Text und Fotografie | Martin PÜSCHEL VON STATTEN
Kaum ein Baustoff spaltet die Menschen mehr in der Frage, was »schön« sei – vom Image ganz zu schweigen, nur Asbest dürfte an stärkeren Depressionen leiden, wenn es etwas fühlen könnte. Und doch prägt seit rund 2.000 Jahren seine technologische Entwicklung die Ästhetik des urbanen Raums wie kein anderes Material. Die schier endlosen Möglichkeiten seiner Formwerdung nähren den Traum vom Überwinden der Schwerkraft und schufen seine bipolare Natur. So schenkt er uns ein grandioses Brückenbauwerk, das in zärtlicher Geste ein weites Tal überspannt. Gleich hinter der nächsten Kurve aber fräst er eine Schneise der Verwüstung durch eine barocke Altstadt, sein Korsett umarmt einen einst mäandernden Bach und degradiert ihn zur hydrodynamischen Todeszone. Beton. Dabei fing alles einmal so schön an.
INSTITUT DER WISSENSCHAFT & TECHNOLOGIE, Kiew, F. Yuryev und L. Novikov, 1971, © Martin Püschel von Statten
Grell brennt das Licht des Himmels durch ein gewaltiges Loch in der Decke, durch welches die Götter der Antike auf das ratlose Publikum schauen. Über den Staunenden wölbt sich majestätisch ein graues Firmament mit rund 43 Metern Durchmesser, fertiggestellt um das Jahr 128; in jener Zeit war Wien die römische Grenzfeste Vindobona, hinter der Barbaricum lag, und Berlin nichts weiter als die ferne Zukunft einer sumpfigen Weite voller Stechmücken. Keine Säule trägt diese Konstruktion, die erst gut 1.800 Jahre später von der Hala Stulecia (Jahrhunderthalle) im heutigen Wrocław als größter Kuppelbau der Welt abgelöst wird. Wer das Pantheon im Zentrum Roms schon einmal ehrfürchtig betrat und verstohlen meinte, diese technische Meisterleistung sähe aus wie Beton, dem sei versichert: Es ist Beton.
PANTHEON, innere Kuppel, Rom, um 128 n. Chr., © Martin Püschel von Statten
BERLIN-MARZAHNICUM
Das Pantheon in Rom ist keine Ausnahme, im Gegenteil, Beton war ein ausschlaggebender Punkt für die Expansion und den Bestand des römischen Reiches. Schnell, billig und von langer Lebensdauer entstanden Tempel, Paläste und Viadukte aus einem Baustoff, der für die damalige Zeit utopisch anmutet. So ernüchternd es für die Freunde antiker Baukunst auch klingen mag, der Grund, warum selbst das Colosseum heute noch steht, ist ein einfacher: Beton. Die Römer nutzten das Gemisch aus gebranntem Kalk, Wasser und Zusatzstoffen wie Tuff oder Ziegelbruch, um Calciumsilicathydrat herzustellen. Diesen Vorgänger des modernen Betons nannten sie Opus caementitium und verwendeten ihn bereits seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. zunächst als Mörtel. Später entstanden daraus ganze Bauwerke, »unten dick, oben dünn« lautete die Formel für die entsprechende Stabilität. Da sich im Gegensatz zu heute keine Stahlbewehrungen im Beton befanden, konnte im Inneren auch nichts rosten und schließlich in sich zusammenfallen. So stehen die beeindruckenden Bauten noch heute, Wind und Wetter können ihnen nichts anhaben, selbst in 2.000 Jahre alten Wandputzen findet sich bis in die Gegenwart nicht der kleinste Riss. Da Sichtbeton bei den Römern scheinbar nicht en vogue war, wurden die meisten Bauwerke mit verschiedensten Steinen verkleidet. Von außen wirken Theater, Arenen und Co. wie massiv gemauerte Monumente, schön, ästhetisch, bewundernswert. Alles nur Fassade. Rom ist die antike Version von Berlin-Marzahn.
Pantheon, Schnittdarstellung; James Ferguson, A History of Architecture in All Countries 3rd edition.
Ed. R. Phené Spiers, F.S.A. London, 1895 Vol. I, p. 320, Gemeinfrei auf Wikimedia Commons
Mit dem Untergang des römischen Reiches legte sich erneut die Finsternis über Europa. Die Menschen zogen sich zurück in Erdlöcher und Holzbuden, vergaßen, was Toiletten sind und entsprechend auch, dass Beton je existierte. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Beton neu entdeckt, in England, dem nördlichsten Teil des ehemaligen r.mischen Reiches. Zunächst als wasserfester Mörtel konzipiert, entwickelte sich schnell ein moderner Baustoff, aus welchem in Stampfbeton erste Bauten errichtet werden sollten. Der entscheidende Durchbruch gelang dem Franzosen Joseph Monier, der 1867 den Stahlbeton patentieren ließ. Er machte den Weg frei für die fortschreitende technologische Entwicklung des Betons, die auf Grundlage von Wasser, Sand, Zement und Stahl heute die höchsten und längsten Bauwerke der Menschheit entstehen lässt.
Betonskellet der »Segel« des SYDNEY OPERA HOUSE, Jørn Utzon, 1959 – 1973; Dr. Frank Köhler. Sydney Opera House;
GRAVITATION ALS GRENZE VON MACHT UND ANMUT
Jenseits von schnell und billig entwickelte sich Beton, ähnlich wie im römischen Reich, zum Politikum. Der geplante Umbau ganzer Großstädte zwischen Neapel und Berlin, in kleinen Teilen sogar umgesetzt, wäre ohne Stahlbeton undenkbar gewesen. Doch egal, welches politische System vorherrscht: Über betonierte Straßen rollen Panzer besonders gut, je aufregender der Bau, desto größer die Würdigung seiner Erschaffer und Financiers. Wer etwas von sich hält, baut auch dort, wo keinerlei Platzmangel herrscht, einen Phallus in die Stadtlandschaft, teuer und mächtig, bis über die Wolken. Das kriegszerstörte Europa wurde zur Spielwiese des Aufbruchs in die Moderne, in Rekordzeit wurden ganze Metropolen wieder aufgebaut, Satellitenstädte errichtet und Aufsehen erregende Prestigebauten für Verwaltung und Kultur geschaffen, die — je nach politischem Geschmack und Zeitgeist — durch ihre außergewöhnliche Eleganz oder Massivität die Überlegenheit eines Systems manifestieren sollten. Besonders gut sichtbar wird dies in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Nachdem Stalin und Zuckerbäckerstil obsolet wurden, proklamierte Moskau eine neue Ästhetik, für welche die Eigenschaften des Betons und dessen sichtbare Materialität eine herausragende Rolle spielten: Dank des Stahlbetons entstanden futuristische Bauten, grazil, freitragend und als sichtbarer Beweis für eine moderne, der Zukunft zugewandten Gesellschaft. Auch auf der anderen Seite des Planeten, etwa in Brasilien, zeugen elegante bis fast gewagte Betonkonstruktionen von progressivem Selbstverständnis. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurden ein hoher ästhetischer Anspruch und ein unerschütterlicher Fortschrittsglaube zu gebauter Realität. Ein ganz ähnliches Phänomen weisen Bauwerke für Kultur und Religion auf. Ob bei schwungvoll aufstrebenden Segeln eines Opernhauses oder für kantig-massive Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne — bewusst wurde und wird Beton als zeitgenössisches und ästhetisches Stilmittel verwendet, um einen erhabenen Raum höchster Anmut zu schaffen.
Wallfahrtsdom Maria Königin des Friedens, Neviges, Deutschland; Flickr gottfried böhm, pilgrimage church, neviges 1963 – 1972, seier+seier. Licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license
Gleichzeitig bietet die nahezu freie Formbildung des Baustoffs ein probates Mittel der Repräsentation nach innen und außen. Dem selben Prinzip folgen Regierungsbauten, die gar mit sichtbaren Betonflächen spielen. So wurde mit Brasilia eine ganze Hauptstadt in Beton gegossen, in Berlin spannt sich ein massives Band des Bundes in samtig wirkendem Sichtbeton von Ost nach West. Eine interessante Blüte trieb in den 1960er Jahren der Bau von Wohnungen für 20.000 Menschen durch die DDR in Sansibar: Im Gegenzug erkannte Sansibar die DDR als souveränen Staat an.
Neben dem Stahlbeton war die seit den 1920er Jahren verfeinerte Ferrozementbauweise Ausgangspunkt für neue Formen in der Architektur. Durch die Schalenkonstruktion entstanden gekrümmte Betonschalen, die sich selbst tragen. Anschubmotor für gebaute Utopien war die filigrane Kuppel des Zeiss-Planetariums im thüringischen Jena. Bei einer Spannweite von 25 Metern beträgt die Dicke der Schale nur 6 Zentimeter. Beton, hauchdünn und stabil wie nie zuvor, erschaffen 1926. In den folgenden Jahren, und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, erreichten die Schalen immer größere Spannweiten, vom Pavillon bis zur Kongresshalle wuchsen weltweit Raumschiff gleiche Gebilde in die Stadträume. Einer der bekanntesten Architekten sogenannter Hyparschalenbauten war Ulrich Müther, der die Städte und Gemeinden der DDR mit futuristischen Zweckbauten wie Kantinen und Ausstellungshallen schmückte. Die aufwendige Technologie der Hyparschalen birgt dabei gewissermaßen ein Paradoxum: Sie brachte eine zukunftsweisende Ästhetik in jeden Winkel des Landes, in welchem die Altstädte zusehends verfielen und die durchdacht geplanten Großwohnsiedlungen (bis zur deutschen Wiedervereinigung) vielfach eintönig gestaltet und monofunktional blieben.
RETTUNGSTURM 1, Binz, Rügen, Deutschland, Ulrich Müther, 1981; Verein Müther-Archiv, Annika Janke, Hochschule Wismar, Fakultät Gestaltung
TYPISCH INDIVIDUELL
Damit wären wir beim Plattenbau, dem Schreckensbild all jener, die heute viel Geld zahlen, um in den ehemaligen Elendsvierteln der Gründerzeit zu leben. Selbst wenn wir uns nicht aus der Schublade herauswagen, in welche wir den Plattenbau stecken … kein dystopischer Film verzichtet auf das ästhetische Stilmittel des Immergleichen und Ewiggrauen, es zieht uns in den Bann. Raster und Wiederholung üben ihre eigene Faszination auf den Menschen aus, auch deshalb darf sich der Plattenbau in die Serie bemerkenswerter Bautypen einreihen. Besonders im deutschsprachigen Raum wird der Plattenbau mehrheitlich einseitig medial begleitet, er wurde, völlig zu Unrecht, zum Symbol für Armut und Niedergang. Wenn in der Schweiz, Österreich oder Deutschland über soziale Probleme berichtet wird, erscheint immer wieder folgendes Agenturbild in den Zeitungen und Nachrichtensendungen: Kleines Mädchen in rosa Jacke sitzt traurig auf einem maroden Zaun, im Hintergrund graue Plattenbauten. Dass Millionen Menschen weltweit sehr glücklich in der »Platte« leben, wird völlig ausgeblendet. Und ja, auch Sie, liebe MünchnerInnen im Olympischen Dorf , Sie leben in der »Platte«. Genauso wie halb Paris oder Ulan Bator. Da der Begriff des Plattenbaus zu inflationär und vielfach falsch verwendet wird, bleiben wir beim Begriff Typenbau. Im Groben werden dabei nach einem Baukastenprinzip vorgefertigte Elemente zu einem Ganzen zusammengesetzt. Monotonie bedeutet das noch lange nicht, denn auch Beton ist sehr flexibel.
Les choux de creéteil »Blumenkohlsiedlung«, Créteil bei Paris, Gérard Grandval, 1969–1974, © Martin Püschel von Statten
Rund um den Globus entstanden Gebäude und Stadtstrukturen, die den nationalen Stolz auf die technischen Errungenschaften in Form typisierten Wohnungsbaus darstellen. Es entstanden Wohnhäuser, die wie Raketen zu den Sternen streben oder im Grundriss Blumen nachahmen. Einige Städte, etwa Wien und Genua, experimentierten im Typenbau mit »Wohnmaschinen», die trotz ihrer massiven Körper — und Dank der möglichen Schalungsformen des Betons — einen hohen gestalterischen Anspruch besitzen und zweifelsfrei qualitätsvolles Wohnen in teils aufregenden Bauten ermöglichen. Desweiteren wurde durch die technologischen Entwicklungen des Betons auch das Ausbilden regionaler Ästhetiken beim Massenwohnungsbau möglich, bei denen sich die Gestalt der Typenbauten etwa an der Backsteingotik oder islamischer Floralornamentik orientiert. Ganz neue Möglichkeiten beim Städte- und Wohnungsbau bietet die sich weiterentwickelnde Technologie des Infraleichtbetons (ILC). Gewöhnlich verbauter Beton muss mit einem weiteren Material gedämmt werden, das heißt, ein Gebäude besteht aus mehreren Schichten. Auch Sichtbeton wird damit nur zu einer Hülle, was weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll ist. ILC dagegen kombiniert Statik und Wärmedämmung. Sogenanntes Blähglas, das durch Aufschäumen von Altglas produziert wird, macht den stabilen Beton besonders leicht. Winzige Luftporen sorgen für die nötigen Dämmeigenschaften, da Luft ein schlechter Wärmeleiter ist. Nachdem bereits kleinere Gebäude mit ILC errichtet wurden, sind die Planungen für Hochhäuser aus dem neuen Material weit vorangeschritten. Verschiedene Institutionen und Ingenieurbüros experimentieren mit dem Einsatz speziell geformter, vorgefertigter Elemente, diese wiederum eröffnen auch völlig neue Wege beim Typenbau. Da Privates und Öffentliches in Form der Materialität zu einer Einheit verschmelzen, wird beim Infraleichtbeton die technische Innovation zur Bewährungsprobe für das ästhetische Empfinden: Sowohl im Stadtraum als auch im intimen Wohnbereich ist Sichtbeton das prägende Element.
CHEONGGYECHEON, rund 11 Kilometer langes Erholungsgebiet im Zentrum von Seoul, nach Abriss der Autobahn 2005, © Martin Püschel von Statten
BEI ALLER LIEBE …
… wir müssen reden. Darüber, dass bereits die Wälder des römischen Imperiums in jenen Kalköfen verbrannten, die den Bau antiker Metropolen erst möglich machten. Wir müssen reden über die zahllosen Strände und Flussbetten unseres Planeten, die durch Betonmischer gejagt zu Autobahnen transformiert werden oder in Form von Wolkenkratzern in den Himmel wachsen, damit die Götter nicht mehr durch ein Loch im Betondeckel ihre Schöpfung betrachten müssen. Auf Augenhöhe mit dem Universum feiert die industrialisierte Welt den Fortschritt und damit die Mär vom grenzenlosen Wachstum, die den Blick auf endliche Ressourcen versperrt. Sand ist so eine. Schon im 1. Jahrhundert v. Chr. schrieb der römische Baumeister Marcus Vitruvius Pollio nieder, dass guter Sand für das Bauen zwischen den Fingern knirschen müsse. Wüstensand tut das nicht — wohl aber solcher, der durch Raubbau zum massiven Problem für die Stabilität ganzer Küstenregionen geworden ist, selbst vor geschützten Flusssystemen macht der Bauboom nicht Halt. Die Saugrüssel speziell konstruierter Boote sorgen für den Nachschub der Baustoffindustrie, der durch Erosion unaufhaltsam die Lebensräume für Flora und Fauna in den Abgrund zieht. Und damit auch die des Menschen. Weiterer Knackpunkt ist das CO₂, denn die Zementindustrie produziert mindestens 7 Prozent des globalen Kohlendioxidausstoßes. Zum einen verheizt die Energieproduktion für das Kalkbrennen große Mengen fossiler Rohstoffe, zum anderen entsteht das Treibhausgas auch durch die chemischen Reaktionen des Zements.
Auf Beton als Baustoff werden wir bis auf Weiteres nicht verzichten können. Vor allem die junge Generation ist gefragt, die vorherrschende Politik öffentlich infrage zu stellen: Antworten bieten der verstärkte Materialmix, ausschließlich recyclebare Dämmstoffe und die Förderung des Holzbaus. Holz ist sehr haltbar und flexibel, es ist ein nachwachsender Rohstoff, bindet große Mengen CO₂ und kann wiederverwendet werden. Beton sollte nur dort eingesetzt werden, wo er wirklich nötig ist, etwa im Gebäudekern und bei Brückenkonstruktionen. Neue Techniken lassen innovative Typenelemente und mittlerweile sogar Hochhäuser aus Holz entstehen. Der Ästhetik schadet das nicht, da auch Holz sich vielen Formen anpasst, über die entsprechende Fassadengestaltung bleibt die Individualität eines Baukörpers gewahrt. Die Städte werden weiter wachsen — mit dem vermehrten Einsatz natürlicher Baustoffe können wir dazu beitragen, qualitative Architektur und ökologisches Bauen in Einklang zu bringen.
Gebaut mit allem, was da war: ROMA-VILLA, Soroca, Moldawien, © Martin Püschel von Statten