Die Baukünstlerin

Annabelle Selldorf | Coverstory Chapter №VIII

TEXT Sarah Wetzlmayr | Fotografie ralph mecke | COVERSTORY CHAPTER №VIII »ELEMENTS« – SOMMER 2023

Annabelle Selldorfs beinahe drei Jahrzehnte umfassenden Erfahrungsschatz sollte man sich als umfangreiches Vokabelheft und nicht als Formelsammlung vorstellen. Dass darin kein Platz für Zierzeilen ist, bedeutet allerdings nicht, dass sich ihre architektonische Handschrift nicht hin und wieder leicht verändert. Der Wunsch nach Kontinuität verbindet sich bei der international gefragten Architektin stets mit einer großen Portion Neugierde.

Annabelle Selldorfs Architektur entsteht an der Kreuzung von Rationalität und Intuition. An einem Punkt, an dem Neugierde und Kontinuität aufeinandertreffen, jedoch niemals unkontrolliert aufeinanderprallen. Sie entsteht mit Leib und Seele, allerdings ohne die Verkörperung eigener gestalterischer Prinzipien zum unumstößlichen Credo zu erklären. Bauch und Kopf stünden bei ihr in permanentem Austausch, bringt es die Architektin auf den Punkt. »Rational auf Dinge zu blicken, ist mir wichtig, weil ich verstehen möchte, warum ich etwas mache und wie die Gegebenheiten aussehen. Denn im Gegensatz zur Bildenden Kunst spielen reale Bedingungen in der Architektur immer eine Rolle.« Sich dieser bewusst zu sein, helfe ihr außerdem dabei, sich etwas später im Prozess mehr Freiheiten nehmen zu können.


Es ist 12 Uhr in New York City. Annabelle Selldorf trägt eine weiße Bluse, auf dem Sideboard hinter ihr befinden sich einige Gegenstände, über die sie etwas später noch kurz sprechen wird. Sie sei wie immer in Eile, sagt sie zu Beginn des Interviews. Doch bereits bei der ersten Frage wird klar, dass das nicht bedeutet, dass sie bei ihren Antworten stets die kürzeste Route einschlagen möchte. Stattdessen navigiert sie geschickt durch komplexe Fragestellungen — immer auf der Suche nach Verbindungstüren zwischen den einzelnen Themenbereichen. Entsteht durch den ein oder anderen gedanklichen Umweg die Gefahr sich zu verlaufen, ist das im Falle eines Gesprächs mit Annabelle Selldorf nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil. Es sich zu erlauben, sich hin und wieder in einer Sache zu verlieren, ohne dabei tatsächlich verloren zu gehen, ist etwas, das sowohl ihre Art über ihren Beruf zu sprechen als auch die von ihr gestalteten Museums- und Galerieräume auszeichnet. Schließlich geht es in beiden Fällen immer auch darum, nach Zugängen zu suchen, Dinge zu umkreisen und schließlich die für die Situation geeignetste Perspektive zu finden. Doch auch die Freude, die in ihr entsteht, wenn sie eine Sache mit nur einem Begriff auf den Punkt gebracht hat, ist deutlich spürbar. »Es ist dieser Wunsch, den exakten und richtigen Ausdruck zu finden — mit so wenigen Worten wie möglich 100 Prozent von dem auszudrücken, was man sagen möchte«, erklärte sie einmal in einem Interview. Wie bei einem Zirkel existiert also auch bei Annabelle Selldorf beides gleichermaßen — der Wunsch, eine Sache auf den Punkt zu bringen — gewissermaßen in ihr Herz zu stechen — als auch die hin und wieder in ihr aufkeimende Freude daran, Dinge einzukreisen. Über ihre Art zu bauen, sagt Ersteres jedoch deutlich mehr aus. Sie selbst formulierte es folgendermaßen: »Sagen wir mal so: Ich baue mit relativ wenig Dekor.«

DURCHBRUCH MIT DER NEUEN GALERIE

Einen roten Faden zu finden, der sich sowohl durch unser Gespräch als auch durch ihre Arbeit zieht, ist nicht schwer. Immer wieder und an unterschiedlichen Ecken und Enden taucht sie auf — die Neugierde. In mehr als ausreichendem Maße vorhanden war sie auch maßgeblich daran beteiligt, dass sich die gebürtige Kölnerin im Jahr 1988 in New York als Architektin selbstständig machte. »Man könnte es vielleicht auch als Naivität oder Abenteuerlust bezeichnen«, sagt sie mit jenem subtilen Humor, bei dem man sich nie ganz sicher ist, ob ein Lachen nun angebracht ist. Doch noch bevor so etwas wie Anspannung oder Unsicherheit entstehen kann, löst sie die Situation in der Regel selbst mit einem herzlichen Lachen auf. Das passiert im Übrigen sehr viel öfter, als man es Annabelle Selldorf im ersten Moment zuordnen würde. »Ich hoffe, dass mein Humor mich rettet«, sagt sie einmal während des Interviews und man glaubt es ihr sofort.

Doch erstmal zurück zu den Anfängen: 1960 wurde Annabelle Selldorf als Tochter des Architekten und Designers Herbert Selldorf in Köln geboren. »Unsere Eltern haben mich und meine Geschwister in alle Museen mitgeschleift. Das war wahrlich nicht immer ein Vergnügen für uns Kinder. Aber offenbar blieb etwas hängen«, erzählt die Architektin in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Allerdings war es keinesfalls so, dass sich der Beruf der Architektin sofort als absoluter Traumberuf herauskristallisierte. »Als Teenager gefiel mir die Vorstellung, Diplomatin im Auswärtigen Amt zu sein und in Paris zu leben. In meiner Naivität stellte ich mir vor, in einem tollen Gebäude für Harmonie und Frieden in der Welt zu arbeiten. Es ist bis heute so, dass ich mich lieber nicht streite«, erinnert sie sich. Trotzdem schien es in ihr einen Funken zu geben, der nur darauf wartete, entzündet zu werden. Das passierte schließlich in New York, wo Annabelle Selldorf 1979 ein Architekturstudium begann. Ein Praktikum führte sie schließlich ins Architekturbüro von Richard Gluckman — eine zum damaligen Zeitpunkt zentrale Anlaufstelle, wenn es um die Gestaltung von Museen und Galerien ging. Blickt man auf die Projektliste von Selldorf Architects, kann man guten Gewissens sagen, dass diese Position nun von ihrer eigenen Firma ausgefüllt wird. Ihr erstes großes Projekt als selbstständige Architektin war der Entwurf einer Galerie für den den Kölner Galeristen Michael Werner. 18.000 Dollar für insgesamt acht Monate Arbeit spülte der Auftrag damals auf ihr Konto. Doch viel wichtiger als das Geld sei ihr das bewusste, präzise Sehen gewesen, das sie von ihm lernen konnte. Auch aus heutiger Sicht würde sie an der Galerie nicht viel ändern. Und da ist sie wieder, die Liebe zur Kontinuität, die im Fall von Annabelle Selldorf, dem Gefühl von fast schon kindlicher Neugierde nicht gegenübersteht, sondern eng mit ihr verbunden ist. »Es gibt Menschen, die immerzu etwas Neues brauchen. So bin ich nicht«, sagt Selldorf, die nach eigener Aussage immer noch dieselbe Frisur trägt wie damals im Gymnasium. »Ich beschäftige mich gerne mit jenem Vokabular, das ich mir über die Jahre erarbeitet habe, mit diesem Universum, das auch stark von Neugierde geprägt ist. Innerhalb dieses Rahmens setze ich mich mit Dingen auseinander, die ich vorher nicht gesehen, erfahren oder erlebt habe. In der Kontinuität des eigenen Vokabulars finde ich Wege, mich mit dem Unbekannten zu beschäftigen, ohne dabei aus der Balance zu kommen.« Sollte sie dennoch einmal in einer Sackgasse landen, gäbe es genügend Dinge, die bei der Suche nach dem richtigen Weg, überaus hilfreich seien, erläutert die Architektin und deutet dabei auf das kleine Regal hinter ihrem Schreibtisch. Ein aus China mitgebrachter Stein, ein Bild und mehrere Fotografien haben auf dem schlichten Möbelstück ihr Zuhause gefunden. »Sie alle sind Anstöße«, so Selldorf. Kleine Sprungbretter für den nächsten großen Entwurf.

© Adam Friedberg. Courtesy of Selldorf Architects

 

Neue Galerie New York, Manhattan

 

Der Durchbruch gelang Annabelle Selldorf im Jahr 2001 — mit dem Umbau einer prachtvollen Beaux-Arts-Villa auf der Fifth Avenue in New York zur Neuen Galerie, einem vom Milliardär Ronald S. Lauder finanzierten Museum für deutsche und österreichische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts. Es folgten Aufträge für einige der einflussreichsten Galerist:innen unserer Zeit. Mit David Zwirner verbindet Selldorf nicht nur eine enge Arbeitsbeziehung, sondern auch ein freundschaftliches Verhältnis. Der Neubau seiner fünfstöckigen Galerie in der 20th Street in New York zählt zu ihren wichtigsten Projekten. Darüber hinaus gehört das rund 70 Mitarbeiter:innen umfassende Architekturbüro Selldorf Architects zu den wichtigsten Adressen, wenn Museen umgebaut oder erweitert werden sollen.

© Nicholas Venezia. Courtesy of Selldorf Architects

 

Museum of Contemporary Art, San Diego

 

Unter anderem in San Diego, wo Annabelle Selldorf mit ihrem Team das direkt am Pazifik gelegene Museum of Contemporary Art umgestaltete und erweiterte. In New York zeichnete sie unter anderem für das Redesign der Frick Collection verantwortlich, auch die Erweiterungspläne kamen aus ihrem Büro. In London ist Annabelle Selldorf außerdem gerade am Umbau des Eingangsbereichs des Sainsbury-Flügels beteiligt. Dieser soll einladender gestaltet werden und Kunst — sowohl buchstäblich, mit den Mitteln der Architektur, als auch im übertragenen Sinn — für alle zugänglich machen. Eine Aufgabe der sich Selldorf mit Leib und Seele verschrieben hat.

© Courtesy of Selldorf Architect

 

National Gallery, London

 

© Courtesy of Selldorf Architects; Rendering courtesy
of Art Gallery of Ontario, Diamond Schmitt, Selldorf Architects, and Two Row Architect

 

Art Gallery of Ontario Dani Reiss Modern and Contemporary Gallery, Toronto

 

In der kanadischen Stadt Toronto wartet bereits die nächste Herausforderung auf die gebürtige Kölnerin: Ihr Büro bekam den Auftrag, für die Art Gallery of Ontario Dani Reiss Modern and Contemporary Gallery ein Gebäude zu entwerfen, das an einem Gebäudeteil von Frank Gehry angrenzt. Auf den in Kanada geborenen Architekten traf Annabelle Selldorf bereits im südfranzösischen Arles, wo sie das Kunstzentrum der Luma Foundation der Schweizer Mäzenin Maja Hoffmann baute, während Gehry einen schillernden Metallturm entwarf. Diesmal begegnen sich die beiden, deren gestalterische Handschriften kaum unterschiedlicher sein könnten, auf Augenhöhe. »Er meinte, dass er mir trotz der großen Unterschiede total vertraue«, erzählt die Architektin in einem Interview.

»THE PROCESS IS THE STYLE«

Wenn Annabelle Selldorf bestehende, meist mit einer langen Historie ausgestattete Gebäude umgestaltet oder Erweiterungen plant und entwirft, möchte sie »in die Eingeweide eines Baus vordringen«. Das bedeutet, dass sie einem Gebäude so begegnet als würde sie einen Menschen kennenlernen. »Man entdeckt seine Stärken und Schwächen, tritt in einen Dialog mit dem Gebäude und seiner Geschichte und fragt sich, was es in seiner neuen Gestalt leisten muss.« Dass das Ergebnis dieser langen, oft auch langwierigen Auseinandersetzungen hin und wieder auf Kritik stieß und kontrovers diskutiert wurde, liegt vor allem bei traditionsreichen Bauten mit langer Geschichte in der Natur der Sache. »Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich davon, dass sich die Architektur durch die Menschen legitimiert, die sie erfahren und benützen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch um die Form geht — sie ist nach wie vor Teil der Architektur. Ich halte es aber für deutlich wichtiger, sich damit auseinanderzusetzen, warum man bestimmte Dinge so oder anders gestaltet — und diese Überlegungen immer in Bezug zu jenen Menschen setzt, die sich später damit beschäftigen werden.«

© Lionel Roux. Courtesy of the artists and LUMA Foundation

 

Ausstellung »Systematically Open? New Forms for Contemporary Image Production.« Kunstzentrum der Luma Foundation in Arles, Frankreich — Auftraggeberin ist die Schweizer Mäzenin Maja Hoffmann.

 

Ob mit dieser menschenorientierten Herangehensweise an ihren Beruf eine Form von gestalterischer Zurückhaltung einhergeht? »Ich empfinde es nicht so sehr als Zurückhaltung, sondern vielmehr als Wunsch, zu erfahren, auf welch unterschiedliche Weise Menschen Dinge erleben und wahrnehmen«, antwortet Annabelle Selldorf ohne große Umschweife. Die klare Formensprache wie auch die coole Eleganz ihrer Entwürfe sorgten in der Vergangenheit immer wieder dafür, dass Selldorfs Arbeiten der sogenannten Erlebnisarchitektur gegenübergestellt und im Zuge dessen in die Minimalismus-Schublade gesteckt wurden. Die Architektin selbst sieht das anders: »Ich mag es nicht, kategorisiert zu werden, weil mein Vokabular nicht auf einer Formel beruht, sondern wir uns unsere Projekte Schritt für Schritt erarbeiten. Man könnte vielleicht sagen, dass ich in gewisser Hinsicht an Normalität interessiert bin, weil die Geschichte der Architektur und des Designs so unglaublich weit zurückreicht und ich es unheimlich interessant finde, wie Kontinuität funktioniert. Wenn ein bestimmtes Material heute nicht mehr als relevant wahrgenommen wird, finde ich es spannend, mich damit zu beschäftigen und neue Wege zu finden, es einzusetzen.« Der Architekturkritiker Ian Volner beschrieb es folgendermaßen: »The process, to some extent, is the style.«

Haderte sie zu Beginn ihrer Karriere noch damit, dass ihr immer wieder gesagt wurde, sie hätte keine eindeutige Handschrift, sieht sie die Sache heute deutlich gelassener. Nicht der Wow-Faktor ist für sie das Entscheidende, sondern der nachhaltige Eindruck, den ein Gebäude bei jenen Menschen hinterlässt, die es benützen. Ihre Bauten seien nicht langweilig, sondern würden dazu einladen, lange in ihnen zu verweilen. In der Ruhe, die sie ausstrahlen, entstünde jene Freiheit, die vor allem Kunsträume brauchen, um ihre Aufgaben gut zu erfüllen. Klare Formen treffen bei Annabelle Selldorf auf ausgewogene Proportionen, einen klugen Umgang mit Licht und einen außergewöhnlich gefühlvollen Einsatz von Materialien. Ian Volner bringt die Selldorf-Philosophie auf folgende Weise auf den Punkt: »In an age of skepticism, the firm’s is an architecture of circumspect beauty. A formalism against formalism: the lyrical giving way to the logical, or vice versa.«

»Im Laufe der über 30 Jahre, in denen meine Firma bereits existiert, gab es kein einziges Jahr, in dem Langeweile oder Desinteresse die Freude an der Arbeit geschmälert hätten. Was nicht bedeutet, dass es immer nur Spaß macht — keineswegs. Ich weiß aber, dass wenn ich gelangweilt wäre, ich diesen Job sofort an den Nagel hängen und lieber Bücher lesen würde«, lautet Annabelle Selldorfs Antwort auf die Frage, ob sich bei ihr jemals ein Gefühl der Gleichförmigkeit eingestellt hätte. »Außerdem glaube ich nicht an das Gefühl, irgendwo anzukommen. Obwohl ich mich möglicherweise auf dem richtigen Weg befinde, bin auch ich nicht davor gefeit, mich eines Tages im Nebel oder auf einem steilen Hang wiederzufinden.« Auch Gedanken, die man vermutlich der Kategorie »Impostor Syndrome« zuordnen würde, seien hin und wieder ihre Begleiter. »Auch nach mehr als 30 Jahren im Beruf denke ich mir hin und wieder: Ich hatte wohl Glück, dass niemand mitbekommen hat, wie wenig ich eigentlich weiß. Allerdings ist es schon so, dass das Älterwerden zumindest eine gute Sache mit sich bringt: Ich weiß mittlerweile, was ich kann, wovon ich spreche, und bin von meiner Position überzeugt.« Das würden vermutlich auch all die bekannten Künstler:innen unterschreiben, für die Annabelle Selldorf bereits gearbeitet hat. Die Architektin mit dem besonderen Auge für Licht und Proportionen wurde unter anderem bereits von David Salle, Cindy Sherman und Jeff Koons beauftragt. Letzterer sei als Mensch »so wenig greifbar gewesen wie Quecksilber«.

VENI, VIDI, VICA

Die eben erwähnte Sicherheit die eigene Arbeit betreffend trug auch dazu bei, dass sich Annabelle Selldorf in den vergangenen Jahren wieder vermehrt der von ihrer Großmutter Vica-Marie gegründeten Möbelfirma Vica widmete. »Mir wurde bewusst, dass diese Pflanze irgendwann eingeht, wenn ich mich nicht um sie kümmere. Vica war immer auch deshalb eine spannende Sache für mich, weil mir die Gestaltung von Möbelstücken ermöglicht, mich in einem anderen Maßstab mit Objekten zu befassen. Es ist ein bisschen so, als würde ein anderer Teil meines Gehirns dadurch angesprochen und es ist ein schöner Gegenpol zur oft langwierigen Architekturarbeit«, erläutert die Architektin, die sich im Zuge dessen auch die Frage stellte, warum es bei der Fülle an existierenden Designstudios und Möbelfirmen eine weitere Firma brauche. »Ähnlich wie in der Architektur dachte ich mir, dass ich damit einen Beitrag leisten kann, der anders ist. Selbst wenn er nur marginal anders ist, ist es genau diese Marginalität, die mich interessiert.« Es gab also diesen einen Moment, setzt Annabelle Selldorf fort, in dem sie sich dazu entschied, die gesamte Kollektion zu überarbeiten und ihre Gültigkeit zu überprüfen. Von »Vica« wurde die Möbelfirma zudem in »Vica by Annabelle Selldorf« umbenannt. »Keine einfache Entscheidung«, wie die Wahl-New Yorkerin festhält. »Natürlich stellt man sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Rolle man in der eigenen Familie spielt und ob eine solche Änderung vielleicht anmaßend sei«, erzählt sie. Schlussendlich sei es aber ein fast schon reinigender Prozess gewesen, an dessen Ende stand: »Es ist okay.«

© Nicholas Venezia. Courtesy of Selldorf Architects

 

Vica Light— ursprünglich entworfen für  die Ausstellungsräume der Neuen Galerie New York.

 

Ihre Großmutter, eine ehemalige Opernsängerin, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Gestaltung von Möbeln wieder Fuß zu fassen versuchte, hat Annabelle Selldorf nie kennengelernt. »Sie muss eine wirklich interessante Person gewesen sein, die ihre drei Kinder mit viel Energie durch den Krieg gebracht hat und dann damit begann, sich mit Interior Design zu beschäftigen, obwohl sie das nie gelernt hat. Bekannt war sie vor allem für ihren guten Geschmack und ihre energische Stellungnahme. Mein Vater hat immer gesagt, dass ich ihr sehr ähnlich sei.« Sie selbst sei als Kind von zwei auf den ersten Blick konträren Charaktereigenschaften geprägt gewesen, erinnert sich die Architektin mit ruhiger Stimme, in der stets das Versprechen einer Geschichte mitschwingt. »Ich war als Kind sowohl sehr ängstlich als auch sehr energisch. Besorgt, aber auch anspruchsvoll. Und das stimmt immer noch. Manchmal habe ich das Gefühl, dass man sich in gewissen Dingen nicht wirklich verändert. Wobei das natürlich nur bedingt stimmt.« Und auch hier taucht — wenn auch in etwas anderer Ausformung — das ständige Wechselspiel von Kontinuität und Neugierde wieder auf. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Ich habe immer am liebsten für mich selbst Entscheidungen getroffen. Wenn es etwas gibt, das ich in all den Jahren gelernt habe, dann ist das, dass es mir extrem wichtig ist, meinem eigenen Kompass zu folgen. Ich verlange aber von niemand anderem, das ebenfalls zu tun.«

Ob sie sich an ein Möbelstück erinnern könne, das sie sofort in ihre Kindheit zurückkatapultiert? »Das gibt es«, antwortet Annabelle Selldorf wie aus der Pistole geschossen. »Ein Sessel aus unserer Kollektion, der Herbert heißt, benannt nach meinem Vater, der ihn auch entworfen hat. Ich glaube, dass der Stuhl früher Helmut hieß. Für mich heißt er allerdings schon seit langer Zeit Herbert.« Die Architektin beschreibt den Sessel als einfaches und zierliches, gleichzeitig aber sehr bequemes Möbelstück. »In gewisser Weise repräsentieren die Proportionen dieses Sessels unsere gesamte Kollektion. Rückblickend würde ich sagen, dass er bei der Entscheidung, Vica wiederaufzunehmen, eine zentrale Rolle gespielt hat. Alles, was ich visuell und emotional mit diesem Sessel verbinde, ist Teil der Firma und unserer Kollektion.«

Nicholas Venezia. Courtesy of Selldorf Architects

 

Herbert Sessel, Cyrus Kommode und Star Lampe von Vica by Annabelle Selldorf

 

Ein letzter Gedankensprung — eine letzte Verbindungstüre zwischen Kindheit und Gegenwart, Architektur und Interior Design, Kontinuität und Neugierde — lässt uns noch einmal zur Gestaltung von Kunsträumen zurückkehren. »Die Anforderungen an Galerien haben sich sehr verändert«, hält Annabelle Selldorf fest. »Es gibt ein größeres, sehr viel internationaleres Publikum, das schneller erfasst, worum es geht, schneller Vergleiche zieht und schneller Strukturen erkennt. Dem gerecht zu werden, ohne dabei an Individualität und Menschlichkeit zu verlieren, ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir bei der ersten Galerie für David Zwirner quasi selbst mitgebaut haben.« Sie hält einen Moment inne und setzt lachend nach: »Okay, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber nicht sehr.« Klingt total geerdet? Das ist die Architektin auch. Doch es wäre nicht Annabelle Selldorf, wenn sie nicht hin und wieder auch gerne mit Erwartungen brechen würde. »Es ist noch nicht so lange her, dass ich eine Unterrichtsstunde auf dem Trapez hatte. Eine spannende Erfahrung, weil man mit seinen Ängsten, dem Gefühl von Abenteuer und dem Wunsch, etwas zu machen, das man noch nie vorher erlebt hat, gleichzeitig konfrontiert ist. Das war wirklich aufregend.« Bevor wir uns wieder verabschieden, fügt sie mit einem fast schon kindlich-verschmitzten Lächeln im Gesicht hinzu: »Ich weiß aber nicht, ob ich es ein zweites Mal machen würde.« In aller Kürze — sprich: »mit relativ wenig Dekor« — könnte man also sagen: Neugierde trifft Kontinuität trifft Rationalität trifft Intuition. Denn das alles steckt in einem Treffen mit Annabelle Selldorf. Und das ist wunderbar.