Feuer und Flamme

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Fotografie Marsý Hild Thorsdottir

Wie einem Paralleluniversum entsprungen steht sie an der Startlinie und funkelt in der Glemsecker Septembersonne. Letzter Check-up von Kreativkopf Dani Weidmann und Pilotin Amelie Mooseder. Dann fällt die Flagge.

 

 

Die Spitfire ist der neueste Rundumschlag der visionären Bikebauer von VTR Customs, und fährt nicht nur 5,8 Sekunden auf die klassische Achtelmeile, sondern schlägt internationale Wellen mit ihrem außergewöhnlichen Design. In der Tradition der Streamliner, die sich auf den Bonneville Salt Flats gegenseitig die Rekorde aus der Hand fressen, vereint das aluminiumverkleidete Geschoss maximale ­Vitesse mit Historie und einem gesunden Schuss Durchgeknalltheit. Erinnert sich jemand an die ­legendäre Texas Cigar aus den 1950ern, eine Art 3D-gewordene Mondrakete des Comicautors Hergé? Oder die surreale NSU Delphin III, die von Wilhelm Herz im Jahr 1956 auf 320,4 km/h gepeitscht wurde?

Die Dinger verdanken ihre wahnsinnigen Geschwindigkeiten nicht zuletzt ihrem minimalen Luftwiderstand. Die Karosserie wird so entwickelt, dass Stirnfläche und Widerstandsbeiwert möglichst gering sind. Die ersten Fahrzeuge dieser Art stammen aus den 1920er Jahren, als Ingenieure begannen 1 und 1 zusammenzuzählen und Erkenntnisse aus dem Flugzeugbau in Auto-, Zug- und Motorraddesigns einfließen ließen.

Für ihre Spitfire haben VTR Customs diesen Gedanken von der Aerodynamik bis in die Optik konsequent weiterverfolgt. Kreativkopf der schweizerischen Schmiede ist Daniel »Dani« Weidmann. Der Ausnahmemechaniker und Hobbyflieger hat privat an britischen Royal-Air-Force- Modellen geschraubt, was den Customizer nachhaltig inspirierte. Nicht umsonst erinnert der Aluminiummantel der Spitfire, die auf Basis einer BMW R 1200 R entstanden ist, an klassisches Flugzeugdesign, während ihr Name selbstredend von der Fähigkeit Feuer zu spucken hergeleitet ist.

Neben Weidmann gehören Stefano »Mambo« Mambelli und Marcel »Cello« Brauchli zu den treibenden Kräften bei VTR. Die Männer verbindet eine langjährige Freundschaft und die felsenfeste Überzeugung, dass jedes Fahrzeug von der Stange ein gewisses Optimierungspotenzial birgt. Neben dem klassischen BMW-Motorradgeschäft haben VTR deshalb eine separate Customwerkstatt aufgebaut. Der allgegenwärtige Trend zur Individualisierung spielt dem Trio in die kundigen Hände. Customizing ist das Wort der Stunde, und die Kunden stehen Schlange.

»Unser Werkstattalltag ist sehr kreativ und mit vielen schönen Herausforderungen gespickt«, erzählt Weidmann. »Zu dritt wachsen wir immer wieder über uns hinaus, überlegen uns neue Lösungen und haben immer wieder verrückte Ideen. Besonders in den wichtigen Phasen eines Projektes inspirieren wir uns gegenseitig.«

 

 

»I’m the God of hell fire and I bring you — FIRE«. Der Funke der Begeisterung und das Feuer der Leidenschaft glühen bei VTR Customs um die Wette. In der rustikal-modernen Werkstatt entstehen faszinierende Umbauten klassischer BMWs.

 

 

Zurück zur Seele des Motorrads

VTR Customs treffen einen ganzen Nervenstrang der Szene, wenn sie auf der Startseite ihrer Website ein bisschen gegen Plastik, überflüssigen Hightechkram und Angebergespräche am Stammtisch poltern. Man sieht die Jungs förmlich vor sich, wie sie in schönster Craftmanier schimmerndes Aluminium dengeln, mit konzentriertem Blick Ventile einstellen und vor der Kulisse kernig verschneiter Schweizer Berge sich gegenseitig auf die bärigen Schultern klopfen. »Wir bauen Bikes, mit denen man eins wird, mit denen man Landschaft sieht, riecht und aufsaugt.« Wer wird da nicht schwach? VTR Customs gehören zu denen, die keine Maschinen, sondern Persönlichkeiten schaffen. Herzblut gehört zu ihren wichtigsten Zutaten.

Ihren Kunden versprechen die Mechaniker selbstbewusst »Motorräder mit Seele, Herz und viel Liebe zum Detail«. Ganzheitliche Bikes eben. »Am besten beschreibt der Begriff ›Seele‹ wohl ein Kundenanliegen von letzter Woche«, definiert Dani Weidmann. »Der Kunde meinte, sein Custom Bike ist zwar perfekt von einem anderen Customizer umgebaut worden, sei aber eben noch nicht wirklich ›seins‹ — ihm fehlte der emotionale Bezug und die Verbindung.« Die Kunst, dem Motorrad seine persönliche Seele zu geben, liege darin, den Kunden als ganzen Menschen zu erfassen, erläutert der Customizer. »Ich will verstehen, was er oder sie an besonderen Geschichten, Erlebnissen oder Hobbys mitbringt. Anhand dieser Infos kreiere ich Ideen und Details für das Bike, das so zu einem echten ›Freund‹ wird. Ein Glück, dass wir Schweizer sind: Ganz klischeehaft haben wir eine ausgeprägte Liebe zum Detail und zur Perfektion.«

Randanekdote: Nicht umsonst haben VTR Customs beim Projekt Spitfire zum wiederholten Mal mit dem Uhrenhersteller TW Steel zusammengearbeitet. Als Symbol von Präzision und — hoffentlich — Bestzeit ist die eigens angefertigte ACE 201 oben auf den Tank eingelassen. Und wer genau hinschaut, freut sich, wie ihr Ziffernblatt im Royal-Air-Force-Stil das Flugzeugthema ganz dezent wieder aufnimmt.

 

Daniel Weidmann (links), Marcel Brauchli (rechts) und Stefano Mambelli bilden das kreative Trio von VTR Customs. Die drei Männer eint die Vision, die Straßen mit ihren genialen Umbauten ein bisschen schöner zu machen. Check.

 

Verpuppung einer BMW R 1200 R

Den Bayerischen Motorenwerken ist das VTR-Team aus Überzeugung eng verbunden. Als offizieller BMW-Motorradhändler vertreiben die Schweizer auch nicht umgebaute Motorräder. »Wir haben schon von Beginn an durch unsere Custom Bikes sehr gute Verbindungen nach München gehabt und öfter unsere Custom Bikes für internationale Ausstellungen und Events zur Verfügung gestellt«, erzählt Weidmann. »Mit der Spitfire haben wir aber zum ersten Mal einen richtigen, großen Auftrag für ein Custom Bike bekommen.«

Und da haben es die Jungs gleich so richtig knallen lassen. Lediglich Motor, Getriebe, Antriebsschwinge, Räder und Bremsen erinnern noch an die originale BMW R 1200 R von 2017. Für den Umbau wurde die Gabel um über 30 cm gekürzt und ein individuell gefertigter ABM-Lenker sowie speziell angefertigte Fußrasten verbaut. Alles danach ist Kunst: Die wundervollen Aluminiumarbeiten made by Marcel Brauchli aka Cello, der Sattel von VTR und Yves Knobel, der unter dem Sitz eingelassene Customtank mit fünf Litern Fassungsvermögen, ein Firestarter für den feuerspuckenden Auspuff und nicht zuletzt — ein besonders schönes Highlight — die originalen Cockpit-Instrumente einer Spitfire der Royal Air Force.

»Wir sind sehr stolz darauf, dass wir technisch und handwerklich alles im Hause machen. Cello ist ein begnadeter Aluminiumdengler und weiß technische Herausforderung umzusetzen wie etwa Antriebe für Kompressoren zu konstruieren und deren Übersetzungen zu berechnen«, erklärt Weidmann. Seine beiden Kollegen sind wie er gelernte Motorradmechaniker. Alle drei Männer kommen aus dem Rennsport. Kein Wunder, dass die Spitfire mit all ihren Sonderheiten an der Glemsecker Startlinie von Veranstalter Jörg Litzenburger mit einer deutlich verliebten Hymne bedacht wird. Weidmann freut das ganz besonders. »Kreative und ein paar witzige Details dürfen an unseren Bikes nie fehlen. Besonders interessant ist es, wenn man den Betrachter beim Entdecken dieser Details beobachtet. Wir wollen uns nicht auf einen Stil fixieren, sondern kreieren immer wieder neue Bikes in komplett unterschiedlichen Stilrichtungen. Dazu sind wir weniger die 3D-CNC-Konstrukteure, sondern legen los und bauen nach Gefühl und Auge. Das zum Beruf zu haben ist mehr als nur befriedigend.«

Das findet auch Dirk Mangartz, Herausgeber des im Juli 2018 erschienenen Bildbandes Soul Fuel. Der jahrelange Chefredakteur der Zeitschrift Custombike hat 17 renommierte Customizer mit ihren Interpretationen des gefeierten Überraschungshits BMW R nineT portraitiert und zeigt einen 360°-Blick durch die internationale Customszene. Vorzeigewerkstätten wie El Solitario, 46 Works und Blitz gewähren exklusive Einblicke in ihre Werkstätten und lassen den Leser bei der Geburt ihrer individuellen R nineT-Versionen hautnah dabei sein. Die ganze Saison über hat BMW diese individuellen Kunstwerke auf verschiedensten Motorradfestivals — vom Cafe Racer Festival in Linas-Monthléry bis zum Glemseck — präsentiert und sich damit einen Logenplatz im Herzen des Customszene gesichert.

 

Amelie Mooseder ist nicht nur Marketingspezialistin für BMW Motorrad, sondern auch die offizielle »Werksfahrerin« von VTR Customs und lenkt die Spitfire mit sicherer Hand. Der Flammenwerfer gehört — wen wundert es — zu ihren Lieblingsgimmicks.

 

Freundschaft auf zwei Rädern

Doch zurück zur Spitfire. Am Glemseck im schwäbischen Leonberg ist das mit 90 Centimeter Schulterhöhe extrem niedrige Geschoß ein absoluter Publikumsmagnet. Prominent steht das Bike aufgebockt vor dem VTR Customs-Stand schräg vor der Hauptbühne. Geduldig beantwortet das Team technische Fragen und posiert für Selfies mit den Besuchern. Mittendrin: Rennfahrerin Amelie Mooseder. Sie lernte Weidmann bei den BMW Motorrad Days 2016 kennen und war mit dem Mechaniker sofort auf einer Wellenlänge. VTR Customs suchten damals eine schnelle Gashand für ihre Goodwood 12, die ebenfalls auf der BMW R 1200 R basiert. Mooseder hingegen war fasziniert von der legendären Schweizer Präzision und dem echten Herzblut des Teams und schlug spontan ein. Heute ist sie, neben ihrer Rolle als Spezialistin für Marketing bei BMW Motorrad, offizielle Werksfahrerin für VTR Customs. »Wir haben auf Anhieb eine Seelenverwandtschaft gespürt und unsere Leidenschaft mit den exakt selben Worten beschrieben — seither sind wir sehr gute Freunde geworden und glauben immer, dass wir uns schon über 20 Jahre kennen, dabei sind das gerade mal zwei Jahre«, freut sich Weidmann über die erfolgreiche Zusammenarbeit.

Viele behaupten von sich, das Motorradfahren sei ihnen in die Wiege gelegt, doch bei Amelie Mooseder stimmt das tatsächlich. »Ich bin sozusagen auf dem Motorrad groß geworden und saß schon als Kleinkind auf dem Tank der BMW GS meines Vaters«, erzählt die Rennfahrerin. »Als Siebenjährige bin ich statt auf dem Fahrrad mit einer kleinen Enduro durch die Natur rund um das bayerische Starnberg geknattert. Und dann wuchsen meine Motorräder einfach mit mir mit. Meine Eltern sagten immer: ›Je früher aufs Bike, desto besser.‹ Deswegen habe ich auch nie Angst vorm Motorradfahren gehabt, immer nur gesunden Respekt. Nicht nur dafür bin ich meinen Eltern wirklich sehr dankbar.«

Heute fährt sie privat eine BMW F 800 GS, die als klassische Reiseenduro so ziemlich das komplette Gegenteil der Spitfire ist. »Die GS — sprich: Gelände/Straße — ist bei mir sozusagen frühkindliche Prägung. Meine Eltern haben sogar ihre Hochzeitsreise auf einer — natürlich weißen — GS unternommen. Also stellte sich mir nie die Frage, welches Motorrad angeschafft wird, sondern nur welches GS-Modell passt«, verrät Mooseder. Das Fahren bedeutet für sie viel mehr als reines Streckemachen. »Unterwegs sein ist mit dem Motorrad einfach anders. Du fährst durch ein kleines Dorf, fühlst die Straße, riechst frischen Cappuccino aus dem Straßencafé, spürst deine Umgebung mit allen Sinnen. Ich kann mir kein anderes Reisen vorstellen. Mit meiner GS fahre ich täglich zur Arbeit und genauso in den Urlaub.«

Das Motorradfahren, das sonst für Amelie Mooseder das Gefühl von Freiheit und Reisen bedeutet, hat mit der Spitfire allerdings gar nichts zu tun. Das fange schon bei der Sitzposition an, die eigentlich eine Liegeposition sei, lacht sie: »Beim Rennfahren werden — im Gegensatz zum Fahren im normalen Straßenverkehr — mein Kampfgeist und mein Ehrgeiz total geweckt. Schon zwei Tage vor dem Start kann ich vor lauter Adrenalin kaum schlafen. Und wenn ich dann an den Start gehe, dann gebe ich alles. Es ist das perfekte Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele. Rennfahren ist nicht zuletzt eine mentale Geschichte.«

 

 

Sultans of Sprint

Am Glemseck gehen VTR Customs, Amelie Mooseder und Spitfire im dritten Rennen der beliebten Racereihe Sultans of Sprint an den Start. Für die Gesamtwertung zählen hier neben Geschwindigkeit und Performance auf der Achtelmeile auch Besonderheit des teilnehmenden Bikes und die Kreativität seiner Erbauer.

Obersultan ist der Franzose Sébastien Lorentz, der gemeinsam mit Laurence Chatokhine die Lucky Cat Garage betreibt. Nachdem er mit seinem Sprintbeemer im Jahr 2014 die Konkurrenz am Glemseck in Grund und Boden gefahren hatte, initiierte Lorentz kurzerhand seine eigene Rennklasse, die heute wie ein Wanderzirkus von Achtel­meile zu Achtelmeile zieht und dabei mit wahnwitzigen Bikes, schillernden Kostümen, Rock’n’Roll und Luftgitarren-Wettbewerben der schwarzgelederten Community das nötige Konfetti in den Tank kippt. Nach der gelungenen Premiere im Jahr 2016 gehen die Sultans of Sprint in diesem Jahr mit 23 internationalen Teams bei insgesamt vier Festivals in Monza, Spa, am Glemseck und in Saint Rafael an den Start. Bisher waren bei ihren Rennen ausschließlich luftgekühlte Zweizylindermotoren zugelassen, doch seit 2018 freut sich die Szene über die neue Factory Class, die endlich auch Viertaktern und wassergekühlten Motoren den Start erlaubt. Auch die Aufladung der Motoren ist frei und kann aus Turbo, Kompressor, Quickshifter oder NOS-Systemen bestehen.

»Wir hätten gerne Lachgas und einen Kompressor in der Spitfire verbaut, das Reglement in der Sultans of Sprint Factory Class — je mehr Leistung ein Motorrad hat, desto schwerer muss es sein — verhindert das aber leider …«, zwinkert Dani Weidmann. Das hat der Leistung des Bikes jedoch keinen Abbruch getan: In der komplizierten Gesamtwertung liegt das Team derzeit auf dem dritten Platz, bis der finale Sieger beim letzten Sultans of Sprint-Rennen Ende September beim französischen Dandy Riders Festival gekürt wird.

 

TW Steel hat bereits andere Umbauprojekte von BMW begleitet. Zu jedem Custom Bike gibt der niederländische Uhrenhersteller eine passende Kollektion heraus — die auf den heurigen Motorrafestivals jedes Mal schnell vergriffen war.

 

Nach dem Rennen ist vor dem Rennen

»Noch vor ein paar Jahren hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich mal am Glemseck mitfahre«, schwärmt Amelie Mooseder, die sich mittlerweile bereit macht, das Bike an die Startlinie zu schieben. Lachend zeigt sie die eingebauten Amy Specials wie den kleinen Klappspiegel auf dem Tank. »Ich fahre als einzige Frau in der Factory Class. Allein um etwas mehr Weiblichkeit in diese Männerdomäne zu bringen, ziehe ich mir vor dem Start nochmal meine Lippen mit rotem Lippenstift nach.«

Als der Streamliner die sie ist, ist die Spitfire im Grunde nur zum Geradeausschießen gebaut und hat einen Wendekreis wie ein Flugzeug, was wiederum ja zum Design passt. Gerade eine Woche vor dem ersten Rennen wurde die Maschine fertiggestellt. Wenig Zeit zum Üben. »Mir war wichtig, mit dem Motorrad eine Einheit zu werden. Denn ich fahre das Bike, und nicht das Bike mich. Aus meiner Position als Fahrerin, sehe ich keinerlei Steuerelemente, da diese seitlich unter der Verkleidung verbaut sind — also muss ich einfach spüren in welchem Gang ich bin, wann ich schalten muss«, erklärt Mooseder. Nicht einfach, denn das Alugehäuse der Spitfire ist bei laufendem Motor unglaublich laut. Was sitzen muss, ist der Start. Hier zähle jede Millisekunde. Es gilt: Wer besser wegkommt, gewinnt das Rennen.

Ein letzter Check-up mit dem Team. Dann klappt Amelie das Visier herunter. Der Daumen der Rennleitung geht nach oben, Flaggengirl Laura checkt den Blickkontakt mit den Fahrern, springt und …

5,8 Sekunden später. Amelie Mooseder und Spitfire schießen über die Ziellinie, gefühlt zeitgleich mit ihrem Konkurrenten, der nur einer auf diesen 201,17 Metern ist. Das Publikum dreht durch, Amelie strahlt, dreht am Gashahn und drückt den Firestarter. Die Flammen legen dem legendären Glemseck seinen goldenen Mantel um. Rekordzeit. [JS]