Text Max Montre
Das Element Silizium, unverzichtbar bei der Herstellung von Hightech-Komponenten in der Computerindustrie, hat in den vergangenen etwas mehr als zwanzig Jahren auch die Uhrenwelt erobert. Mit dem Halbmetall taten sich ungeahnte Möglichkeiten auf, die die mechanische Uhr auf ein vollkommen neues Level hoben und an jahrhundertealten Prinzipien rüttelten.
Sie waren eindeutig ihrer Zeit voraus und läuteten gleichzeitig eine Zeitenwende ein: Rolf Schnyder, damals Besitzer der Uhrenmarke Ulysse Nardin, und der Uhrmacher Ludwig Oechslin. Das geniale Gespann präsentierte 2001 eine wilde Schöpfung inmitten einer konservativen Uhrenwelt voller Konventionen, eine die ohne Ziffernblatt, Zeiger oder Krone auskam. Für Schnyder war klar, dass nur ein Name für diese Kreation in Frage kam: Freak. Denn der Zeitmesser stach ob seiner optischen und technischen Eigenschaften aus der Masse der Uhren hervor (und tut es heute noch) — ein ikonoklastischer Akt uhrmacherischer Kühnheit. Sein Design entspringt der Idee eines Zeitmessers, der gleichzeitig eine kinetische Skulptur ist, deren Hauptzweck: einen emotionalen, künstlerischen Ausdruck der Zeit zu vermitteln.
Beim Design ging die Freak eigene Wege: Herkömmliche Zeiger, Ziffernblatt oder Krone sucht man hier vergeblich.
Die Uhr, deren Design einem Science-Fiction-Film entsprungen schien, war in zweierlei Hinsicht wegweisend. Zum einen war die Freak die erste Uhr überhaupt, bei der sich das Werk dreht, um die Zeit anzuzeigen. Das Federhaus, der Tank der Uhr, in dem sich die mächtige Triebfeder befindet, dreht sich einmal alle zwölf Stunden. Es ist mit einem zentralen Zahnrad verbunden, das die Brücke mit dem Räderwerk um den Umfang des Zifferblatts mit einer Umdrehung pro Stunde antreibt — das sogenannte fliegende Ein-Stunden- Karussell. Im Mittelpunkt stand dabei die völlig neue, von Ludwig Oechslin erfundene Hemmung, ein Doppelrad- Werk mit Direktantrieb, die wie die Spiralfeder und die Unruh am Ende der Brücke angebracht ist. Das System pulsiert vor den Augen der Betrachter:innen wie ein schlagendes Herz.
NOCH EINE WELTPREMIERE
Beim Blick auf dieses Herz fällt auf, dass es blau-violett schimmert. Was zum zweiten wegweisenden Punkt führt: Man setzte zum ersten Mal ein Material ein, das davor in der Uhrmacherei noch keine Rolle gespielt hatte, einem breiteren Publikum allenfalls aus der Computerchip-Herstellung bekannt war — Silizium. Zwei stecknadelgroße Rädchen der neuartigen Hemmung bestanden aus diesem Werkstoff. Dazu merkte der 2011 verstorbene Rolf Schnyder an: »Ich brauchte etwas, mit dem ich die Konkurrenz überflügeln und eine führende Rolle in der neuen Technologie einnehmen würde. Als ich Silizium sah und sein wahres Potenzial für die Uhrmacherei erkannte, wusste ich, dass dies unsere Chance war.«
Das Werk der Freak dient gleichzeitig der Zeitangabe.
Von welchem Potenzial ist die Rede? Als Element der Kohlenstoffgruppe, Kürzel Si, Ordnungszahl 14, ist das Material fest und dennoch biegsam, leicht, rostfrei, höchst langlebig und beständig gegenüber Temperaturschwankungen, welche einen starken Einfluss auf die Ganggenauigkeit haben. Außerdem benötigen Siliziumteile keine Schmierung, um reibungslos zu funktionieren. Ein ideales Material also, um vor allem auch dem modernen Gott-seibei-uns der Uhrmacher:innen ein Schnippchen zu schlagen, dem Magnetismus. Der ist heute immerhin für mehr als 90 Prozent der Serviceprobleme verantwortlich. Wird eine herkömmliche mechanische Uhr einer magnetischen Quelle ausgesetzt, verändert diese den Rhythmus des Werks, die Uhr geht falsch und muss in die Werkstatt.
ZUM SCHLAGEN BRINGEN
Die Fachwelt und die Konkurrenz reagierten zunächst eher zurückhaltend auf diese materialtechnische Neuerung. Erst als Ulysse Nardin kurz darauf auch eine erste Unruhspirale aus Silizium lancierte, kam Bewegung in die Sache. Große Player wie Rolex, Patek Philippe und die Swatch Group machten sich schleunigst daran, den Rückstand aufzuholen. Dazu aber später.
Patek Philippe, Aquanaut Luce Jahreskalender Referenz 5261R-001, 2023
Zunächst gilt es die Frage zu klären, warum so viel Aufhebens um dieses winzige, nur wenige Gramm schwere Bauteil gemacht wird? Nun, es ist die Spiralfeder, die das Herz der Uhr zum Schlagen bringt. Es ist wohl kein Zufall, dass eine stilisierte riesige Unruhspirale den Eingang der Patek-Philippe-Zentrale in Genf überragt. Sie ist der wichtigste Part, wenn man die Präzision der mechanischen Zeitmessung verbessern will. Spiralig aufgerollt und deutlich dünner als ein menschliches Haar, ist sie mit dem Unruhreifen verbunden, zieht sich zusammen und dehnt sich wieder aus. Die Gleichmäßigkeit dieser Schwingung, auch Frequenz genannt, gewährleistet schließlich die Ganggenauigkeit der Uhr.
GENIALES SYSTEM
Ihre Geschichte geht weit zurück. Bis ins Jahr 1675. Zu dieser Zeit arbeitet der niederländische Physiker Christiaan Huygens an der Optimierung des Unruh-Spiralsystems und stellt dabei fest, dass ein gleichmäßiger Takt des Zeitanzeigers nur mithilfe einer flexiblen spiralförmigen Feder möglich ist. Denn die schafft es, die Schwingung der Unruh zu bremsen, indem sie sie zurückzieht und in die entgegengesetzte Richtung ausschwenken lässt. Es ist ein geniales System, das der Gelehrte da entwickelt, eines dessen Grundprinzip in so gut wie jedem mechanischen Uhrwerk bis heute zu finden ist.
In der Aquanaut Luce Jahreskalender Referenz 5261R-001 von Patek Philippe, werkt ein neues automatisches Kaliber, dessen Spirale aus »Spiromax« besteht. Material der Wahl ist Silizium.
Viele großartige Uhrmacher:innen haben seither zur Verbesserung dieses so essenziellen Bauteils beigetragen. Der berühmteste ist Abraham Louis Breguet. Ihm gelang es 1796 die Präzision der Spirale durch das Umbiegen der äußersten Windung zu steigern. Den Begriff »Breguet-Spirale« findet man heute noch vielfach in den einschlägigen, technischen Beipackzetteln moderner Uhren. Dem französischen Mathematiker Eduard Philips wiederum gelang es ein paar Jahrzehnte nach Breguet die perfekte Biegung der Spirale zu berechnen.
PERFEKTES MATERIAL
Die Spirale selbst leistet Schwerarbeit. Sie führt jährlich mehrere hundert Millionen Schwingungen aus. Das geht an die Substanz. Das Teil ist verschleißanfällig und empfindlich gegenüber Temperatur und Magnetismus. Trotz dieser verschiedenen äußeren Einwirkungen — Erschütterungen und Luftdruckschwankungen wären noch zu nennen — sollen die Schwingungen von Unruh und Unruhspirale aber möglichst gleich, man sagt »isochron«, ablaufen.
Rolex 1908: »Syloxi«-Siliziumspirale
Um das zu gewährleisten, wurde auch schon früh über das perfekte Material nachgedacht. Verschiedene Metalllegierungen sind es heute üblicherweise — vor allem das marktbeherrschende »Nivarox« der zur Swatch Group gehörenden Nivarox-FAR sei hier zu erwähnen, das seit den Dreißigern für die notwendige Präzision und Verlässlichkeit sorgt. Wenn auch mit Abstrichen.
REIBUNGSLOS BESSER
Prinzipiell könnte die Geschichte an dieser Stelle zu Ende sein, wäre da nicht wie bereits erzählt, 70 Jahre nach Erfindung von Nivarox eine kleine Luxusuhrenmanufaktur mit Silizium um die Ecke gekommen, hätte damit nicht eine neue Ära des mechanischen Uhrenbaus eingeläutet und hätte nicht die Konkurrenz aufgescheucht. Und so schlossen sich die Uhrengiganten Rolex, Patek Philippe und die Swatch Group mit dem Centre Suisse d’Electronique et de Microtechnique (CSEM) in Neuenburg zu einer ungewöhnlichen Allianz zusammen, um ein Produktionsverfahren für Siliziumspiralen zu entwickeln. Den Mikrotechnologen gelang es sogar ein Problem zu lösen, vor dem auch das Halbmetall Silizium nicht gefeit ist — der Temperaturempfindlichkeit. Ein Umstand, der sich nicht unbedingt positiv auf die filigrane Struktur einer Spiralfeder auswirkt. Die Lösung ward in Form einer dünnen Siliziumoxid-Schicht gefunden, die schließlich zu einer deutlich höheren Temperaturresistenz des Bauteils führte.
Patek Philippe stürmte voran und präsentierte 2006 mit der Referenz 5350 seine erste funktionierende Serienuhr mit einer Spiralfeder aus monokristallinem Silizium, genannt »Spiromax«. Die Manufaktur hat das erste Ankerrad aus Silinvar, einem Siliziumderivat, bereits 2005 lanciert, gefolgt von der »Spiromax«-Spirale (2006), der »Pulsomax«-Hemmung (2008), dem »Oscillomax«- Regelassortiment (2011) und einer weiter optimierten Ausführung der »Spiromax«-Spirale (2017). Man ist dem Element seither treu geblieben. So werkt etwa in der Aquanaut Luce Jahreskalender Referenz 5261R-001, dem ersten Jahreskalender in der Aquanaut Kollektion, der heuer auf der Watches & Wonders vorgestellt wurde, ein neues automatisches Kaliber, dessen Spirale aus »Spiromax« besteht.
1908 — 2023
Auch bei Rolex fand man einen griffigen Namen für den erforschten Werkstoff, »Syloxi«. Man setzt dessen temperaturausgleichende und paramagnetische Eigenschaften in der Syloxispirale ein. Überdies hat Rolex durch eine selbstentwickelte patentierte Geometrie den Isochronismus der Spiralfeder und die Regelmäßigkeit der Oszillatorschwingungen optimiert. Die Herstellung der Syloxispirale erfolgt vollständig im Hause Rolex unter Einsatz eines Hochpräzisionsfertigungsverfahrens, des sogenannten reaktiven Ionentiefenätzens (DRIE, Deep Reactive Ion Etching), mit dem die Bauteile aus der Silizium-Scheibe, dem sogenannten Wafer, herausgeätzt werden. Ein Verfahren, das nicht nur bei Rolex zum Einsatz kommt.
Die Syloxispirale wurde 2014 mit dem Kaliber 2236 eingeführt, dem Erstling einer neuen Generation von Rolex Uhrwerken. Dieses Kaliber besitzt ein paramagnetisches Hemmungsrad in einer Nickel-Phosphor-Legierung, die die Unempfindlichkeit gegenüber Magnetfeldern verbessert, und eine Zugfeder aus eigener Entwicklung, die es gestattet, die Gangreserve auf circa 55 Stunden zu erhöhen und eine konstantere Energieversorgung des Uhrwerks zu gewährleisten.
KLEINES WUNDER
Für die brandneue Linie 1908 entwickelten die Ingenieur:innen von Rolex das Kaliber 7140. Ein vollkommen neues Uhrwerk mit automatischem Aufzug, zwei Zeigern im Zentrum und kleiner Sekunde auf der 6-Uhr-Position. Für dieses vollständig von Rolex entwickelte und hergestellte schlanke Uhrwerk wurden fünf Patentanmeldungen eingereicht. Dank der Syloxi- Spirale, der Chronergy-Hemmung und des Paraflex-Antischocksystems wartet es mit einer Gangreserve von circa 66 Stunden auf. Selbstverständlich handelt es sich dabei, wie bei Rolex üblich, um ein äußerst präzises Chronometer der Superlative. Dabei springt einen die 1908, benannt nach dem Jahr in dem der Markenname in der Schweiz vom Gründer Hans Wilsdorf offiziell eingetragen wurde, nicht unbedingt an. Mit den Ziffern 3, 9, 12 und der kleinen Sekunde auf der 6-Uhr-Position interpretiert die 1908 den Stil der Oyster Perpetual von 1931 neu und versieht ihn mit einer modernen Note. Ihr Design ist klassisch-zurückhaltend.
Komplett neue Linie: Die 1908 ist die erste Uhr von Rolex, die einen Sichtboden aufweist und den Blick auf das Werk freigibt. So kommt man in den Genuss die Schönheit der Veredelungen des Uhrwerks bewundern zu können — und das Atmen der »Syloxi«-Siliziumspirale.
Dreht man den Ticker um, dann erlebt man allerdings ein kleines Wunder: Rolex hat der 1908 einen transparenten Saphirglasboden verpasst, was sehr ungewöhnlich ist, sonst werden die Werke gut verschraubt hinter einem Deckel versteckt. Aber so kommt man in den Genuss die Schönheit der Veredelungen des Uhrwerks bewundern zu können — und das Atmen der Siliziumspirale.
KONKURRENZ ABGEHÄNGT
Fehlt noch der Dritte im Bunde: Omega. Schon 1999 hatte man mit der vom britischen Uhrmacher George Daniels erdachte und von Omega entwickelte Co-Axial Hemmung das jahrhundertealte Problem der Reibung, die langfristig die Ganggenauigkeit beeinträchtigen kann, gelöst. Diese spezielle Hemmung vermindert Kontaktflächen und benötigt weniger Schmierung. 2008 kommt die Si14-Spiralfeder für die Co-Axial Hemmung ins Spiel — mit all ihren positiven Eigenschaften. Es folgten weitere Entwicklungsschritte bis man heuer das Spirate-System vorstellte, eine neue, zum Patent angemeldete Silizium-Spiralfeder, die eine ultrafeine Gangregulierung ermöglicht. Mit diesem innovativen Mechanismus kann Omega jetzt ein außergewöhnliches Versprechen einlösen: zertifizierte Präzision von 0/+2 Sekunden pro Tag. Damit zieht man an der Konkurrenz vorbei.
DAS ENDE?
Das Spirate-System, Teil des Co-Axial Master Chronometer Kaliber 9920, ist in der neuen Speedmaster Super Racing zu finden. Das Modell ist eine Verneigung vor der Omega Seamaster Aqua Terra von 2013, die mit ihrer magnetischen Resistenz von bis zu 15.000 Gauss beeindruckte. Der Marktmacht der Swatch Group ist es jedenfalls auch zu verdanken, dass auch Normalverdiendende in den Genuss der Vorteile von Silizium gelangen können. Man findet Bauteile auch in den Uhren unter anderem von Tissot oder Mido, jenen Marken, die preislich im »Einstiegssegment« zu finden sind.
Speedmaster Super Racing von Omega: Deren »Spirate« getauftes System dreht sich um eine neue, zum Patent angemeldete Silizium-Spiralfeder, die eine ultrafeine Gangregulierung ermöglicht.
Fragt man, ob bei dem Thema endgültig das Ende der Fahnenstange erreicht sei, lautet die Antwort nein. Zwei Marken haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass man mit Silizium noch einen Schritt weitergehen kann. So weit, dass Puristen schon befürchten, die Kreationen könnten gar nichts mehr mit klassischen mechanischen Uhren zu tun haben. Siliziumbauteile hatte man ja schon irgendwie akzeptiert, aber dass es jemand wagen könnte, das System »Unruh samt Spiralfeder und Anker plus Ankerrad« — wir denken an Huygens — als solches in Frage zu stellen, da mussten einige schon schlucken.
FORSCHUNG & ENTWICKLUNG
Da ist zum Beispiel Guy Sémon. Der Naturwissenschaftler näherte sich dem Thema aus einer gänzlich neuen Richtung und vollkommen anders, als Uhrmacher:innen dies getan hätten. Sémon war schnell klar, dass eine bloße Optimierung des bestehenden Grundprinzips nach Huygens nicht die Lösung sein kann. Die technischen Möglichkeiten des Huygens-Prinzips waren schlicht ausgeschöpft. Er stellte es daher konsequent infrage und fand vollkommen neue Wege, mit modernen Technologien und neuen Materialien Uhren zu bauen.
Über die Forschungsabteilung von TAG Heuer, wo er sich einen Namen machte, führte sein Weg in die LVMH Watch Division, wo er CEO des Forschungsinstituts wurde und im September 2017 die Defy Lab von Zenith vorstellte. Die Marke gehört ebenso wie TAG Heuer zum größten Luxuskonzern der Welt. Der neuartige Gangregler der Defy Lab besteht aus nur einem einzigen Stück monokristallinem Silizium (mit Anteilen, die dünner als ein menschliches Haar sind) und ersetzt in einem Aufwasch Unruh samt Spiralfeder und Anker.
PERFORMANCE
Die über 30 Einzelteile des üblichen Regulierorgans einer mechanischen Uhr werden bei der Defy Lab durch ein einziges, nur einen halben Millimeter hohes Bauteil ersetzt. Zum Vergleich: Die Bauhöhe eines herkömmlichen Regulierorgans beträgt etwa fünf Millimeter. Mechanische Verbindungen verschiedener Bauteile fallen einfach weg, was nachteilige Effekte wie Reibung, Abnutzung und Spiel zwischen den Bauteilen, die Notwendigkeit zur Schmierung sowie eine aufwendige Montage vollständig beseitigt. Auch das Ankerrad besteht aus Silizium. Dabei schwingt der neue Gangregler mit der sehr hohen Frequenz von 15 Hertz. Das neue Kaliber namens ZO 342 erreicht dadurch offenbar eine Ganggenauigkeit, die es bisher bei einer mechanischen Uhr nicht gegeben hat. Magnetfelder und Temperaturschwankungen sollen die Performance nicht mehr beeinflussen.
Der Sekundenzeiger der Defy Lab zieht ohne Ruckeln über das Zifferblatt, Ticken ist keines zu hören. Die gleich mäßige Bewegung der Unruh ist nicht mehr zu sehen, es sieht vielmehr so aus, als würde die Uhr als Ganzes vibrieren. Dabei schwingt der Gangregler mit einer sehr hohen Frequenz von 15 Hertz. Das sind 108.000 Halbschwingungen pro Stunde. Folgt man der Faustregel »je schneller, desto präziser«, dann ist das schon sehr beeindruckend. Zenith brachte ein Jahr später die Defy Inventor mit 18 Hertz heraus, also eine noch rasantere, präzisere Uhr. Seither war es allerdings eher still geworden rund um das Thema.
EIN MONOLITH
Bis Frederique Constant 2021 mit einer Neuentwicklung um die Ecke kam. Die Genfer Manufaktur, seit 2016 Teil des Citizen-Konzerns, stellte die Slimline Monolithic Manufacture vor. Eine auf den ersten Blick gewöhnliche Uhr, deren Besonderheit im typischen Blau von Silizium schimmert. Das Teil ist ein neuartiges Regulierorgan. Frederique Constant war es mithilfe von Spezialist:innen im niederländischen Delft gelungen, ebenfalls einen Silizium- Oszillator aus einem Guss, daher der Name »monolithic«, in die Uhr zu bringen. Aber im Gegensatz zu seinem Konkurrenten aus Le Locle, dessen Durchmesser verhältnismäßig viel Platz im Uhrwerk einnimmt, ist jener der Genfer so klein, dass er sich anstelle der klassischen Hemmung in ein Automatikwerk implementieren lässt. Sein Durchmesser beträgt nur 9,8 Millimeter bei 0,3 Millimeter Höhe.
Frederique Constant stellte 2016 die Slimline Monolithic Manufacture vor. Bei 6 Uhr sieht man ein neuartiges Regulierorgan.
Die Kennzahlen der Hemmung, an der zwei Jahre geforscht wurde, sind beeindruckend: das Herz der Monolithic Manufacture schwingt mit einer Frequenz von 40 Hertz, also 288.000 Halbschwingungen pro Stunde. Nicht schlecht, brachte aber ein Problem mit sich: Ein traditionelles Räderwerk ist nicht in der Lage, die Geschwindigkeit eines 40-Hertz-Regulators zu bewältigen. Also musste ein neues Uhrwerk her, das man Kaliber FC-810 taufte. Für die Messung der Ganggenauigkeit musste man auf Highspeedkameras zurückgreifen, die 250.000 Bilder pro Sekunde aufnehmen können. Unterm Strich geht Frederique Constant den Weg, der von Zenith — und anderen davor — beschritten wurde, konsequent weiter. Offenbar mit Erfolg: Die Monolithic Modelle sind derzeit ausverkauft.
Es stellt sich die Frage, was die Schweizer Tüftler:innen noch unternehmen, um die Grenzen des physikalisch Möglichen auszureizen. Und welches Element vielleicht einmal die Nachfolge von Silizium einnehmen wird.
ARTIKEL ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №VIII »ELEMENTS« – SOMMER 2023