Dieter Rams

Ein Mann mit Prinzipien

Text Anna Sinofzik

Die Geschichte der Rams’schen Reduktion beginnt ausgerechnet in Zeiten des Aufschwungs. Seine ersten Produkte entwarf der Designer in den 50ern, als die deutsche Wirtschaft nach langen Jahren von Knappheit und Verzicht wieder boomte. Es herrschte Aufbruchsstimmung, die Auslagen in den Läden, das Leben überhaupt, wurde bunter. Ein bisschen zu bunt, für Rams’ Geschmack. Seiner Ansicht nach sollten Gebrauchsgegenstände dezent sein; gutes Design verstand er schon früh als gestalterische Annäherung an eine bessere Welt, in der es weniger Unnützes gäbe, dafür mehr Sinn und Verstand. Funktional, aufgeräumt und betont unbunt verbessern seine Entwürfe seit etlichen Jahrzehnten unseren Alltag. Aber selten erschien der gedankliche Ansatz dahinter so wahr und wichtig wie jetzt.

 

Der 2018 erschienene Dokumentarfilm »Rams« von Gary Hustwit gewährt einen seltenen und persönlichen (Ein-)Blick auf die Arbeit und die Person Dieter Rams. © Anne Brassier

 

In den späten 1970ern zweifelte Dieter Rams, der im Ausland derzeit gern mal »Mister Braun« genannt wurde, zunehmend an der Verstandeskraft der sogenannten Wohlstandsgesellschaft. An der typischen deutschen Küchenwand klebten damals Prilblumen auf farbigen Kacheln, mancher Türrahmen war mit plüschigen Troddeln behängt. Wahrscheinlich stand auch irgendwo ein Gerät der Firma Braun. Die elektrische Zitruspresse MPZ 21 zum Beispiel, oder das Radio Tischsuper RT 20. Der Mann, der Letztere entworfen hat, sah derzeit jedoch vor allem die »undurchschaubare Verwirrung von Formen, Farben und Geräuschen«, die er auf die wachsende Unvernunft des jungen Verschwendungszeitalters zurückführte. Der neue Wohlstand hatte in Rams’ Augen eine recht ungute Gestalt angenommen.

Tatsächlich hatte das Wirtschaftswachstum, das in den Nachkriegsjahren so notwendig wie identitätsstiftend gewesen war, gegen Mitte der 70er einen Sättigungsgrad erreicht, der hier und da zu einem gewissen dekorativem Übermut führte. Der Lebensstandard, den sich die Deutschen gewünscht hatten, war weitestgehend gesichert, das Wachstum begann zum Selbstzweck zu werden. Vor diesem Hintergrund verfasste Dieter Rams 1978 seine berühmten zehn Thesen. »Gutes Design«, lautet die wohl meistzitierte, »ist so wenig Design wie möglich«.

Gestalterisch hatte sich Rams dem Wunsch nach Mehr damals längst widersetzt — auch, weil er wusste, dass er auf Dauer nicht tragbar ist. Für die Firma Braun arbeitete der gelernte Architekt bereits seit Mitte der Fünfzigerjahre, ab den frühen Sechzigern entwarf er zudem gelegentlich Möbel für den damals noch in Dänemark ansässigen Hersteller Vitsoe. Die Prinzipien, die er in seinem Zehnpunkteplan für gutes Design formulierte, hatten in zahlreichen Produkten also bereits jene reduzierte Form angenommen, die uns bis heute nicht nur zeitlos, sondern extrem zukunftsweisend erscheint.

 

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Eines der ersten von Rams entworfenen Geräte war der Phonosuper SK40, 1956 — ein Radio mit integriertem Plattenspieler, das wegen seiner weißen Farbe und Plexiglas- abdeckung »Schneewittchensarg« genannt wurde. © P&G/Braun

 

Designgeschichte auf einen Blick — bis heute stilprägend sind die strukturierten Bedienelemente auf der Oberseite und eine klare Front, die maßgebend für eine intuitive Bedienung waren. © Creative Commons

 

Wer sich in der reizüberfrachteten Jetztzeit ein Braun Produkt von damals anschaut oder Herrn Rams reden hört, der kommt nicht umhin sich zu fragen, wie die Dinge eigentlich so lange schieflaufen konnten, wie sie vor allem weiterhin so schieflaufen können, wo man es doch im Grunde längst besser weiß. »Design leistet einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Umwelt. Es bezieht die Schonung der Ressourcen ebenso wie die Minimierung von physischer und visueller Verschmutzung in die Produktgestaltung ein.« Auch das schrieb Rams in den Siebzigerjahren. Inzwischen steckt die Welt in einer Klimakrise, die droht, zur Zerreißprobe zu werden. Sätze wie »was wir brauchen ist kein weiteres Wachstum, sondern eine Debatte über Qualität«, hört man mittlerweile häufiger, meist weniger von Designern, als von Wissenschaftlern. Warum, fragt man sich auch, muss es erst brenzlig werden, damit wir Rams’ Maxime »Weniger, aber besser« nicht mehr bloß als Designprinzip loben, sondern beginnen, entsprechend zu leben?

Rams wuchs in Kriegszeiten in Wiesbaden auf und verbrachte viel Zeit in der Schreinerwerkstatt seines Großvaters. Als er in den frühen Fünfzigerjahren sein Architekturstudium abschloss, befand sich die Gestaltungsbranche in einer Phase der Neuorientierung. Natürlich waren die Jahre des Wirtschaftswachstums auch Jahre des technologischen Wandels. Während die Masse der Menschen nach der langen, entbehrungsreichen Zeit zunächst die Abundanz an Waren genoss, wollte die Avantgarde, wie immer, anders sein, vor allem moderner. Die Firma Braun, deren Designabteilung derzeit von Fritz Eichler geleitet wurde, galt in puncto Produktentwicklung als besonders fortschrittlich. Zwar produzierte sie noch wuchtige Radios, die wie Möbel aussahen. Aber Eichler und sein Team suchten nach einer neuen Formensprache und unterhielten enge Kontakte zur Hochschule für Gestaltung in Ulm, wo man gerade begonnen hatte, die Ideale des Bauhauses wiederzubeleben, weiterzuentwickeln und neu zu interpretieren.

Dieter Rams kam nach einer ersten festen Anstellung im Frankfurter Architekturbüro von Otto Apel eigentlich als Architekt zur Firma Braun. Sein Entwurf für einen Gebäudeaufbau aus Glas, den er den Brüdern Braun auf eine Stellenausschreibung zur Umgestaltung ihrer Unternehmensräume präsentierte, entsprach in seiner klaren, modularen Konstruktionsweise denselben modernen Designprinzipien, die man in Brauns Designabteilung verfolgte. Letztere arbeitete damals bereits mit renommierten Gestaltern wie Otl Aicher und Hans Gugelot zusammen, die beide in Ulm lehrten. Als Rams nach seinem erfolgreichen, architektonischen Probeauftrag seine Arbeit im Unternehmen aufnahm, zeigten ihm die Brüder Braun erste Prototypen für ein von Gugelot entworfenes Radio, das bald auf den Markt kommen sollte. Von da an wollte er keine Gebäude oder Räume mehr gestalten, sondern Produkte.

 

Seit Mitte der Fünfziger arbeitete der gelernte Architek bei der Firma Braun, ab den frühen Sechzigern entwarf er zudem gelegentlich Möbel für den damals noch in Dänemark ansässigen Hersteller Vitsœ (im Bild: Vitsœ Shop in Frankfurt, 1971) © Vitsœ und Ingeborg Kracht-Rams

 

»Erwin Braun sagte immer, das müsse alles noch besser gemacht werden«, erinnert sich Dieter Rams in einem Interview. Eins der ersten Geräte, das er entwarf, war der Phonosuper SK4, ein Radio mit integriertem Plattenspieler, das Designgeschichte schreiben sollte — als »Schneewittchensarg«, weil es so ungewohnt weiß war und eine Plexiglasabdeckung hatte, die es dem Designer erlaubte, alle Bedienelemente auf der Oberseite anzuordnen, womit die Front frei bleiben konnte. Gutes Design musste für Rams schon damals aufgeräumt und klar genug strukturiert sein, um eine intuitive Bedienung zu garantieren.

Dem SK4 folgten eine Reihe von HiFi und Haushaltsgeräten. Zum Beispiel Lautsprecher mit Metallabdeckung, die den Spitznamen »Hasenställe« bekamen, Musikliebhaber jedoch schnell durch ihren klaren Klang überzeugten. (Dass man Boxen bisher mit Stoff bezogen hatte, der die Akustik verfälschte, war dem Jazzfan Rams absurd vorgekommen.) Bald stand der Name Braun weltweit für Design, das bestehende Konstruktionsweisen hinterfragte, Form neu definierte und Objekte zugunsten ihrer Funktionalität optimierte.

Um die Gesamtkonstruktion und damit den Gebrauchswert eines Produktes zu verbessern, arbeitete Dieter Rams stets eng mit Brauns Ingenieuren zusammen. Für den tragbaren Plattenspieler und Transistorempfänger T1, den der Designer selbst gern als »ersten Walkman« bezeichnet, bat er sie auszuprobieren, ob sich eine Schallplatte nicht auch von unten abspielen lasse, um den Tonarm schützend ins Produkt integrieren zu können. Das bedurfte einiger Tüftelei, aber es funktionierte. »Innovatives Design entsteht stets im Zusammenschluss mit innovativer Technik und ist niemals Selbstzweck«, heißt es in der ersten Rams’schen These.

Natürlich gibt es auch andere bedeutende Designer, die dazu beigetragen haben, dass Braun zur Kultmarke wurde und als Teamplayer wird Rams nicht müde, ihre Namen zu nennen. Gerd Müller, Richard Fischer und Reinhold Weiß zum Beispiel. Oder Dietrich Lubs, der die grafische Benutzeroberfläche des Taschenrechners ET 66 gestaltet hat. Aber vor allem Dieter Rams ist zum Gesicht der Marke geworden. Dass er medial und als Mensch gut ankam, wussten schon die Brüder Braun. Rams selbst bestätigt es mit raren, dafür umso sympathischeren Auftritten immer wieder.

Zu Beginn des jüngsten Films über ihn, einer Dokumentation von Gary Hustwit, die 2016 erschien, tippt der Designer ein paar neue Gestaltungsgrundsätze in seine erstaunlich rote Olivetti Schreibmaschine: »Die Zeiten des gedankenlosen Designs für gedankenlosen Konsum sind vorbei. Wir müssen dies mit zunehmender Nüchternheit und hoffentlich mit steigender Wachsamkeit und Rationalität zur Kenntnis nehmen.« Auf seinem Schreibtisch liegen Bücher in sauberen Stapeln, ganz oben auf: The Age of Less des Konsumforschers David Bosshart, der darin für eine Form des Wohlstands wirbt, die von Genügsamkeit geprägt ist. Man weiß nicht, ob Rams das Buch selbst gekauft hat, oder der Autor es ihm geschickt hat, als Dank für all die Anregungen. Solche Präsente bekommt Rams nämlich öfters. Ex-Apple Chefdesigner Jonathan Ive, der ihn immer wieder als Vorbild nennt, hat ihm mal einen iPod geschenkt, dessen Benutzeroberfläche sichtlich von Brauns Radio T3 aus dem Jahr 1958 inspiriert ist. Rams freut sich über die Resonanz seiner Gestaltung, auch wenn er selbst kein Fan digitaler Geräte mit ihren rasanten Produktzyklen ist. Irgendjemand hat ihn mal »Großvater des Apple Designs« genannt, und auch wenn das sicher nett gemeint war, wird es seinem Ansatz nicht gerecht. »Gutes Design ist langlebig« ist der siebte, wichtige Punkt seiner Thesen.

 

Das Sesselprogramm 620 ist ein modulares System, das sich nach Belieben zusammensetzen und erweitern lässt — 1962 von Rams für Vitsœ entworfen. © Vitsoe

 

Entworfen im Jahr 1962 war Tisch 621 eine Serie, die vom Designer selbst als »ein System von Flächen« zur universellen Nutzung gesehen wurde. © Vitsoe

 

In seinem Haus im hessischen Kronberg, das er Ende der 60er selbst gestaltet hat und 1971 bezog — mit seiner Frau Ingeborg, die er bei Braun kenngelernt hat, wo sie als Fotografin arbeitete — legt Dieter Rams also weiterhin Platten auf den SK 4 und tippt Texte in die alte Olivetti Valentine. Generell hat sich in dem Doppelbungalow, der seit 2016 samt Interieur als »Zuhause des Guten Designs« unter Denkmalschutz steht, seit den Siebzigerjahren wenig verändert. »Natürlich wohnen wir mit Vitsoe Möbelsystemen«, erklärte Rams mal in einer Monografie. »Zum einen einfach deshalb, weil ich immer nur die Möbel entworfen habe, die ich auch selber haben wollte. Zum anderen, um sie im täglichen Gebrauch kennenzulernen und Ansatzpunkte für Weiterentwicklung und Verbesserung zu erkennen.« Für Vitsoe ist der bald Neunzigjährige bis heute als Berater aktiv.

Was die Gegenwart und ihre Gestaltung betrifft, gibt er sich gewohnt skeptisch, äußert sich immer wieder verständnislos über unnötige Produkte und Menschen, die lieber auf die Screens ihrer digitalen Endgeräte blicken, als sich gegenseitig in die Augen zu sehen. Design ist seiner Ansicht nach zu einem bedeutungslosen Buzzword verkommen, während wir das, was wirklich wichtig ist, zunehmend aus dem Blickfeld verlieren. Natürlich ist Produktgestaltung im Rams’schen Sinn untrennbar mit der kulturellen Entwicklung im großen Ganzen verbunden. »Alles ist voneinander abhängig. Wir müssen gründlicher darüber nachdenken, was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun«, sagt er in Hustwits Dokumentarfilm.

Und: Wenn er seine Karriere noch mal von vorn beginnen könnte, würde er kein Designer mehr werden. Dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt, ist in diesem Fall großes Glück. Im Grunde wissen wir es doch alle: Die Welt braucht keine Entrümpelungsratgeber, keine Achtsamkeitsworkshops, und vor allem nicht schon wieder eine neue Nachfolgergeneration unserer funktional bereits völlig überfrachteten Smartphones. Sie braucht einfach bloß mehr Menschen wie Dieter Rams.