Der Cruiser

Auf Roadtrip durch die bewegten Memoiren eines Outlaws

© Harley Davidson

Text Marianne Julia Strauss

Schon vor den Dreißigerjahren machten die Motorradhersteller Harley-Davidson, Henderson und Indian vor, was bis heute gilt: Cruisen, das geht am besten mit einem großvolumigen Motor, weitem Radstand und breiten Reifen, in entspannter Sitzposition und mit den Händen am breiten Lenker.

Zu den Modellen, die das Ästhetikempfinden aller nachkommenden Bikergenerationen nachhaltig prägen sollten, gehören etwa die 1923er Henderson De Luxe, die Harley-Davidson RL 45 von 1932 oder die Sport Scout von Indian. Während der Kriegsjahre treibt das Militär rund um den gebeutelten Planeten die Produktion und Weiterentwicklung der Motorradtechnik voran, bis man schließlich Ende der Vierzigerjahre — optimiert — wieder durch friedliche Straßen fährt. Wir spulen vor durch die Fünfzigerjahre — die in Sachen Motorrad so unglaublich viel schillernden Stoff bieten, dass man ganze Bibliotheken damit füllen könnte — nach vorne bis ins Jahr 1968: Johnny Cash gibt sein Konzert im Folsom State Prison, Andy Warhol erholt sich von seinen Schusswunden, Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« feiert Weltpremiere und auf der Tokyo Motor Show stellt Honda mit ihrer neuen CB 750 Four alle bisherigen Motorradmodelle in den Schatten. Fast gleichzeitig wird die finanziell schwächelnde Harley-Davidson Motor Company einerseits von der AMF Corporation vor der feindlichen Übernahme durch die Bangor Punta Corporation, und andererseits von Peter Fonda und Dennis Hopper vor der drohenden Mediokrität gerettet.

© Harley Davidson

 

AUSFLUG IN DIE FILMGESCHICHTE

Peter Fonda? Dennis Hopper? Wer jetzt endlose staubige Straßen vor Augen, Marihuanaschwaden in der Nase und natürlich die charakteristische Rickenbacker von Roger McGuinn im Ohr hat, denkt nicht nur richtigerweise an »Easy Rider«, einen Meilenstein der Filmgeschichte, sondern damit auch an einen wichtigen Schritt in der Entwicklung dessen, was wir heute als Cruiser bezeichnen. Denn: Mit der »Ballad of Easy Rider« begleitete der Byrds-Frontmann McGuinn nicht nur die Filmfreunde Wyatt und Billy in den Abspann, sondern auch das Custom Bike aus der südkalifornischen Subkultur in ernstzunehmende Sphären. Aus heutiger Sicht scheint es natürlich unvorstellbar, dass Harley-Davidson nach der Durchsicht des Scripts für den heute legendären Filmklassiker gar keine Bikes für den Dreh beisteuern wollte. Also ersteigerte Peter Fonda kurzerhand selbst ein paar alte Harley-Davidson Panheads bei einer Auktion von ausgemusterten Polizeimotorrädern. Diese Bikes wurden von den Schraubern — heute würde man sagen: den visionären Customizern — Ben Hardy und Cliff Vaughs zu den beiden Ur-Choppern Captain America und Billy Bike umgebaut. Die — wenn man dem etwas kruden Echtheitszertifikat Glauben schenken mag — letzte originale Captain America erzielte übrigens im Jahr 2014 bei einer Auktion in Hollywood den höchsten Preis, der jemals für ein Motorrad gezahlt wurde. Für fast 1,4 Millionen US-Dollar wechselte das Bike vom National Motorcycle Museum zu einem Bieter, dessen Name bis heute nicht bekannt ist. Definitiv ist es jemand mit Filmgeschmack.

Dieser kleine Ausflug in die Filmgeschichte ist wichtig. »Easy Rider« war selbst von der kleinen kalifornischen Customszene inspiriert worden. Jetzt brachten Kinoleinwände diesen sonnengenährten Drang nach unbedingter Freiheit in die ganze Welt. Im Film gibt es einen Schlüsseldialog zwischen Billy und dem jungen Anwalt George, mit dem er und Wyatt am Lagerfeuer sitzen. Wegen ihrer ungewöhnlichen Bikes und ihres wilden Aussehens wurde ihnen gerade die Übernachtung in einem heruntergekommenen Motel verweigert.

GEORGE Wisst ihr, das war mal ein ganz herrliches Land. Ich kann nicht verstehen, was auf einmal damit los ist.

BILLY Tja, meine Ansicht ist, das ist, was los ist: Wir können noch nicht mal in ein zweitklassiges Hotel rein, ich mein, ein zweitklassiges Motel, verstehst du? Die denken wir schneiden ihnen die Kehle durch oder sowas. Mann, sie haben Angst vor uns, ja.

GEORGE Sie haben keine Angst vor dir. Sie haben Angst vor dem, was du für sie repräsentierst.

BILLY Ach Mann, alles was wir für die repräsentieren, ist nur jemand der sich nicht die Haare schneidet.

GEORGE Nein, was du für sie repräsentierst, ist Freiheit.

Es ist genau diese Freiheit, die eine ganze amerikanische Generation dringend wollte. Und während die einen gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und die anderen zum Mond flogen, schraubten sich die nächsten eine selbstgebogene Sissybar und ein Paar Ape Hangers an ihre Maschinen und knatterten durch die Wüste von Utah der Abendsonne entgegen.

 

© Harley Davidson

Mit der FX Super Glide zeigte Harley-Davidson im Herbst 1970, wie ein Cruiser auszusehen hat. Als Basis des Bikes diente der Rahmen der FL, zu dem das Team um William Davidson die Gabel der XL Sportster kombinierte. 

 

RETTUNG IN LETZTER MINUTE

Aus dem Trend wurde eine Bewegung, die auch der unter AMF mittlerweile geschäftsführende Präsident von Harley-Davidson, William Davidson, interessiert verfolgte. War das der rettende Strohhalm für die Motor Company? Denn auch wenn die AMF Corporation mit dem Geld im Hintergrund saß und die Ideen der Ingenieure dankenswerterweise finanzierte, war man doch gleichzeitig von der Gunst des branchenfernen Managements abhängig. Eine Krux. Die Japaner fuhren noch immer die großen Erfolge mit ihrer Honda CB 750 Four ein, und auch in Übersee schraubten die britischen, deutschen und italienischen Ingenieure an gefragten Bikes. Harley-Davidson beschloss, alles auf eine Karte zu setzen und auf den jungen Trend aufzuspringen. Innerhalb kurzer Zeit bastelte das Team aus größtenteils bereits gefertigten Teilen ein eigenes Custombike zusammen, das den Spirit der umgebauten Easy-Rider-Panheads und den Goût der Stunde einfangen sollte. Als Basis des neuen Bikes diente der Rahmen der FL, zu dem Davidson die Gabel der XL Sportster kombinierte. Schon im Herbst 1970 stellte die Motor Company ihre FX Super Glide der Weltöffentlichkeit vor und zementierte damit nicht nur ihren bis heute gültigen Ruf als Mastermind des Cruisers, sondern glücklicherweise auch die Basis für den Management-Buyout-Rückkauf des Unternehmens von AMF (deren teils desaströse Managemententscheidungen die Marke Harley-Davidson fast dem Straßenboden gleichgemacht hätten) viele Jahre später, genauer 1981. Doch zurück zum Thema.

 

© Suzuki

 

STRAIGHT OUTTA CALIFORNIA

Die kreativen Ideen ein paar südkalifornischer Schrauber hatten es also über einen umstrittenen Film und den darauffolgenden Customtrend bis in die obersten Etagen der größten Motorradhersteller geschafft. In Großbritannien entwickelte Norton seine Hi-Rider und Triumph seine X-75 Hurricane, während in Italien die ersten Californias von Moto Guzzi durch die Straßen fuhren. Kawasaki präsentierte mit seiner KZ 900 LTD den ersten Cruiser aus dem Land der aufgehenden Sonne. Die LTD basierte auf der beliebten Z1 und verfolgte bereits etwas mutiger den heute typischen Cruiserlook, der auch von anderen Herstellern immer kompromissloser angestrebt wurde. Im Jahr 1979 folgten die L-Modelle von Suzuki auf Basis der sportlicheren E-Modelle, die ebenfalls mit einer sichtbar längeren Gabel, einem klassisch kleinen Tank und einer Stufensitzbank ausgestattet waren. Beinahe gleichzeitig brachte Honda seine CX 500 und Triumph seine T 140 D und wenige Jahre später die TSX heraus, die auf einer Bonneville basiert und dem bereits sehr nahekommt, was wir heute als Cruiser kennen.

Während Harley-Davidson auf der anderen Seite des Pazifiks sein Stilarsenal und damit seine Vorherrschaft im Cruisersegment immer mehr ausbaute, schob im Jahr 1981 erstmals auch Yamaha ein vergleichbares Bike aus der Garage. Mit der neuen Virago deckte Yamaha nicht nur die Hubraumgrößen von 125 bis 1100 Kubikzentimeter ab, sondern traute sich als erster japanischer Hersteller auch an den Zweizylinder-V-Motor — ein bis dahin traditionell amerikanisches Feld. Nicht umsonst musste sich Yamaha den Vorwurf anhören, mit der Virago die klassischen Harley-Modelle etwas zu frech zu imitieren, was der Beliebtheit des Modells jedoch keinen Abbruch tat: Auf der Virago XV 535 hat vermutlich jeder zweite Motorradfahrer, dessen Geburtsdatum vor dem 15. Juni 1965 liegt, seine Fahrstunden gemacht. Die besonders niedrige Sitzbank und die einfache Wartung machten die Virago zum idealen Einsteigermotorrad auch für kleiner geratene FahrerInnen und zu einem der bis heute erfolgreichsten Verkaufsschlager in der Yamaha-Geschichte. Das Feld der ernstzunehmenden Cruiser wurde größer und größer. Mit Pauken und Trompeten wurde die Markteinführung der Honda V 65 Magna im Jahr 1983 begleitet und Yamaha stellte wenig später ihre bis heute legendäre VMAX vor, die wie die ähnlich begeistert aufgenommene Honda CB 750 Four 20 Jahre zuvor als Basis für viele Cruiser-Umbauten diente und bis heute für viele BikerInnen einen der besten Power Cruiser darstellt.

 

© Harley Davidson

 

EINFUHRZÖLLE ALS SCHUTZMASSNAHME

Zwischenanekdote: Es mag zwar durchaus nachvollziehbar sein, dass die amerikanische Regierung ihren damals einzigen Motorradhersteller Harley-Davidson vor den erfolgreichen Japanern schützen wollte. Die 1984 in Kraft tretende Anhebung des Einfuhrzolls für ausländische Motorräder ab 700 Kubikzoll Hubraum von 4,4 Prozent auf 49,4 Prozent wirkte jedoch auch mit ganz viel Verständnis ein bisschen unbeholfen. Dementsprechend reagierten die »Big Four« — Honda, Kawasaki, Suzuki und Yamaha — auch relativ entspannt und so gar nicht im Sinne der Amerikaner. Erstens umgingen Kawasaki und Honda den Zoll einfach durch den Ausbau ihrer bereits bestehenden Produktion in den USA und zweitens konzentrierten sich alle vier japanischen Hersteller, wie zu erwarten war, auf den Bau von Motorrädern mit kleinerem Hubraum, die unter den amerikanischen Kunden auch noch reißenden Absatz fanden. Im Jahr 1987 bat Harley-Davidson die Regierung schließlich selbst darum, den Strafzoll zurückzunehmen. Suzuki legte direkt im selben Jahr mit der 1400 Kubikzentimeter starken Intruder vor — ein Bike, das das typische Cruisergefühl so stilsicher wie kaum ein nichtamerikanisches Bike zuvor interpretierte. Die Speichenräder, die klassische Langgabel, viel Chrom und der obligatorische breite Hinterreifen, kombiniert mit sattem Hubraum, ordentlicher Technik und viel ernstgemeintem Lob aus Fachkreisen, machten die Intruder 1400 zur echten Konkurrenz für die Bikes der Motor Company. 2018 drehte sich der Spieß übrigens um, als US-Präsident Trump zunächst Strafzölle auf Stahlprodukte aus der EU erließ und die Europäische Union mit Gegenzöllen auf unter anderem Jeans, Whiskey, Erdnussbutter und eben Motorräder aus den USA reagierte. Nachdem die Bikes von Harley-Davidson mit nunmehr über 30 statt wie zuvor sechs Prozent bezollt und damit auf einen Schlag um im Schnitt 2.000 Euro teurer wurden, kündigte die Motor Company selbst an, Teile der Produktion ins Ausland verlegen zu wollen. Man darf also auf die nächsten Verhandlungsrunden der EU-Kommission mit der neuen US- Regierung gespannt sein.

 

 

© Yamaha

Bis heute stellt die Yamaha VMAX für viele MotorradfahrerInnen einen der besten Power Cruiser dar und dient, wie die ähnlich begeistert aufgenommene Honda CB 750 Four, als beliebte Basis für viele Custombikes.

 

SCHON WIEDER GANZ GROSSES KINO

Zurück zum Kernthema. In den Neunzigerjahren gehörte der Cruiser schließlich zu den beliebtesten und am häufigsten zugelassenen Motorrädern nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland. Unter anderem rollte die BMW R 1200 C über die Straßen, mit der sich die Bayerischen Motorenwerke erstmals in das größtenteils zwischen Japan und den USA aufgeteilte Cruiser-Segment vorwagten. Dem breiten Publikum dürfte dieser »first pancake« aus München durch den spektakulären Auftritt im James-Bond-Film »Der Morgen stirbt nie« bekannt sein. »Der Unterschied zwischen Wahnsinn und Genie definiert sich lediglich aus dem Erfolg«, wusste schon Elliot Carver, der von Jonathan Pryce gespielte Hauptbösewicht in dem Agentenstreifen. James Bond und Wai Lin, gespielt von Pierce Brosnan und Michelle Yeoh, liefern sich auf der R 1200 C eine wilde Verfolgungsjagd mit den Schurken, die nach engen Häuserschluchten, menschenvollen Märkten und viel Schießerei ihren Höhepunkt in einem spektakulären Sprung über den Hubschrauber der Verfolger findet. Randnotiz: Die Sprungszene wurde tatsächlich gedreht! Das Stuntpaar sprang mit der gut 250 Kilogramm schweren R 1200 C über einen stillstehenden Helikopter, dessen Rotorblätter nachträglich im Film eingefügt wurden. Unter die Bezeichnung »Cruiser« fallen heute mehr Modelle, als man unterwegs auf der Strecke zwischen Greifswald und Boltenhagen ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufzählen kann. Angefangen von der neuen Triumph Rocket 3 — einer dreizylindrigen Kampfansage mit einem Gänsehauthubraum von 2500 Kubikzentimeter, 221 Newtonmetern Spitzendrehmoment und knappen 170 PS — über den jahrelangen Klassiker Honda Shadow, kompakte Modelle wie die Benelli 502C von letztem Jahr und die mittlerweile zehn Jahre alte Ducati Diavel bis zur Indian in all ihren mannigfaltigen Ausführungen von Scout bis Challenger. Viele der älteren Cruisermodelle sind den Wirren der Abgasnorm zum Opfer gefallen und wurden von den Herstellern entsprechend aus dem Programm genommen, was mehr als schade ist, aber gleichzeitig Platz für neue und umwelt- freundlichere Motorradmodelle macht.

Seit Herbst 2020 knattert dazwischen definitiv auch die BMW R 18. Gekonnt dockt der Wurf aus den Bayerischen Motorenwerken an die werkseigene Geschichte an: Von der Rahmenführung, der Tankform und der weißen Doppellinierung auf schwarzem Lack bis zu den Ventildeckeln und den Auspufftöpfen in Fischschwanzform zitiert der Cruiser formschön die legendäre BMW R 5 von 1936. Besonders schön ist, dass der Custom-Gedanke gleich ab Werk mitgeliefert wird: Die R 18 will, wie ihre Wegbereiter Panhead bis CB 750 Four, gerne selbst Basis für Individualisierungen sein. »Konfiguriere deinen persönlichen Cruiser« heißt es auf der firmeneigenen Website. Und auch einer der großen Meister, Roland Sands, hat sich die R 18 schon zur Brust genommen — und den Cruiser in einen umwerfenden Dragster verwandelt.

 

© BMW Group

Im direkten Vergleich zeigen sich die Gemeinsamkeiten der neuen BMW R 18 und der legendären BMW R 5: Von der Tankform über die weiße Doppellinierung auf schwarzem Lack bis hin zu den Auspufftöpfen in Fischschwanzform.