalteten multisensorischen Konzepten zu einer wahren Kunstform erhoben. Hier erleben Gäste parallel zum Essen eine Symphonie, die auf der Interaktion visueller Elemente, Klang, Textur und natürlich Aroma basiert. Von der architektonischen Gestaltung des Restaurants bis hin zu kleinsten Details.

 

© Tobias Lamberg Torjusen

 

Die  Kreationen von Chefköchin Anika Madsen sind kreativ und originell und basieren auf ihrer Leidenschaft für lokale Meereszutaten und ihrem Engagement für Nachhaltigkeit.

 

Zwei nordische Pionierbetriebe, Iris in Norwegen und Alchemist in Dänemark, gelten dabei ebenso als Vorreiter für derlei Erlebnisse, die weit über den Tellerrand hinausgehen, wie das an einem geheimen Ort in Shanghai gelegene Ultraviolet, wo Spitzengastronom Paul Pairet seine Gäste auf eine Reise durch Erinnerungen und Erwartungen entführt. In der Auseinandersetzung mit diesen drei einzigartigen Restaurants wird rasch klar — Kochen ist heute mancherorts Teil einer kunstvollen Symbiose. Genossen wird mit allen Sinnen.

EINS WERDEN MIT DER UMGEBUNG

Eingebettet in die dramatische Landschaft Norwegens setzt das Restaurant Iris mit seinem Ansatz des »Expedition Dinings« wahrlich neue Maßstäbe in der Spitzengastronomie. Bereits architektonisch kann Iris von sich behaupten, Spektakuläres zu bieten: Eine schwimmende Metallkonstruktion in dynamisch geschwungener Form, mitten im norwegischen Fjord und nur mit dem Boot erreichbar, beherbergt die Räumlichkeiten des Luxusrestaurants. Die beeindruckende Architektur und der Panoramablick auf die raue, norwegische Wildnis lassen schnell das Gefühl aufkommen, man speise am Ende der Welt, was so auch nicht ganz falsch ist, denn selbst vom nächstgelegenen Flughafen Bergen ist die weitere Anreise zum Restaurant noch ein halbtägiger Trip. »Ich wollte ein Erlebnis schaffen, das die Gäste vollständig in die Schönheit der norwegischen Natur eintauchen lässt. Essen ist ein Tor dazu. Indem sie lokale Zutaten probieren, die Meeresbrise spüren oder die Berge in der Ferne sehen, werden alle Sinne der Gäste angesprochen. Dieser multisensorische Ansatz ermöglicht es uns, Menschen nicht nur mit den Aromen, sondern auch mit den Geschichten hinter jedem Gericht zu verbinden, sodass ein Besuch unseres Restaurants mehr als nur eine Mahlzeit ist, sondern eine Erkundung von Ort, Zeit und Kultur«, schildert Restaurantleiterin und Chefköchin Anika Madsen im Gespräch mit Chapter ihr nicht unaufwendiges Konzept. Der Abend im Iris beginnt für jeden Gast mit einer Bootsfahrt zu einem Steg auf einer winzigen Insel, wo zu Musik, die speziell für den jeweiligen Abend zusammengestellt wurde, die ersten Getränke und Vorspeisen serviert werden, bevor die kulinarische Reise dann zum eigentlichen Restaurant weiterführt. Rund sechs Stunden sollte man einplanen, wenn man sich auf dieses außergewöhnliche Erlebnis einlassen möchte.

 

© John Asle E. Hansen

 

Spektakulär in jeglicher Hinsicht:  Das  Restaurant Iris, unter der Führung von Chefköchin Anika Madsen sowie Serviceleiter Nico Danielsen, wurde kürzlich mit dem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet.

 

Das Restaurant befindet sich mitten auf dem Wasser — in der Kunstinstallation Salmon Eye, das 2022 eröffnet wurde und unter anderem ein Ort der Auseinandersetzung mit Themen wie nachhaltiger Aquakultur ist. Das von Kvorning Design gestaltete, über 14 Meter hohe Bauwerk erinnert in seiner Form an das namensgebende Fischauge und scheint inmitten des von spektakulären Bergen umgebenen Fjords zu schweben. Die 9.275 Edelstahlschuppen, mit denen das Gebäude verkleidet ist, imitieren die glänzende, silbrige Haut eines Lachses. Die Speisekarte im Iris liest sich wie eine poetische Hommage an die raue Schönheit Norwegens. Wildkräuter, gesammelte Pilze und fangfrische Meeresfrüchte — das Hauptkriterium für Madsen, wenn es darum geht, welche Gerichte letztendlich serviert werden, ist dabei recht simpel. »Wenn es um Aromen geht, koche ich letztendlich für mich selbst, wenn es mir nicht gefällt, kommt es nicht auf die Speisekarte.« Darüber hinaus glaubt Anika Madsen fest an die Kombination aus gutem Handwerk, harter Arbeit und Neugierde. Wobei es ihr bei Letzterem nicht nur um einen neugierigen und offenen Umgang mit Lebensmitteln und neuen Geschmackserlebnissen geht. »Ich meine damit auch eine offene Haltung dem eigenen Umfeld, der Natur und den Menschen gegenüber.« Da ein Abend im Iris aber eben so viel mehr ist als nur das servierte Essen, betont Madsen auch die Bedeutung ihres Teams für das Gesamtkonzept: »Jeder und jede in unserem Team hat einzigartige Talente. Ein Mitarbeiter komponiert vielleicht Musik, während eine andere Mitarbeiterin über außergewöhnliche Fähigkeiten im Bereich Grafikdesign verfügt. Wir vertrauen gegenseitig der kreativen Vision der anderen und dieses Vertrauen ermöglicht es uns, Neues zu erschaffen und uns ständig weiterzuentwickeln.« Auf Leistungen von externen Beratungsunternehmen oder Kreativagenturen könne Anika Madsen also trotz des so weitreichend detailverliebten Konzepts somit weitestgehend verzichten, erklärt sie.

Kreativität ist jedoch nicht der einzige Faktor, auf den es in ihrem Job ankommt, ist die gebürtige Dänin und ehemalige Küchenchefin des Kopenhagener Sternerestaurants Fasangården überzeugt. »Ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl ist genauso wichtig.« Sie setzt nach: »Als Chefköche und Chefköchinnen beeinflussen wir nicht nur, was Menschen essen, sondern haben auch Einfluss darauf, wie sie über Lebensmittel, ihre Herstellung und die Umwelt nachdenken. Iris soll nicht nur ein Ort sein, der den Restaurantbesuch an sich auf ein neues Level hebt, sondern soll auch eine Vorreiterrolle in Sachen Verantwortungsbewusstsein einnehmen — nicht nur den Umgang mit Lebensmitteln betreffend, sondern auch dahingehend, wie wir Zusammenarbeit definieren. Vielleicht gelingt es uns, damit nachfolgende Generationen zu inspirieren.«

THEATRALISCHE POESIE DES SPEISENS

In Kopenhagen wird im Restaurant Alchemist unter der Ägide Rasmus Munks das Essen zum Medium des Geschichtenerzählens. Ziel des Kochs ist es, mit einem sensorischen Abenteuer seine Gäste zum Nachdenken zu bewegen. Im Alchemist ist jedes Gericht ein Kunstwerk, jeder Moment im Restaurant ist sorgfältig inszeniert, nichts wird hier dem Zufall überlassen. Dabei erläutert Munk, dass sein Ansatz, den er »Holistic Dining« nennt, eine Verschmelzung von Gastronomie, Kunst, Wissenschaft und sozialer Verantwortung sei: »Unser Ziel ist es, ein Erlebnis zu schaffen, das die Sinne anregt und Erinnerungen weckt.« Im Alchemist soll es also nicht nur um das Stillen hedonistischer Gelüste gehen, Munk will seine Plattform nutzen, um seine Meinung zu gesellschaftlich relevanten Themen und Fragestellungen zu äußern, und sieht dabei auch Provokation als adäquates Mittel. Ein Besuch im Alchemist soll anregen, über global relevante Themen wie Nachhaltigkeit, Lebensmittelverschwendung und Ethik nachzudenken. »Unsere Mission besteht insbesondere darin, Veränderungen voranzutreiben und Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, in der wir leben. Künstler können provozieren, Debatten anstoßen und das Bewusstsein schärfen. Natürlich steht der Geschmack eines jeden Gerichts immer im Mittelpunkt, aber unsere visuellen und verbalen Präsentationen können Sujets wie Kinderarbeit in der Schokoladenindustrie oder Hungersnöte im Globalen Süden thematisieren«, betont Rasmus Munk im Interview mit Chapter.

 

© Søren Gammelmark

 

In Kopenhagen wird im Restaurant Alchemist unter der Ägide Rasmus Munks das Essen zum Medium des Geschichtenerzählens.

 

Architektonisch ist Alchemist ein Universum für sich. Das 50-Gänge-Menü — nein, Sie haben sich nicht verlesen — wird im wahrsten Sinne des Wortes theatralisch, in mehreren Akten, präsentiert. Eine kuppelförmige Decke, die an ein Planetarium erinnert, taucht den Raum in surreales Licht, wechselnde Farben und diverse Projektionen werden auf jeden Gang abgestimmt. Alchemist wurde vom Londoner Innenarchitekturstudio Duncalf konzipiert und verteilt sich in labyrinthhafter Weise über drei Etagen, wobei jede davon mit einem etwas anderen Raumkonzept begeistert. Der Großteil der kulinarischen Reise findet direkt unter besagter Kuppel mit insgesamt 18 Metern Durchmesser statt. Rund 200 Tonnen Stahl wurden verbaut. Die Räumlichkeiten, in denen Alchemist beheimatet ist, dienten früher als Werkstätte für den Bau von Bühnenbildern. Die Theatralik ist dem Ort also gewissermaßen eingeschrieben. Wenn er ein Gericht entwickelt, stehen seine Geschichte und Bedeutung zunächst im Vordergrund. »Das ist stets der erste Schritt«, erläutert Munk und fügt hinzu: »Natürlich geht es dann aber auch um die geschmackliche Vollendung. Wenn der Geschmack nicht so ist, wie ich ihn mir vorstelle, werden wir das Gericht nicht servieren — selbst wenn die Idee perfekt ist und es außergewöhnlich schön aussieht. Auf der anderen Seite liebe ich es einfach, etwas zu entwickeln, das eine starke Message hat. Wenn die Aussage stark ist, werde ich mich also immer sehr ins Zeug legen, um das Gericht auch geschmacklich auf dieses Level zu bringen.«

 

© Jens Honoré

 

Rasmus  Munk sorgt mit seinem  Restaurant Alchemist für weltweites Aufsehen. Seine Gerichte sind geschmacklich wie optisch spektakulär und zudem mit starken Messages garniert.

 

Rendering of the future Spora, @ Spora

 

Mit einem multidisziplinären Team — Experten und Expertinnen aus den Bereichen Gastronomie, Wissenschaft, Design, Kunst, Technik
und Wirtschaft sind involviert — zeichnet Rasmus Munk auch für das visionäre Innovationszentrum Spora verantwortlich.

 

Dass Alchemist mehr als nur ein Restaurant ist, verdeutlicht auch die Zusammenstellung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Neben dem gastronomischen Team arbeiten für Munk drei Kunstschaffende, die die Spezialeffekte für die Kuppel des Restaurants entwerfen, sowie ein Komponist, ein Drehbuchautor und ein Industriedesigner, der das Geschirr und Besteck des Restaurants sowie diverse Einrichtungsgegenstände kreiert. Doch damit nicht genug: Rasmus Munk zeichnet nämlich auch für das Innovationszentrum Spora verantwortlich, das sich darauf spezialisiert hat, weitreichende Veränderungen in der Gastronomie und der Lebensmittelindustrie anzustoßen. Geleitet wird das Projekt von einem multidisziplinären Team — Experten und Expertinnen aus den Bereichen Gastronomie, Wissenschaft, Design, Kunst, Technik und Wirtschaft sind involviert. »Spora ist die natürliche Weiterentwicklung des Alchemist. Die Kreativität und die Innovationskraft, die unsere Arbeit im Restaurant prägen, spielen auch in unserer Forschungsarbeit eine zentrale Rolle und tragen dazu bei, neue, nachhaltige Ansätze zu entwickeln«, erläutert Munk.

GROSSES KINO FÜR ALLE SINNE

Ein geheimer Ort »Somewhere in Shanghai«, zehn Gäste und 20 Gänge — das sind die grundlegenden Hard Facts über Paul Pairets Spitzenrestaurant Ultraviolet. Auf dem Fundament dieser zunächst nüchternen Fakten entfaltet sich jedoch Herausragendes: eine immersive Dinner-Erlebniswelt, die alle Sinne anspricht. Im Zentrum eines fensterlosen Raumes steht ein einziger Tisch, rund um diesen befinden sich riesige HD-Screens. Doch nicht nur die visuelle Komponente spielt im Ultraviolet eine elementare Rolle, sondern auch der Geruch, die Musik und der Soundteppich, auf dem die Gäste durch den Abend gleiten. »Jeder Gang ist in eine Atmosphäre gehüllt, die durch die Projektion, durch den Sound und manchmal auch durch den Geruch definiert wird«, sagt Pairet im Gespräch mit CNN. Teilweise wird auch die Raumtemperatur der Atmosphäre angepasst. Bei jedem Gang eröffnet sich eine andere Welt — hat man sich gerade noch an einem Ort befunden, der mit leuchtenden Neon-Graffitis bedeckt war, ist man im nächsten Moment Teil eines unterirdischen Labyrinths.

 

© Scott Wright

 

Der im französischen Perpignan geborene  Starkoch Paul Pairet leitet aktuell vier Restaurants in Shanghai:
Mr & Mrs Bund, Polux, Charbon, und Ultraviolet.

 

Eröffnet wurde Paul Pairets innovatives Restaurantkonzept im Mai 2012, im Jahr 2018 erhielt Ultraviolet drei Sterne im Guide Michelin. Zum Zeitpunkt der Eröffnung geisterte das Konzept jedoch bereits 15 Jahre im Kopf des in Frankreich geborenen Spitzenkochs herum. Kulinarisch erwartet die Gäste ein extrem ausgefeiltes Spiel mit Texturen, Temperaturen und der Bruch mit vorgefassten Erwartungen. Natürlich auf höchstem Niveau. Wenn Pairet neue Gerichte entwickelt, gehe es ihm immer um eine Verbindung zu seinem eigenen Leben — seien es Reisen, die er unternommen habe, zu bestimmten Erinnerungen oder Episoden aus dem täglichen Leben. Pairets Ziel ist es dabei, die Menschen richtiggehend in die einzelnen Gänge »hineinzuziehen«, damit sie sich voll und ganz auf das Erlebnis einlassen und in das eintauchen können, was er unter »Psycho Taste« versteht: eine Erkundung und Infragestellung unserer Vorstellungen von Geschmack, die meist auf Erinnerung, Erfahrung und Kultur beruhen. »Wir hoffen immer, dass wir bei den Gästen einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben — dass unser Essen Erinnerungen geweckt und geschaffen hat. Ich glaube nicht, dass etwas schön sein kann, wenn es keine Spuren hinterlässt. Wir können das nicht kontrollieren, aber wir hoffen, dass in den Köpfen der Gäste diese bleibenden Eindrücke entstehen«, so Pairet. (Interview mit Four Magazine https://www.four-magazine.com/chefs/paul-pairet-association-of-taste/)

 

© Lucas Gurdjia

 

»Psycho taste« nennt Paul Pairet das Multivisions-Konzept rund um seine avantgardistischen Fine-Dining Kreationen.

 

Iris, Alchemist und Ultraviolet — diese Gourmetlokale sind nicht ohne Grund selbst weltbekannte Reisedestinationen, kulinarische Erlebnisse wurden hier zu multisensorischen Gesamtkunstwerken erhoben. In jedem dieser Luxusrestaurants ist ein herausragendes Gericht nicht bloß etwas, das man genießt, sondern etwas, das man lebt. Architektur und visuelle Gestaltung, Akustik, Gerüche und Texturen werden zu Hauptakteurinnen. Ein Dinner im Alchemist, Iris oder Ultraviolet mag nichts für jeden Tag sein, denn Eindrücke müssen schließlich auch verarbeitet werden, doch durch das Involvieren aller Sinne wird das Essen hier zum wahrlich unvergesslichen Erlebnis und dies ist durchaus eine Reise wert.

ARTIKEL ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XI »TASTEMAKERS« – WINTER 2024/25