Das Objekt macht den Menschen

Die Interaktion zwischen Kreativen und Objekt

Bild von Philippe Starck für Kartell: Louis Ghost, 2002
Philippe Starck für Kartell: Louis Ghost, 2002; © Kartell

Text Andreas K. Vetter

Wir können ohne Dinge nichts, Dinge machen uns. Das ist die Be-Dingung des Lebens. Objekte prägen unser Leben und unsere Identität auf den unterschiedlichsten Ebenen und in vielfacher, oft schwer greifbarer Hinsicht. Dabei ist und bleibt insbesondere die Interaktion zwischen Kreativen und Objekt interessant. Es folgen Überlegungen über das »Ding« als zentrales Motiv und die es schaffenden und damit agierenden Menschen, sei es aus den Bereichen der Architektur, des Design oder in der Kunst.

Irgendwie ist ja ein Ding immer etwas Einzelnes, Verwendbares. Anders als bei der bekannten Formulierung in Bezug auf die Genesis, die von der »Schöpfung aller Dinge« spricht und damit den Beginn der Welt meint, verstehen wir das Ding doch eben nicht auch als Lebewesen wie einen Baum und ein Tier oder als Bestandteil der Umwelt wie einen Berg und eine Straße. Ein Ding ist für uns letztlich immer eine separierte Einheit, die, wenn sie menschengemacht ist, auch eine Funktion besitzt und innerhalb unserer Realitätsbildung zum Objekt wird. »Ding« bezieht sich folglich auch immer auf uns als Menschen, denn wenn wir etwas nicht so wahrnehmen, dann gibt es auch kein Ding. Ein Stein liegt einfach so herum. Wenn er aber dazu dient, eine Tür aufzuhalten, dann wird er plötzlich relevant: »Das Ding da.« Spannend, oder?
Solche Einsichten sind schon uralt. Die Philosophie entwickelte den Realismus für die Auseinandersetzungen über Sachen und Begriffe, und das scholastische Mittelalter diskutierte beispielsweise die Frage, ob ein Tisch erst zum Tisch wird, weil er diese Bezeichnung hat. Was wäre er sonst? Klar wird durch das alles jedenfalls, dass Dinge Bestandteile unseres Lebens sind, dass wir sie anfertigen oder definieren, nutzen und auch als Wert verstehen. Besonders reizvoll aber ist die symbolische Qualität: Keine Königin ohne Krone, kein Richter ohne Robe. Kein Kanzler ohne Flasche Bier, könnte man noch anfügen — denken wir an Gerhard Schröders berühmten Ausspruch. So klischeehaft das klingt, es hat seine faktische Bedeutung. In der Tat wurden nämlich jene zeichenhaften Objekte eingeführt, um Macht oder Kompetenz zu signalisieren, aber auch, um es uns leichter zu machen, abstrakte Qualifikationen zu akzeptieren: »Wer den Hut aufhat, hat das Sagen.«

 

Fassade der Villa Savoye in Poissy, gebaut in den Jahren 1887—1965 in einem Artikel über Kunst- und Objektliebe
© Photographer Paul Kozlowski, © FLC/ADAGP

 

Villa Savoye in Poissy, 1887—1965

 

Als der Schweizer Architekt und Mitbegründer der Klassischen Moderne Le Corbusier (1887—1965) soweit war, seine famose Villa Savoye in Poissy nach ihrer Fertigstellung mit den damals üblichen Schwarzweißaufnahmen dokumentieren zu lassen und er die gerade angefertigten Abzüge durchsah, fiel ihm ein kleines Defizit auf. Umgehend bat er seinen Fotografen Marius Gravot, ein paar Dinge in den Vordergrund einer Aufnahme der berühmten Sonnenterrasse auf dem Dach der Villa zu legen. Offenbar waren die anderen, im sachlich-modernen Stil gehaltenen Abbildungen doch zu unpersönlich geworden. Das Haus trat in diesen grundsätzlich menschenleer und steril auf, was seine architektonische Konzeption zwar klar und ablesbar werden ließ, der Nutzungsrealität jedoch keineswegs entsprach. Und was platzierte Marius Gravot nun in seinem Bild? Just die Insignien des Architekten: Brille, Hut, Zigaretten. So als habe sich Le Corbusier hinter uns nur kurz an die Dachbrüstung gestellt und würde sich gleich wieder seiner persönlichen Utensilien annehmen. Ein cleverer Kunstgriff, der mit der Präsenz des Nichtgezeigten spielt, ohne die dokumentierende Aufgabe der Architekturfotografie durch eine ablenkende Person im Bild zu gefährden. Wir als Betrachtende entscheiden, auf was wir uns konzentrieren — und damit letztlich auch, was die Botschaft des Bildes ist. Eine zweite Inhaltsschicht entsteht, allein durch jene vier Objekte.

Philippe Starck, 1949 in Paris geboren, ist ein Fan der alten Stile, vor allem des französischen Königshofs im Barock. Immer wieder finden sich in seinem Werk Reflexionen des Louis-seize, also des Rokoko. Damit es aber nicht so auffällt, dass gerade jener Star-Designer, der durchaus auch unkonventionell mit Motorrad, Trainingsjacke oder Kostüm auftreten kann, das »Altmodische« liebt, entwickelt er 2002 eine Camouflage-Lösung für einen Serienstuhl von Kartell: Er macht ihn durchsichtig und nennt ihn Louis Ghost. Denjenigen, die ihn kaufen, bleibt es nun überlassen, sich bewusst auf ein Stilmöbel zu setzen, oder es eben hinsichtlich seiner formal ausgedrückten Metaebene zu »übersehen« und es nur als einfachen Plastikstuhl zu nutzen — chacun à son goût. Für Starck gehört zum Design eben auch das Spiel, und dabei entsteht eine besondere Art der Kommunikation. Es wäre reizvoll anzunehmen, dass der Franzose die »Zehn Thesen für gutes Design« seines deutschen Kollegen Dieter Rams kannte. Der brave Rams mit seinen ordentlichen Entwürfen — beispielsweise für Braun oder FSB — fordert darin: »Gutes Design macht ein Produkt verständlich.« Und so etwas reizt Starck. Er will eben nicht, dass man etwas komplett erfassen kann und sofort »durchschaut« — wiewohl dies gerade bei einem Louis Ghost tatsächlich der Fall ist, in optischer Hinsicht. Wie auch immer: Die Versatilität eines Dings erweitert seine Präsenz.

Ein freigestelltes Bild von Philippe Starck für Kartell: Louis Ghost, 2002
© Kartell

 

Philippe Starck für Kartell: »Louis Ghost«, 2002

 

Ein dritter Aspekt: Wer ausschließlich mit einem Funktionsvorbehalt an die Dinge herangeht — und jedes Produkt unserer Leistungsgesellschaft in etwa so wie Loriots berühmten Gebrauchsverwender versteht —, der übersieht das, was die gebürtige Griechin Katerina Kamprani seit einiger Zeit für sich und uns durchdekliniert. Bei einem Studienkontakt mit dem Industriedesign entdeckte sie die Dysfunktionalität, die genauso zum Objekt gehört, wie seine Nutzbarmachung. Das Utensil, dessen Bezeichnung von brauchbar stammt, ist ja nicht daran gebunden, dass man es sinnvoll verwenden kann — der oben angeführte Stein kann ja auch im Weg liegen, anstatt die Tür aufzuhalten. Ihre Strategie beschreibt Kamprani folgendermaßen: »Ich liebe Surrealismus und Absurdismus. Für mich ist das eine andere Denkweise, die viel weniger streng ist als die Logik: Es geht nicht um richtig oder falsch, die Möglichkeiten sind also grenzenlos.« Ihr Ziel aber bleibt dabei immer ein positives: »Ich habe laut über meine eigene Kreation gelacht! Das brachte mich auf die Idee, tatsächlich Objekte für ein schlechtes Benutzererlebnis zu entwerfen, Objekte, die absichtlich unbequem sind.« Was für ein schöner Weg, unsere Gesellschaft an den Rand der Vernunft zu treiben.

 

Bild des Kunstwerks The Uncomfortable Broom von Katerina Kamprani, 2017
© The Uncomfortable by Katerina Kamprani

 

»The Uncomfortable Broom«, Katerina Kamprani, 2017

 

Gegenstände zeichnen sich aber nicht nur durch ihre Form und ihren Gebrauch aus — sie sind mitunter ebenso auch Trägerinnen von Botschaften respektive Signifikanten für einen Bedeutungszusammenhang. Vor allem die Bildende Kunst oder auch die Szenographie arbeiten damit. Beides gehört zum Berufsfeld des in Deutschland tätigen Serben Aleksandar Denić (geb. 1963). Als Teilnehmer der Biennale 2024 entschied er sich für eine Installation aus drei Objekten, die damit zu den Protagonisten einer Erzählung werden. Wie man sich diese Geschichte dann beim Besuch des Serbischen Pavillons auf der »Exposition Coloniale« weiterdenkt, das hängt von der individuellen Interpretation und Kreativität ab. Unmissverständliche Signale jedoch sind mit den verbauten Dingen verbunden: Die in den ukrainischen Nationalfarben lackierte Telefonzelle klingelt ab und zu, aber ohne ein Gespräch zu vermitteln. Die beiden alten Ölfässer — flankierend postiert — zeigen zwei Markenidentitäten, und zwar die des US-amerikanischen Texaco-Konzerns und die der russischen Firma Rosneft. Wir stehen demnach weniger vor drei etwas ältlichen Relikten, als gewissermaßen vor einem »Denkmal«. Beschreibungstafeln oder Führungen sind eigentlich nicht nötig: Wir verstehen den Hintersinn der Dinge.

 

Bild der »Exposition Coloniale«, Installation von Aleksandar Denić für den Serbischen Pavillon, Biennale, 2024
© Photo by Matteo de Mayda, Courtesy: La Biennale di Venezia

 

»Exposition Coloniale«, Installation von Aleksandar Denić für den Serbischen Pavillon, Biennale, 2024

 

Bild des Kunstwerks »Exposition Coloniale«, Installation von Aleksandar Denić für den Serbischen Pavillon, Biennale, 2024
© Photo by Matteo de Mayda, Courtesy: La Biennale di Venezia

 

»Exposition Coloniale«, Installation von Aleksandar Denić für den Serbischen Pavillon, Biennale, 2024

 

Im Übrigen — es gibt eine Kunstgattung, die nur aus Bildern von abgestellten Dingen besteht: das Stillleben. Natürlich sind sie kunstvoll komponiert. Kevin Best, der australische Fotokünstler, ist zweifellos ein Fan. Seine Arbeiten könnte man aus der Distanz ohne Zögern sofort im 17. Jahrhundert der Niederlande verorten — sofern man an die klassischen Motive denkt, samt mächtigen Rahmen drumherum. Aber: Während sich beim dichten Herangehen an die historischen Werke der Blick auf etwas Gemaltes insofern desillusioniert, als die Konturen dann gröber werden, irritierend pastos, und sich schließlich nicht mehr erkennbar in eine Farbenfläche auflösen, geschieht dies bei Best nicht. Jener nämlich ist ein akribisch inszenierender Fotograf. Und so verlieren die Objekte seiner Stillleben weder an Brillanz noch an Schärfe, egal aus welcher Distanz. Wir sehen exakt das, was verbildlicht wurde, so als ob es faktisch vor uns stünde — den Pokal, die Zitrone, den Teppich. Doch was ist mit den bekanntermaßen damals im Bild inkorporierten Bedeutungen und Geschichten? Sie sind noch da: »Oft webe ich komplexe Erzählungen in meine Arbeiten, deshalb beginne ich meistens mit einem einzelnen Objekt und füge andere hinzu, um eine Geschichte zu entwickeln, bis sie vollständig ist«, verrät er über sein Vorgehen.
Verständlich, denn wir leben im 21. Jahrhundert und lesen ein Bild auf unsere zeittypische Weise. Aber auch für uns werden die gezeigten Dinge zu Trägern einer Narration. Bereits Michel Foucault sprach in seiner Ordnung der Dinge an, dass Zeichen »auf Übereinkunft beruhen« können. Während man es im 17. Jahrhundert liebte, in ihnen Repräsentanten zu erkennen — für Lebensphilosophisches wie Vergänglichkeit oder das Laster der Völlerei —, begeistern wir uns für die Qualität der Wiedergabe oder das ästhetische Erlebnis. Auch wenn es nur um ein Glas oder eine abgeschälte Südfrucht geht.

Indes, dem einen oder anderen Ding wohnt tatsächlich eine besondere Qualität inne — es wird zu einem Fetisch. Gut beschrieben ist dies in Tom Wolfes (1930–2018) wunderbar ironischer Schrift From Bauhaus to our House, wo es um den unausweichlichen Einfluss des modernistischen Designs und der Bauhaus-Ästhetik auch auf die Kulturszene der USA in den 1950er Jahren geht — von Walter Gropius’ Architektur bis hin zu Mies van der Rohe und seinen Möbelentwürfen. »Die Wohnung jedes jungen Architekten und die Bude jedes Architekturstudenten«, so berichtet Wolfe, »war diese Schachtel und dieser Schrein. Und in diesem Schrein war immer die gleiche Ikone … der Barcelona-Stuhl. … Wenn man dieses heilige Objekt auf dem Sisalteppich sah, wusste man, dass man sich in einem Haushalt befand, in dem ein eben flügge gewordener Architekt und seine Frau alles geopfert hatten, um das Symbol der göttlichen Mission in ihrem Heim aufstellen zu können. Fünfhundertfünfzig Dollar!«
Manchmal wird es enorm kompliziert mit den Dingen. Vor allem dann, wenn sie etwas symbolisieren oder kommunizieren, also indirekt wirken. Geben wir auch dafür ein Beispiel: Es war einmal eine belanglose Satellitenschüssel auf dem Flachdach eines Ladengeschäfts im Südosten Londons. Im August 2024 entschloss sich der inzwischen weltberühmte, aber als Person anonyme Street-Art-Künstler Banksy, gerade jene hellgraue Schale mit einem schwarzen, heulenden Wolf zu besprühen. Dies wurde mit einem seiner Posts sofort publik, und die kunstaffine Öffentlichkeit geriet wie immer augenblicklich ins Schwärmen über die klug verpackte Botschaft in Banksys Grafik. Die banale Schüssel war offenbar zum Kunstobjekt geworden — instantaneously. Doch bereits eine Stunde nach ihrer öffentlichen Wahrnehmung stieg ein Vermummter am helllichten Tag per Leiter auf das Dach, demontierte und stahl sie. Aber was eigentlich trug die kleinkriminelle Gruppe dort trotz Passanten-Protesten einfach über die Einkaufsstraße weg? Ein Ding, eine Antenne ist es jedenfalls, allenfalls eine gegen ihre Nutzbarkeit besprayte Satellitenschüssel. Im Übrigen ist wohl davon auszugehen, dass zuvor schon der sprayende Künstler vermummt gearbeitet hatte, und etwas beschädigte, was ihm nicht gehörte. Also nur Sachbeschädigung und Entfernung von Müll? Oder ist es ein qualifizierter Kunstdiebstahl, oder vielleicht sogar ein Happening? Die Kunstwelt rätselt darüber, ob sie empört sein sollte. Manche sagen: unbedingt!

In die Reihe jener hier aufgeführten Eigenschaften der Dinge würde auch passen, dass sie mitunter zu persönlichen Begleitern werden und man ohne ein spezielles Objekt nicht mehr kann, oder dass sie uns als Individuum, als Person, regelrecht repräsentieren. Was im Laufe des letzten Jahrzehnts für viele sicher das Smartphone wurde, das ist schon seit mehr als hundert Jahren die Entspannungsgarnitur aus Kaffee und Zigarette. Egal ob man auf der Baustelle oder am OP-Tisch arbeitet — für nicht wenige ist sie Teil des Lebensstils. Dies gilt auch für den in New York lebenden Filmemacher Jim Jarmusch (geb. 1953). Der damals Fünfzigjährige fühlte sich diesen beiden Dingen seines Alltags sogar derart verbunden, dass er 2003 einen Episodenfilm drehte, der diese Konstellation behandelt und inklusive der dazugehörigen Tassen, Aschenbecher oder Tische in kleine Geschichten fügt — immer mit der für ihn typischen Lockerheit sowie subtilem Humor. Und eins wird während des Zuschauens sehr deutlich: Bei Kaffee und Zigaretten handelt es sich um Dinge, die viel Zeit, viel Genuss und viel Diskurs mit sich bringen — »Coffee, is that cool? … Yeah yeah, OK … Coffee? … Yeah. … OK man.« — auch wenn Letzterer bei Iggy Pop und Tom Waits am Kaffeetisch nicht immer der Klügste sein muss. Was soll’s!
Jim Jarmusch jedenfalls ist sich der Bedeutung der Dinge in unserer Welt sehr bewusst, und eben auch der Tatsache, dass wir uns mit ihnen ausstatten, um unseren persönlichen Auftritt zu erweitern oder zu stilisieren. Er lässt sich beispielsweise meistens mit einer dunklen Sonnenbrille fotografieren, was in Kombination mit der wilden, silbergrauen Frisur zweifelsohne auch zu seiner Selbstinszenierung gehört. Doch steckt — und dies mag die letzte weise Einsicht dieses Textes zur Be-Dingung des Lebens sein — manches Mal auch eine Schutzfunktion im Ding: gerade bei jener dunklen Brille vor den Augen. Bob Dylan schrieb 2004 in seiner Autobiographie Chronicles, dass er sich bei seinen Songs, die manchmal einfach inspiriert und ohne großen Gedankenaufwand entstanden seien, nicht selten gegen aufdringliche Neugier wappnen müsse. Außerdem könne er bei seiner Musik eben auch nicht alles erklären. Sein erster Griff wäre dann nach einem Ding, das auch Jim Jarmusch und vielen anderen oft das Leben gerettet hat: »Sometimes you just have to bite your upper lip and put sunglasses on.«

ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XI »TASTEMAKERS« – WINTER 2024/25