TEXT Lutz Fügener | erstmals veröffnetlicht in CHAPTER №IX »WORK IN PROGRESS« – WINTER 2023/24
Er hat schon etwas Mystisches, dieser Designprozess. Zumindest aus der Perspektive der Design-Konsument:innen. Angesichts der allgegenwärtigen Präsenz von Design in unserer mit Produkten vollgestellten Umwelt ist die Ausdauer dieses Mysteriums bemerkenswert. Schließlich basieren ausnahmslos alle Konsumprodukte und auch die meisten, diesbezüglich oft unterbewerteten Investitionsgüter — vom Kugelschreiber bis zum Computertomographen — auf einer Vielzahl von gestalterischen Entscheidungen und/oder Konzepten. Quantitativ bewertet ist Design also alles andere als selten — eigentlich keine gute Voraussetzung für dauerhafte Exotik und Unnahbarkeit.
Man könnte meinen, es läge im Interesse der Designer:innen, ihrer Arbeit die Aura des Genialen und somit nicht Nachvollziehbaren zu erhalten. Man hielte sich und die Ergebnisse seiner Arbeit frei von fundierter Kritik und machte sich das Leben leichter. Doch diese Attitüde und die daraus resultierende Schutzschicht erkaufte man sich mit einem gewaltigen Kompromiss: Die ohnehin gegen Übergriffe fast wehrlose, weder von staatlichen Abschlüssen noch von Kammern geschützte, Disziplin des Designs wird so endgültig zum Selbstbedienungsladen für Amateur:innen und Selbstdarsteller:innen. Die einschlägigen Nachrichtenkanäle sind voll mit Erfolgsgeschichten von B- oder C-Promis, die über Nacht zu Designer:innen wurden. Eine erstaunlichere Metamorphose kommt in anderen Professionen eher selten vor. Es gibt eine lange Liste von Berufen, welche Tätigkeiten umfassen, die wir alle in unserem privaten Leben recht oder schlecht ausführen. Friseur:innen, Kraftfahrer:innen, Fensterputzer:innen, Bäcker:innen, Köch:innen etc. Kaum jemand, der es fertigbringt, seine Gäste erfolgreich mit einem gelungenen Mahl zu verwöhnen, beansprucht deshalb für sich die Einordnung als professioneller Küchenchef oder Küchenchefin. Es würde einem — und das völlig zurecht — als Anmaßung ausgelegt, denn es ist beileibe nicht einfach damit getan, etwas Genießbares zustande zu bekommen. Für sicherheitsrelevante Berufe liegt diese Schwelle noch höher. Dem Tatendrang von Hobbychirurg:innen oder Autodidakt:innen im Cockpit eines Flugzeugs setzen Gesetze in Schranken, denn hier wird Selbstüberschätzung zum akuten Sicher-heitsproblem. Das scheint für das Design nicht der Fall zu sein — zumindest nicht unmittelbar.
Cadillac Studio, 1960
»Color Room« bei General Motors, 1956
DESIGNSHOW STATT KOCHSHOW
Und um es hier einmal deutlich festzuhalten — niemand wird über Nacht zum Designer oder zur Designerin. Hinter den erstaunlichen Erleuchtungsgeschichten stehen professionelle Marketingkonzepte und ein Team von Fachleuten, das dann die tatsächliche Arbeit macht. Die Entwicklung von Kollektionen für Oberbekleidung, Schuhe, Schmuck (um hier die wohl am häufigsten vorkommenden Inkarnationswunder zusammenzufassen) erfordert Fachwissen über Materialien, Schnitte, Produktionsabläufe, Nachhaltigkeit, Bearbeitungstechniken, Marketing, Ergonomie und einiges mehr. Erscheint die Popularität einer Person als förderlich für die Vermarktung, wird ihr hin und wieder der ein oder andere, in seinen Grenzen abgesicherte Stellregler zugestanden und Entscheidungsfreiheit überlassen, um die Designgeschichte halbwegs plausibel zu machen. Das wird dann bildgewaltig in Szene gesetzt und wortgewaltig kolportiert. Meist jedoch beschränkt sich die Mitarbeit der Neudesigner:innen auf die Unterschrift unter dem Werbevertrag. Alles das funktionierte nicht, wäre der Designprozess so bekannt, nachvollziehbar und öffentlich wie der des Kochens. Designshow statt Kochshow — warum eigentlich nicht?
AKTIONSRAHMEN UND SEQUENZEN
Die Unschärfe des öffentlichen Bildes dieser Gestaltungsprozesse sind sein Problem und seine Stärke. Sind die Eingangsdaten und die Aufgabenstellungen formuliert, wechseln sich kreative, unkritische mit kritisch-analytisch selektiven Phasen ab. Dabei zieht sich der Aktionsrahmen Schritt für Schritt zusammen und die Detailtiefe nimmt zu. Je nach Komplexität des Produkts werden hin und wieder die Phasen eines solchen Prozesses nicht einmal deutlich sichtbar. Gut nachvollziehbar sind diese Sequenzen in Designprozessen, die durch große Teams bearbeitet werden, da hier alle Protagonist:innen den Stand der Arbeit nachvollziehen und deshalb kommunizieren müssen. Exemplarisch für diesen letzteren Fall ist die Automobilindustrie mit ihren Designstudios mit bis zu dreistelligen Personenstärken.
Peter Schreyer mit einem Modell des Audi TT.
Audi TT Coupé (Skizze)
DREI INGREDIENZEN
Für einen erfolgreichen Designprozess sind drei Ingredienzen nötig: Zum Ersten die Fähigkeit der Produktion von Ideen und Ansätzen in nicht beschränkter Zahl. Hier spielt das Intuitive, das »sich selbst Überraschen« eine Rolle. Diese Phase erzeugt wohl das größte Mysterium. Doch auch hierfür gibt es Techniken. Zum Zweiten die Fähigkeit, Auswahlen zu treffen, Gutes zu erkennen — unabdingbar für alle, die ein Designteam oder gar ein ganzes Studio leiten. Und letztlich die Fähigkeit, fertige Ideen und/oder Konzepte in funktionaler und ästhetischer Qualität umzusetzen — das sogenannte Designhandwerk. Eine definitiv nicht weniger wichtige Ingredienz, bestimmt sie doch für Rezipient:innen die erste Wahrnehmungsebene und damit die intuitive Einordnung in gut oder schlecht, spannend oder uninteressant. Besonders in unseren mit Produkten und Informationen überfüllten Umwelten ist die ästhetische Beglaubigung die erste zu nehmende Hürde im Rennen um die Aufmerksamkeit. Und schon sind wir wieder beim penetrantesten aller Klischees über die Aufgaben des Designs: Ästhetisierung — im schlimmsten Fall Dekoration.
Designteam Audi, Archivfoto
AUF SOZIALER EBENE
Generalisierung oder Spezialisierung — eine beziehungsweise die schwer zu beantwortende Frage über die Ausbildung von Designer:innen. Selbstverständlich gibt es in der Praxis beide Ansätze. Was in kleinen Designbüros oft in Einzelleistung beziehungsweise Personalunion entsteht, wird in größeren Strukturen je nach Neigung oder Spezialisierung verteilt. In der für die Arbeitsteiligkeit ihres Entwicklungsprozesses bekannten Automobilindustrie ist es heute noch Usus, Entwürfe beziehungsweise die Entwurfsverantwortung für einen bestimmten Entwurf mit dem Namen eines Designers oder einer Designerin zu verknüpfen. Ein Vorgehen, das durchaus seine Berechtigung hat, da meist diese eine Person für die originäre Idee steht, verantwortlich daran weiterarbeitet und/oder mit der Orchestrierung des Designprojekts betraut wurde. Es gibt jedoch auch Unternehmen, in denen grundsätzlich die leitenden Designer:innen die Rechte auf die Urheberschaft beanspruchen. Völlig abwegig ist dieses auf den ersten Blick höchst ungerechte Vorgehen nicht, denn Entwerfer:innen und Entscheider:innen stehen in unlösbarer Abhängigkeit voneinander, da der Erfolg tatsächlich von der Kongenialität dieser Zusammenarbeit abhängt. Während Entwerfer:innen in der unkritischen Phase Gestaltungsvorschläge produzieren, selektieren die Entscheider:innen in der kritischen Phase diese Arbeiten und schaffen die Entscheidungsgrundlage für die jeweils nächste Arbeitssequenz der Entwerfer:innen. Was die eine Person nicht entwirft, darüber kann die andere nicht entscheiden, doch die finale Gestalt des Entwurfs hängt maßgeblich von der Kaskade dieser Entscheidungen ab. Hier spielt dann Teamfähigkeit und prozessinterne Kommunikation — ausdrücklich auch auf sozialer Ebene zwischen den Protagonist:innen — eine wichtige Rolle.
Designskizze Kia, mit der von Peter Schreyer entwickelten, charakteristischen »Tiger Nose«.
UNBERECHENBARKEIT DES GENIES
Unbestritten ist das Potenzial des Designs als wichtige Produktivkraft. Zurecht international prominente Designer wie der untrennbar mit der Geschichte der Marke Apple verbundene Jonathan Ive oder Peter Schreyer, ehemaliger Chefdesigner von Audi und durch seine Arbeit für Kia/Hyundai besonders in Südkorea allgemein hochverehrt, haben durch ihre Arbeit den Profit ihrer Unternehmen signifikant erhöht, verdoppelt, gar vervielfacht und den jeweiligen Marken zu nachhaltigem Wert verholfen. Diese grandiosen Erfolgsgeschichten bergen jedoch aus der Sicht der verantwortlichen Unternehmer:innen beziehungsweise CEOs die Gefahr der Unberechenbarkeit, Unwiederholbarkeit. Gerne lässt man sich durch den Design-Boost in große Höhen katapultieren, doch die Abhängigkeit von den nicht evaluierbaren Ergüssen des Genies schafft spätestens dann Unruhe in Geschäftsführung und bei Aktionär:innen, wenn die Erfolgskurve beginnt sich langsam abzuflachen. Im günstigsten Fall haben diese Designpersönlichkeiten es geschafft, dem internen System ihre Denk- und Arbeitsweise einzupflanzen und damit Resilienz gegen ihren eigenen Verlust — oder man könnte sagen: sich selbst abkömmlich zu machen.
Design in progress — analog und digital.
»DESIGN THINKING«
Nicht zuletzt aus dieser Not begründet sich die Idee, dem vermeintlich erfolgsversprechenden Designprozess in seiner Struktur zu beschreiben, ihn seines Mysteriums zu entledigen, damit reproduzierbar und universell einsetzbar zu machen. In den Neunzigern des letzten Jahrhunderts entstanden die ersten akademischen Strukturen, die sich genau dieser Aufgabe stellten. Die Stanford d.school gilt als die erste Institution, die es sich zum Ziel setzte, das Gerüst des Designprozesses auf beliebige, andere Entwicklungsprozesse anzuwenden. Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit der Anwendung dieser Abläufe war nur, dass für deren Erfolg eine oder mehrere kreative Entscheidungen maßgeblich sind. Die Idee des »Design Thinking« war in der Welt und verbreitete sich schnell. Erstaunlicherweise wurde es auch in der Designausbildung zum buzz word der frühen Zweitausender, was jedoch, mit Abstand betrachtet, dem sprichwörtlichen »Eulen-nach-Athen-tragen« gleichkommt. Dem Design seine ureigene Handlungsweise in neuer Verpackung zu präsentieren, klingt nach einem gewagten Marketingansatz. Die Anwendung dieser Vorgehensweise auf andere Branchen jedoch — von der Konstruktionsabteilung bis zum Versicherungsunternehmen — führten tatsächlich zu neuen Ansätzen, relevanten Ergebnissen und nicht zuletzt zu spannenden Experimenten in den sozialen Gefügen der jeweiligen Abteilungen, da neue Teambildungen alte Strukturen infrage stellten.
DIE IRONIE DES GANZEN
Ein spannender Aspekt der angewandten Systematisierung des Designprozesses ergibt sich in jüngerer Zeit durch den steigenden Zugriff auf Werkzeuge der Künstlichen Intelligenz. Fast zeitgleich mit den textbasierten Anwendungen wurden ihre bildbasierten Pendants verfügbar und fordern seitdem die akademischen und professionellen Strukturen der Designwirtschaft zu einer Stellungnahme heraus. Auch ernstzunehmende Betrachtungen mit wissenschaftlichem Anspruch und Experimenten über praktische Anwendbarkeit von KI im Gestaltungsprozess sind bereits verfügbar. Hervorzuheben ist hier die Dissertation von Steffen Reichert über die Anwendung von KI im Designprozess von Automobilen (Steffen Reichert, COMPUTATIONAL DESIGN METHODEN FÜR DIE GESTALTUNG VON AUTOMOBILEN; Universität Stuttgart, ISBN 978-3-9819457-3-7). Besonders für die unkritischen Phasen der Variantenerzeugung im späteren Projektablauf und damit nach der Festlegung der originären Ideen des Entwurfs scheint KI ein probates Mittel zur Beschleunigung des Prozesses zu sein. Wenn die für KI nicht zu leistenden Disruptionen nicht mehr gefordert sind und die formale Ausarbeitung beginnt, kann die KI durch geschickte Definition von »Schiebereglern« dem hier handwerklich nur noch bedingt geforderten Entwerfenden Fleißarbeit abnehmen und die Ergebnisse dazu in Sekunden liefern. Und das ist nur der Anfang der Überlegungen. Die durch das stetige Verlangen nach Verkürzung der Entwicklungszeiten herausgeforderte Automobilindustrie steht an verschiedenen Stellen bereits in der Experimentier- und Versuchsphase. Bekommt man das Problem der Geheimhaltung bei der Nutzung von Online-Anwendungen in den Griff, werden sich diese Bemühungen nochmals verstärken.
Eine Ironie liegt jedoch auch in diesem Vorgehen. Der nun durchsichtige, in seiner Struktur erkennbare Designprozess würde phasenweise betrieben von selbstlernenden Computersystemen, deren Entscheidungswege im konkreten Fall nicht nachvollziehbar sind. Zwischen Eingangswerten und Ergebnis liegt ein für die Operatoren nicht betretbares Land. Ein Mysterium.