Lieblingsdinge

Just-rightness als Grundfrage von Design

© iF Design, Hannover

TEXT Lutz Fügener | ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №X »STATE OF THE ART« – SOMMER 2023/24

Just-Rightness, das Nomen des Begriffs just-right — wörtlich übersetzt mit »einfach richtig« ist vielleicht ein Anglizismus — keinesfalls jedoch ein eingeführter, gar kanonischer Begriff — falls es diese im Feld der Designwissenschaften überhaupt gibt. Es taucht hier und da in Texten zum Thema Design auf und markiert im überwiegenden Fall einen qualitativen Wert, eine Justierung. Just-Rightness lässt also derzeit durchaus eine Menge Interpretationsspielraum. Spannend ist eine, hin und wieder auftauchende Interpretation des Begriffs, denn diese rührt an einer Grundfrage des Designs im Allgemeinen. Es geht um Maßhaltigkeit, um das Selbstverständnis des Designs auf seiner Position zwischen Technik und Marketing.

»Gutes Design ist so wenig Design wie möglich«, formulierte Dieter Rams — God-Father der späten Moderne — und bedient sich damit eines sprachlichen Tricks. Die Pointe des Satzes resultiert aus den unterschiedlichen inhaltlichen Umfängen des Begriffs Design bzw. design im Deutschen und im Englischen. Eine Übersetzung der These ins Englische birgt deshalb auch die Gefahr der Fehlinterpretation. Vielleicht wäre die verständlichere, die zugegeben noch denglischere Formulierung »Gutes Design ist so wenig Styling wie möglich« die konsequentere Formulierung des Anspruchs, doch wäre die sprachliche Raffinesse der These damit dahin und sie ist deshalb allein aus ästhetischer Sicht abzulehnen.

© Oru Kayak

 

Oru Kayak – Modell Coast XT

 

Aber vielleicht ist es ja gar nicht so einfach wie: Lass das Styling weg und du bist auf einem guten Weg. Die Zeiten haben sich geändert. Das Design agiert als Protagonist auf beinahe allseits überfüllten Märkten und ist so elementarer Teil des Instrumentenkastens zur Verdrängung von Konkurrenzprodukten. Es gibt somit heute in einer Welt des Zuviel auch zu viel Design. Die Situation ist vergleichbar mit der der Presse, die sich ebenfalls zunehmend einer Konkurrenz um Wahrnehmung ausgesetzt fühlt. Aufmerksamkeitsökonomie ist das neue Zauberwort und erzeugt eine neue, wichtige Grundregel: Überwinde den Schwellwert der Wahrnehmung, um die gegenüber der Konkurrenz zu exponieren. Presseprofis beschreiben diesen Vorgang gerne mal mit der Formulierung »einen Inhalt steil ankanten«, was nichts anderes bedeutet, als aus buchstäblich jeder Mücke einen Elefanten zu machen, den Grad der Aufregung und damit der Aufmerksamkeit zu steigern, um den Klickreflex bei geneigten Online-Konsument: innen der Nachrichtenseite zu provozieren. Denn nur Klicks werden gezählt und schaffen durch Umrechnung in Werbewert das Geld in die Kasse. Was dem Medienschaffenden seine Klickzahlen sind dem Handel seine Verkaufszahlen. Und steil ankanten kann man hier auf verschiedenen Wegen — mehrere führen über das Design.

© Oru Kayak

 

Oru Kayak – Modell Inlet

 

Insbesondere im deutschen Sprachraum ist der Designbegriff eng gefasst, weil stets mit einer künstlerisch-kreativen Leistung verbunden; als solcher gänzlich ungeschützt und für jeden frei zu verwenden und zu missbrauchen. Eigentlich müsste die interessierte Kundschaft wissen, dass die Verwendung des Wortes Design als Marketing-Präfix stets zu Misstrauen Anlass geben sollte. Die Designerbrille, Designerlampe, das Designermöbel oder die Designerküche liegen zwar preislich zuverlässig über dem Durchschnitt, sind aber nicht zwingend die in dem überwiegenden Teil ihrer Eigenschaften besseren Produkte. Design wird hier nicht selten zum Additiv, zur beliebig skalierbaren Applikation. Der Kunde fällt ein paar Mal darauf herein, zahlt Lehrgeld und lernt so seine Lektion.

© Oru Kayak

 

Oru Kayak – Modell Haven Tandem

 

Im diametralen Gegensatz zu dieser landläufigen Wahrnehmung des Designs steht sein Selbstverständnis in der akademischen Welt. In den Mission-Statements der einschlägigen Bildungseinrichtungen für die Ausbildung dieser Profession erscheint als Minimalforderung nicht weniger als die Rettung der Welt. In jedem Falle schaffen die Absolvent:innen zumindest dieser jeweiligen Einrichtung im späteren, professionellen Leben immer die Lösung und definitiv nie das Problem. Die formulierten Grundsätze schließen dabei nicht selten und ganz selbstverständlich einen paternalistischen Erziehungsanspruch ein, der den umworbenen Interessierten gerne als beruhigende Tautologie von Design und einem Wirken zum Guten dargeboten wird. Natürlich ist es schon allein für das eigene Karma sehr praktisch, einen Beruf auszuüben, der ganz automatisch jede weitere anstrengende Analyse der komplexen Konsequenzen seines eigenen Tuns überflüssig macht. Sicher stehen da die eine oder andere Sparte wie das Modedesign oder Automobildesign ein wenig unter Verdacht, doch durch die großzügige Verwendung von wohlfeilen Adjektiven wie nachhaltig zieht man auch das zumindest textlich wieder gerade. Auch hier wird steil angekantet, denn eine hohe Zahl von Bewerber:innen sichert Qualität und Mittel und nicht zuletzt die Daseinsberechtigung. Greenwashing hier wie da — chercher du marketing!

Die rechtliche Wehrlosigkeit des Designbegriffs gestattet es, ihn an seinen Rändern bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen. Vom ideologisierten Heilsversprechen bis zum reinen Marketinginstrument. Das wäre weniger bedenklich, erzeugten nicht genau diese Extreme in ihren jeweiligen Wahrnehmungsräumen eine unproportional große Rückwirkung auf das Bild des Designs. Und hier ist es angebracht, den Begriff der Just-Rightness ins Spiel zu bringen. Es geht um nicht weniger als die Substanz des Designs, die sich stets im Zusammenwirken bildet, immer auf die gelungene Kooperation mit Technik und — sofern es sich um ein Produkt handelt — mit dem Marketing angewiesen ist. Auch das Diktum des Dieter Rams kann man als Aufforderung an das Design lesen, sich in diesem Zusammenwirken maximal kooperativ und minimal invasiv zu verhalten. Die Gefahr, sich durch diesen Reduktionsanspruch als Designer: in überflüssig zu machen, scheint heute gebannt. Design hat seine Eingriffstiefe in diese Arbeitsgegenstände und -prozesse über die Jahrzehnte ständig erhöht, macht seine Kompetenz zunehmend bereits in den Konzeptionsphase  geltend, ist gar als Vorbild für Methodik bei der Lösung von komplexen Aufgaben gefragt und wird mehr und mehr zum Scharnier an der Verbindungsstelle aller Kräfte. Mit Augenmaß kann es in dieser Position wesentlich dazu beitragen, die Dinge unseres Alltags weder mit Bedeutung noch mit Dekoration zu überfrachten, die Konzentration auf das Wesentliche zu lenken. Was entstehen in diesem Selbstverständnis für großartige Dinge, die ihren Wert zwar erst auf den zweiten Blick offenbaren, aber dafür lange halten können — technisch wie ideell. Es sind jene Gegenstände, die man gerne reparieren lässt oder nach Verlust ein zweites Mal erwirbt — Lieblingsdinge eben. Sie müssen funktionieren, dürfen nicht übermäßig modisch sein, reparabel, anpassbar, sollten durch Verschleiß nicht an Ästhetik verlieren (eventuell sogar gewinnen) und aus all diesen Eigenschaften ihr positives Image und letztlich die Reputation ziehen, die sichert, dass man sich mit ihnen buchstäblich oder im übertragenen Sinne gut angezogen fühlt.

 

© Unternehmensarchiv der AUDI AG

 

Audi A6, Baureihe C5 (1997—2005)

 

Der Entwurf des Audi A6 der Baureihe C5 (1997 — 2005) des herausragenden deutschen Automobildesigners Claus Potthoff gehört zu den Automobilen der jüngeren Geschichte, die sich an solchen Maßstäben messen lassen — in der tendenziell eklektischen Welt des Automobildesigns keinesfalls die Regel. So gehört er zu den Entwürfen, die man durch jeglichen nachträglichen Eingriff mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlechtert. Nichts am A6 ist zu viel, alles an seinem Platz, Proportionen und Volumen perfekt. Nicht einmal die in diesem Marktsegment oft imagebildenden Endrohre der Auspuffanlage hatte das Urmodell nötig. Ringsherum, innen wie außen, orientiert sich der Entwurf an der Horizontale, alle Linien sind zweigradig (durch lediglich drei Punkte geometrisch definiert) und auch die Details sind ebenso geometrisch hergeleitet. Zuckerguss gibt es keinen. Eigentlich ein Entwurf mit unbegrenzter Haltbarkeit — wäre da nicht die Logik des Marktes und der ständige Druck zur Veränderung — um den Begriff »Innovation« ausdrücklich zu vermeiden.

Das japanische Unternehmen Ryōhin Keikaku versucht mit den Produkten seiner Marke MUJI Just-Rightness zum generellen, konzeptionellen Ansatz zu erheben. MUJI ist die Abkürzung des Begriffs mujirushi ryōhin und bedeutet so viel wie markenlose Qualitätsware und erhebt die Reduktion zum Diktum des Designs. Es ist wenig überraschend, dass diese Idee gerade in Japan entsteht, denn die Zurückhaltung und Maßhaltigkeit sind in den gesellschaftlichen Normen der japanischen Gesellschaft tief verankert und finden sich in mehrheitlich angestrebten Lebensgrundsätzen wie dem Ikigai — wörtlich übersetzt steht »iki« für »Leben« und »gai« für »Wert« — wieder. Darüber hinaus ist Raum — besonders in den großen Ballungszentren des Landes — ein kostbares Gut und der extensive Umgang weitestgehend ausgeschlossen weil enorm kostspielig.

 

© MUJI

 

MUJI, Wasserkocher MJ-EK5A

 

Als wären sie für die Produktpalette von MUJI ersonnen, treibt das kalifornische Unternehmen Oru Kayak die Just-Rightness mit ihren Produkten auf die Spitze. Die Oru-Designer:innen definieren den angestaubten Begriff »Faltboot« auf bisher unerreichtem Niveau neu. Mit aus transluzentem Polypropylen Flachmaterial gefertigten Booten von bemerkenswerter Robustheit, bequem, leicht, schnell auf- und abzubauen, für den Transport tatsächlich auf die Größe einer Sporttasche zusammenzufalten und problemlos auf dem Gepäckträger eines durch schnittlichen Fahrrads zu transportieren — wahlweise auch unter den Arm geklemmt in der U-Bahn. Dabei können sie ästhetisch mit so manchem konservativen Konkurrenzprodukt mithalten und die Kombination aus transparenter Leichtigkeit und präziser Origami-Falttechnik schafft ihnen einen zusätzlichen Wow-Effekt. Und das alles ist zweifellos just-right, denn weglassen kann man an diesem Produkt definitiv nichts mehr.

Laut Statistischem Bundesamt besitzt ein Mensch in Europa ca. 10.000 Dinge, in den USA dreimal so viele. Die Japanerin Marie Kondō veröffentlichte im Jahr 2010 einen international vielbeachteten Ratgeber zum Thema »Aufräumen«, in dem sie der für das Aussortieren notwendigen Bewertung der Gegenstände auch eine spirituelle Dimension zuschreibt. Nüchtern betrachtet ist es eben diese Just-Rightness, die man dem Gegenstand zugesteht oder sich eben davon trennt. Muss das zwingend mit Design zu tun haben? Nein, denn die individuelle Bedeutung eines Gegenstands hat verschiedene Dimensionen. Darf es mit Design zu tun haben? Ganz bestimmt. So ist diese Just-Rightness — wenn man bei dem Terminus bleiben möchte — etwas grundsätzlich Individuelles, das Ergebnis einer Verhandlung zwischen Produkt und Nutzenden, die durchaus unterschiedlich ausfallen und sich dabei auch zeitlich in die Länge ziehen kann. Ein Produkt — ob T-Shirt oder Automobil — kann im Verlauf der Geschichte seiner Nutzung allein dadurch tatsächlich große auf seine Umweltfreundlichkeit erlangen, weil eben diese Geschichte lange dauert. Das Produkt also nicht entsorgt und durch eine neues ersetzt, sondern gepflegt und repariert und so fester und unverzichtbarerer Bestandteil genau dieses Lebens wurde — ganz unabhängig davon, ob es von seinen Schöpfer:innen zur Weltrettung vorgesehen war.

 

© Samsung

 

Auch moderne Smartphones,  wie das Samsung Galaxy Z Flip5, zelebrieren das Verschwinden der Dinge: Sie sind schon lange nicht mehr bloß Telefon, sondern mobiler Computer, Foto- und Videokamera, Spielkonsole, Navigationsgerät, Geldtasche, Taschenrechner und -lampe und Unzähliges mehr — eine erstaunliche Effizienz in Sachen Platz- und Ressourcenbedarf.

 

Und so gesehen gehen sogar unsere omnipräsenten Smartphones konsequent weitere Schritte auf dem Weg zur Reduktion. Ganz unabhängig von ihrer meist ohnehin austauschbaren physischen Erscheinung zelebrieren sie das Verschwinden der Dinge. Sie sind Telefon, Computer, Foto- und Videokamera, Taschenrechner und -lampe, Maßband, Kompass, Schlüssel, Radio, Lautsprecher, Spielkonsole, Navigationsgerät, Buch, Uhr, Kalender, Tagebuch und vieles mehr in einem. Zwar können sie das alles meist nicht so gut und selten besser als die eigens für den jeweiligen vorgesehenen Spezialisten, sind stets ein ergonomischer Kompromiss und selten die Wahl der Profis, doch holen sie erstaunlich schnell auf. Software ist leichter zu modifizieren als Hardware. Wer all diese durch das Smartphone simulierten Gegenstände entsorgt oder erst gar nicht anschafft, erreicht erstaunliche Effizienz in Sachen Platz- und Ressourcenbedarf. Es lohnt sich mal durchzusehen, welche da just right sind. Der Rest könnte dann eventuell weg?