Text Lutz FÜGENER | ERSCHIENEN IN CHAPTER №VII »NORMAL THINGS« – WINTER 2022/23
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa prägte den Begriff vom »Rasenden Stillstand«, um das gesellschaftliche Phänomen der gefühlten Gleichzeitigkeit einer stetigen Beschleunigung unseres Lebens ohne ein tatsächliches Vorankommen zu illustrieren. Wir machen alles immer besser, doch ändern nichts grund-legend. Das Wort Weltverbesserer ist zum Schimpf-wort geworden. Ein Phänomen, das sich auch in der Innovationsökonomie wiederfindet, den Mut zur Disruption dämpft, Design mit gläsernen Wänden im Zaum hält. Was hindert uns also, den nervösen Trippelschritt der letzten Jahrzehnte zu verlassen und einen Anlauf zum Absprung ins Ungewisse zu nehmen?
Norman Bel Geddes konnte Zukunft materialisieren, denn er war Designer im besten Wortsinn, Fantast und Multitalent, gestaltete monumentale Bühnenbilder für Max Reinhard, Projekte gigantischer Flugzeuge, Automobile und war einer der Apologeten der vor dem Zweiten Weltkrieg so modisch gewordenen Stromlinienform. Bel Geddes bekam aus Anlass der Weltausstellung 1939 Auftrag und Gelegenheit, eine begehbare Zukunftsvision gigantischer Ausmaße zu erschaffen. »Futurama« nannte man die Ausstellung in der Ausstellung und ihr Initiator General Motors finanzierte sie mit der bemerkenswerten Summe von sieben Millionen US-Dollar. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Neuwagenkäufer musste 1939 in den USA 750 Dollar für seinen Wagen aufwenden — heute ist dieser Durchschnittswert auf das Fünfzigfache gestiegen.
»Building the World of Tomorrow« lautete das Motto des Projekts, doch der Claim »Strange? Fantastic? Unbelievable? Remember, this is the world of 1960!« beschrieb wohl treffender, was man den BesucherInnen des »Futurama« bot. Diese wurden in 552 Plüschsesseln sitzend per Fließband über eine überdimensionierte Modellbaulandschaft transportiert, die allein durch ihre statistischen Werte beeindruckte: Auf 3.000 Quadratmetern bewegten sich 10.000 animierte Modellautos durch eine Landschaft aus 500.000 Häusern und über einer Million Bäumen. Eines der wiederkehrenden Themen war bereits die Automatisierung des privaten und gesellschaftlichen Lebens — somit auch des Verkehrs: Und das allerorten wiederkehrende, wichtigste Versprechen dieser Miniwelt war — aus heutiger Perspektive beinahe unerwartet — Sicherheit. Die alles möglich machende Formel fand man in den seinerzeit buchstäblich elektrisierenden Verheißungen der Elektrifizierung.
So skurril heute noch manches Konzept wie ein schwimmend gelagerter und sich so stets nach Windrichtung ausrichtender Flugplatz erscheint, behielt Bel Geddes mit vielen der Tausenden von kleinen und großen Ideen Recht. Viele wurden vielleicht nicht bis zum anvisierten Jahr 1960, jedoch bis heute so oder so ähnlich verwirklicht. Doch es liegt in der Natur der Sache, dass eingetretene Zukunftsvisionen der Nachwelt als solche nicht mehr erkennbar sind, da sie den elektrisierenden Status des Visionären gegen den des Alltäglichen eingetauscht haben und wir sie als selbstverständliche Grundausstattung unseres Lebens betrachten. Trotzdem und gerade deshalb ist das Durchkämmen historischer Ideenvorräte sinnvoll, denn eine gute Idee muss letztendlich zwei grundlegenden Kriterien erfüllen: Sinnhaftigkeit und Machbarkeit. Letzteres hängt von den jeweiligen technischen Möglichkeiten ab, ändert sich durch Sprünge in der technischen Entwicklung rasant und hat das Potenzial, eine Idee nach Jahren oder Jahrzehnten aus der Nische nerdiger Science-Fiction in den Status eines machbaren und nun ernstzunehmenden Konzepts aufzuwerten. Doch ist das Heben solcher Schätze komplizierter als gedacht, denn sie tarnen sich mit dem sichtbaren Teil des Designs ihrer Zeit und erscheinen uns meist wenig visionär, datiert, verstaubt, ja skurril. Entwürfe bilden in aller Regel die Ästhetik ihrer Zeit ab, völlig egal ob sie die nahe oder ferne Zukunft darstellen wollten. Ganz selten gelingt es den Designern und Designerinnen bei der Gestaltung von Zukunftsvisionen, sich vom Diktum der kontemporären Mode unabhängig zu machen. In aller Regel sieht man einem Science-Fiction-Film nicht wirklich an, in welchem Jahrzehnt oder Jahrhundert der Zukunft seine Handlung spielen soll, kann jedoch den ungefähren Zeitpunkt seines Entstehens anhand der Ausstattungsdetails meist ziemlich genau eingrenzen.
Der Kern, die Idee der konzeptionellen Lösungen verstaubt jedoch nicht, solange die Aufgabe nicht verstaubt beziehungsweise noch so relevant ist wie eh und je. Und der Transport von Menschen und Gütern von A nach B — die klassisch-funktionale Definition von Mobilität — war, ist und wird auch in Zukunft eine Aufgabe von stoischer Präsenz sein, denn Mobilität ist Grundlage und Voraussetzung des Lebens. So erscheint Ideenarchäologie auf diesem Gebiet besonders sinnvoll, weil vielversprechend. Wer sich nun aufmacht, Ideenschätze zu bergen, sollte analytisch oder gar intuitiv Inhalt von Form trennen können — und das ist schwierig, denn unser eingebauter Denkapparat arbeitet am allerliebsten mit Bildern.
Ein Beispiel. Versuchen wir folgende Aufgabenstellung für den urbanen Individualverkehr der Zukunft: Ein viersitziges Fahrzeug mit kleinem Wendekreis, geringem Grundflächenbedarf und einer Gleichberechtigung aller PassagierInnen in Bezug auf Komfort und Sicht nach außen, ergo nach vorn und damit in Fahrtrichtung. Erstere Forderung muss man kaum begründen, Letztere klingt besonders im Zeitalter der zunehmenden Automatisierung sinnvoll, da im autonomen Automobil der — heute in der Regel für das Fahrzeug zahlende — Fahrer als Hauptansprechpartner bei der Vermarktung wegfallen wird und man tatsächlich beginnen muss, auch die Passagier-Innen ernst zu nehmen. Erwerben kann man ein solches Fahrzeug bisher nicht, doch eine passable Idee dafür finden wir in der Vergangenheit. Sie ist heute bereits stattliche 125 Jahre alt. Der Architekt Eugène Pierre Selmersheim gewann mit seinem Konzept den wohl ersten bekannten Automobildesign-Wettbewerb der Weltgeschichte — veranstaltet von den Grand Magasins du Louvre in Paris des Jahres 1897.
Die Vorteile des Entwurfs liegen auf der Hand. Mit heutig verfügbaren Technologien des Serienfahrzeugbaus könnte man sie sich — bei professioneller Umsetzung zu einem modernen, konkurrenzfähigen Produkt — als Alternative für den urbanen Verkehr materialisieren. Die Fahrdynamik eines etwas erhöhten Fahrzeugs hat man heute mit kleinen Eingriffen in die Steuerung bereits im Griff, im Innenraum könnten Eltern auf den hinteren, oberen Sitzen sowohl ihre Kinder als auch die Straße im Auge haben oder denen später die sicher attraktiven Aussichtsplätze überlassen, auch Großeltern würden den hohen Einstieg in den Fond zu schätzen wissen und wem beim Gekurve durch Stadtlandschaften ohnehin schnell übel wird, ist der unverstellte Blick in Fahrtrichtung meist eine große Hilfe. Die im Entwurf am Heck vorgesehene Plattform könnte Sperrgepäck aufnehmen oder durch intelligentes Management per App zu hochdynamischer Hop-On-Hop-Off-Mitfahrgelegenheit im Ride-Hailing-Business taugen… die Liste der Vorteile der Idee ist lang und wird — ist die Fantasie erst einmal angesprungen — immer länger. Selmersheim und die Jury der Grand Magasins du Louvre waren fraglos Visionäre.
Das einzige, aber leider entscheidende Problem beim Heben dieses und anderer Ideenschätze ist das augenscheinlich Historische daran. Idee super — Erscheinungsbild für unsere Augen nicht einmal normal. Genau der Teil der Arbeit am Entwurf, der vom Rezipienten gemeinhin als die Aufgabe des Designs definiert wird, erweist sich als schwere Last, verschleiert die Kraft der Ideen und wird stets von der allgegenwärtigen und explosionsartig wachsenden Bildgewalt unseres Alltags hinweggefegt.
Die uns umgebenden Medien sind voll von perfekt gestylten, bildlich dargestellten und animierten, futuristisch anmutenden Entwürfen, welche bei näherer Betrachtung auch dem Entwurf Selmersheimers konzeptionell kaum das Wasser reichen können. Wird den Bildprozessoren in unseren Köpfen ästhetisch Ansprechendes vorgehalten, vervollständigen wir ohne besondere Denkanstrengung automatisch alle informellen Fehlstellen mit positiven Annahmen. Diese Denkökonomie bestimmt viele Teile unseres Lebens und betrifft bei Weitem nicht nur die Beurteilung von Produkten. Auch in unserem sozialen Umfeld gehen wir gerne so vor, um den anstrengenden, vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman als Prozess des »Langsamen Denkens« definierten Arbeitsvorgang nicht starten zu müssen. Die Intuition wird heute permanent und gezielt angesprochen — sei es in der klassischen Werbung bis zu medial innovativeren Auswahlverfahren in unserem sozialen Umfeld wie der virtuellen Anmach-App Tinder. Der kluge Satz don’t judge a book by its cover gilt auch noch heute, doch in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie kann angesichts der stetig anströmenden Nachrichtenflut das stundenlange Lesen des Buches mit dem sekundenschnellen Bewerten seines Äußeren einfach nicht mehr mithalten. Archäologie jedoch war und ist eine Profession für Geduldige.
Im Züricher Vorort Küsnacht widmet sich seit einiger Zeit ein junges Unternehmen der Wiederbelebung eines Fahrzeugs aus dem Jahr 1954 — der Isetta. Initiiert durch die Hoffnung auf einen wachsenden Bedarf an reduzierten Fahrzeugen für den emissionsreduzierten urbanen Einsatz hat man am Genfer See sowohl die konzeptionellen als auch die emotionalen Potenziale des Urtyps erkannt und sich in das Abenteuer einer Neuinterpretation des Entwurfs gestürzt. Vor 70 Jahren hatte sich der geniale und eher durch seine Supersportwagen bekannt gewordene Ingenieur Renzo Rivolta mit dem Thema Kleinfahrzeug befasst und Ergebnis war eben dieser markante Zweisitzer. Ein deutsches Unternehmen erkannte das Marktpotenzial des Fahrzeugs als attraktives Angebot unterhalb des Automobils baute es in Lizenz, vertrieb es ab 1955 als BMW Isetta und trug so zu Verbreitung und Bekanntheit bis zum heutigen Tage bei. So wie auch im Fall des vier Jahre später vorgestellten Ur-MINI im Jahr 1959 entsprach die gestalterische Umsetzung im Detail, die Behandlung von Flächen, der Einsatz von Materialien und Farben der Isetta dem kontemporären Geschmack der Zeit und es lässt sich daraus kein Anspruch an die Position einer Design-Innovation anmelden. Doch beide Entwürfe enthielten ein derart unkonventionelles, grundlegend neues technisches Konzept, dass auch mit größtem Bemühen das Gießen in eine klassische Automobilform nicht machbar gewesen wäre. In buchstäblicher Einheit von Funktion und Form bedingte die Neuartigkeit des Konzepts auch eine Unverwechselbarkeit der äußeren Erscheinung — der Leitsatz des Designs der Moderne »Form Follows Function« in tautologischer Unvermeidbarkeit. Ob dieser Umstand seinerzeit für die Vermarktung als Komplikation oder willkommener Effekt wahrgenommen wurde, ist nicht überliefert. Aus heutiger Sicht wahrscheinlich ist jedoch — leider — Ersteres.
Innovationssprünge à la Isetta oder MINI sind in den letzten Jahrzehnten im Marktsegment des Individualfahrzeugs beinahe ausgestorben. Smart, AUDI A2 oder einem BMW i3 erzeugten zwar spannende Funkenflüge, doch sprang kein Feuer über. Zweifellos vorhandene Innovationskraft der Hersteller in Technik und Design tobte sich genau an den Disziplinen aus, die bei Isetta und MINI für eine Wiederbelebung erneuert werden müssen. Die Autos wurden über die Jahre unbestritten stetig besser, performanter, sicherer, bequemer, hübscher, manchmal — gemessen an ihrer Leistung — auch sparsamer. Doch wirklich grundlegende Innovationen? Fehlanzeige.
Nun ist das Automobilgeschäft eben ein Geschäft und als solches folgt es der Logik des Marktes und seiner AktionärInnen: Der Druck zur Innovation verhält sich umgekehrt proportional zu den Verkaufszahlen. Und man verkauft derzeit gut, — richtig gut. Doch könnte diese Ruhe trügerisch sein, denn die Entwicklung zweier Unbekannter in der Gleichung lassen sich schwer vorhersagen. Erstens: Schlägt die derzeit noch auf intellektueller Ebene geführte Diskussion über Notwendigkeiten einer Verkehrswende aus ökologischen Gründen irgendwann auch tatsächlich auf das Kaufverhalten durch — auch in den derzeit tonangebenden ostasiatischen Märkten? Die Rasanz der Entwicklungen und die sie beschleunigenden Eingriffe der Administrationen in China ist mit dem hiesigen Gleichmaß nur schwer zu vergleichen und seit einiger Zeit ist dort eine Hinwendung zu Themen des Umwelt- und Klimaschutzes deutlich erkennbar. Die zweite Variable ist noch nebulöser und völlig unberechenbar: Am zurecht vielzitierten Beispiel des iPhones erkennt man die trügerische Unzuverlässigkeit des Marktes, ergo der Kundschaft. Solange es das tastenlose Telefon nicht gab, vermisste es niemand, doch wurde es durch sein Erscheinen rasend schnell zum Standard und ließ alles, was bis dato als modernes Kommunikationswerkzeug angesehen wurde, im buchstäblichen Sinne alt aussehen.
Es gibt einen Protagonisten im Geschäft der individuellen Mobilität, der die Kraft gehabt hätte, den iPhone-Schock auf Räder zu stellen. Doch Elon Musk hat sich bei seinem Automobilprojekt Tesla dafür entschieden, in Erscheinungsform und sogar bei den allgemeinen Bewertungsmaßstäben nicht aus der Reihe zu tanzen. Die Produkte Teslas — bis auf den Cybertruck — sind allesamt noch kompatibel zum klassischen Autoquartett. Die Nachricht des Designs an des angesichts der neuen, vollelektrischen Antriebstechnik verunsicherten Kunden war: »Keine Angst vor mir, ich bin ein ganz normales Auto.« Der kommerzielle Erfolg hat Musk Recht gegeben und mutigere Ansätze nach dem Motto »neuer Inhalt — neue Form« wie der bereits erwähnte BMW i3 wurden vom Publikum eher mit spitzen Fingern angefasst. Doch ein beruhigendes Weiter so scheint trügerisch — der Design-Big-Bang ist nur verschoben.
Im Jahr 2025 findet wieder eine Weltausstellung statt — diesmal im japanischen Osaka. Es wäre DIE Gelegenheit, — vielleicht mit dem Geld eines japanischen Automobilherstellers — eine gigantische Vision der Mobilität von morgen zu bauen und damit eine Revolution der Mobilität einzuläuten. Viele grandiose Ideen warten auf ihr Recycling. Wäre doch super! Super unbequem.