Rahmen sprengen

Julie Mehretu – Eine monumentale Künstlerin

Künstlerin Julie Mehretu bei der Arbeit an ihrem BMW Art Car
© Jackie Furtado

TEXT Sarah Wetzlmayr

Für die Gestaltung ihres BMW Art Cars schickte die für ihre großformatigen, abstrakten Gemälde international bekannte Künstlerin Julie Mehretu den BMW M Hybrid V8 durch eines ihrer Bilder. Und stellte fest: Es funktioniert. An die transformative Kraft der Kunst glaubte die in New York lebende Künstlerin jedoch schon vor dem für sie vollkommen neuen Projekt, erzählt sie im Interview für die Titelgeschichte von Chapter №X – »State of the Art«.

Mit großformatigen Arbeiten wie dem knapp 25 Meter breiten Wandbild »Mural«, das in der Lobby des in New York beheimateten Hauptquartiers von Goldman Sachs hängt, hat Julie Mehretu schon mehrmals dazu angesetzt, Rahmen zu sprengen. Mit der Gestaltung des aktuellen BMW Art Cars ist die 1970 in Äthiopien geborene und in New York lebende Künstlerin nun endgültig über sich selbst wie auch über die bislang für ihre Kunst geltenden Rahmenbedingungen hinausgewachsen. Wie das zu verstehen ist? Sie selbst skizziert den Entstehungsprozess ihres BMW Art Cars folgendermaßen: »Ich habe das Auto durch eines meiner Bilder geschickt.« Wir sprechen über Zoom und Julie Mehretu lacht. Dann muss sie niesen. »Es ist Frühling in New York«, sagt sie und beginnt zu erklären, warum das eben Gesagte nicht wortwörtlich zu verstehen ist. »Als ich darüber nachdachte, wie das Auto am Ende aussehen könnte, kam mir immer wieder dieses Bild in meinem Studio in den Sinn, das ich gerade fertiggestellt hatte. Das Modell des Art Cars stand daneben und da dachte ich, dass ich vielleicht versuchen könnte, das Auto durch das Gemälde zu bewegen.« Diese beinahe mystisch anmutende Anziehung zwischen den beiden Objekten führte jedoch nicht dazu, dass Julie Mehretu dem BMW M Hybrid V8 einfach ein bereits bestehendes Outfit überzog. »Das Gemälde tritt am Auto in remixter Form in Erscheinung. Würde man das fertige Art Car und das Bild nebeneinanderstellen, könnte man zwar spüren, dass sie zusammengehören, vermutlich jedoch nicht wirklich in Worte fassen, woher dieses Gefühl rührt«, sagt Mehretu, bevor sie uns noch tiefer in den gestalterischen Prozess mitnimmt. Für sie hätte es sich so angefühlt, als ob sich das Auto durch eine Art Portal bewegt hätte, um am anderen Ende in transformierter Form wieder aufzutauchen, hält sie fest. Zu diesen Schilderungen, die auch aus einem Science-Fiction-Film stammen könnten, passt auch, dass Julie Mehretu den BMW M Hybrid V8, der ihr als Leinwand diente, als »a car of dreams« bezeichnet, das in seiner Form wie auch in seinen technischen Möglichkeiten sämtliche Grenzen des Vorstellbaren sprengt. Oder auch: den Rahmen, in dem man sich bislang beim Thema Automobil bewegte.

O, DU SCHÖNE UNSCHÄRFE

Als sie die Anfrage von BMW bekam, sei sie vollkommen perplex gewesen, erinnert sich Julie Mehretu. Gleichzeitig hätte sie sich aber auch unglaublich geehrt gefühlt. »Im ersten Moment dachte ich mir, dass ich auf keinen Fall zusagen kann, weil ich nicht einmal im Ansatz eine Vorstellung davon hatte, wie ich das angehen könnte.« Im Frühjahr 2020, als sie aufgrund der Corona-Pandemie plötzlich mehr Zeit hatte darüber nachzudenken, ging sie die Anfrage noch einmal im Detail durch. Und kam zu folgendem Schluss: »Ich dachte mir: Mach es einfach. Das ist eine unglaublich spannende Möglichkeit, in etwas vollkommen Neues einzutauchen.« Dazu kam, dass der von ihr sehr geschätzte Okwui Enwezor, bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2019, Direktor des Hauses der Kunst in München, zur Jury gehörte. In seiner Begründung hielt er Folgendes fest: »Julie Mehretus Werk umfasst verschiedene Fragen der Bewegung, sie bringt Dynamik in Form. Julie hat ein sehr klares und fundiertes Verständnis davon, wie sich das Objekt im Raum verhält.« Bewegung ist ein gutes Stichwort, denn um die Dinge wirklich ins Laufen zu bringen, musste Julie Mehretu erst von laufenden Motoren umgeben sein. Sie besuchte das 24-Stunden-Rennen von Daytona und kam dadurch auf die Idee, bei ihrem BMW Art Car mit Unschärfen und Glitches zu arbeiten. Der Startpunkt, von dem sie ausging, war also alles andere als ein statischer, sondern eine Ansammlung sich bewegender, flirrender Objekte. Daher liegt es ihr auch fern, das von ihr gestaltete Fahrzeug als Skulptur zu bezeichnen. »Es ist ein Kunstwerk, aber auch ein Auto, das im 24-Stunden-Rennen von Le Mans zum Einsatz kommt«, hält die Künstlerin mit der für sie typischen Klarheit fest. »Mich interessiert, was mit dem Auto in diesen 24 Stunden passiert«, fügt sie hinzu. »Wie es sich verändert, welche Spuren die Strecke an dem Fahrzeug hinterlässt. All diese Fragen haben den kreativen Prozess für mich in ein völlig neues Licht getaucht. Es tat sich eine Spielwiese auf, auf der ich meiner Kreativität freien Lauf lassen konnte«, so Mehretu. Von dieser Spielwiese wird die Künstlerin im Laufe unseres Gesprächs noch öfter sprechen – wie auch von neuen künstlerischen Freiräumen, die sie durch die Arbeit am BMW Art Car für sich erschließen konnte. Es gäbe zudem viele Dinge, die sie aus dieser neuen Erfahrung in ihre künstlerische Praxis mitnehmen könne, ergänzt sie. »Vor allem die große Lust daran, bestehendes Material zu remixen.« Auch hier gilt also: Die Strecke (bis zum finalen Art Car) hat Spuren hinterlassen – im besten Sinne.

FELT AS MUCH AS READ

Darauf, welche Rolle Geschwindigkeit und damit verbundene Unschärfen in ihrer künstlerischen Arbeit spielen, werden wir noch im Detail zu sprechen kommen. Auf einer anderen, für ihre Arbeit ebenso wichtigen Ebene steht fest: Julie Mehretu möchte beweglich und offen bleiben. Sie will mit ihrer Kunst aber auch bewegen – auch dann, wenn sie, wie in den meisten Fällen, nicht die Form eines Hypercars hat. »I want the work to be felt as much as read«, sagte sie einmal in einem Interview. Als wir sie danach fragen, warum das so sei, antwortet sie gewohnt direkt und unprätentiös: »Ich finde Kunst vor allem dann spannend, wenn sie etwas in mir auslöst, mich bewegt und etwas in Gang setzt. Mich interessiert vor allem die sinnliche Reaktion auf etwas. Das trifft auf die bildenden Künste gleichermaßen zu wie auf Musik und andere Kunstformen.«

 

Kunstwerk von Julie Mehretu namens »Mural« aus dem Jahr 2009, das bei Goldman Sachs in der Lobby hängt
Tom Powel Imaging; © Julie Mehretu; Courtesy Künstlerin & Marian Goodman Gallery

 

»Mural«, 2009
Tinte und Acryl auf Leinwand
7 x 24 m
Goldman Sachs, New York

 

In Anlehnung an den Entstehungsprozess ihres Art Cars könnte man vielleicht sogar den Vergleich mit einer Form von magischem Portal bemühen. In der Abstraktion hat Mehretu eine Ausdrucksform gefunden, die ihr genau das ermöglicht. Der abstrakte Raum ist für sie vor allem ein Raum voller Möglichkeiten, der unabhängig von unserem Sprachsystem funktioniert und in dem es nicht um rationales Verstehen und logische Einordnung geht, sondern darum, eine sinnliche Erfahrung zu machen. »Es ist eine andere Form von Wissen«, hält sie nach einer kurzen Pause fest. Wer in Zusammenhang mit Julie Mehretus künstlerischem Werk über Abstraktion spricht, sollte auch den Begriff »Opacity« erwähnen, dessen direkte deutsche Übersetzung – »Opazität« – im täglichen Sprachgebrauch kaum zum Einsatz kommt, der aber so viel wie Undurchsichtigkeit, Intransparenz oder im eher übertragenen Sinne auch Undurchdringbarkeit bedeutet. In Interviews zitierte Julie Mehretu bereits mehrmals den auf Martinique geborenen Dichter Édouard Glissant, der einst in einem der Opazität gewidmeten Essay festhielt: »We clamour for the right to opacity for everyone.«

 

Gemälde der Künstlerin Julie Mehretu mit dem Titel "Out of the dreaming"
© Julie Mehretu; Courtesy Künstlerin, White Cube, London & Marian Goodman Gallery

 

»Out of The Dreaming«,  2022 – 2023
Tinte und Acryl auf Leinwand
243.8 × 304.8 cm

 

In der eng damit verbundenen Abstraktion läge für sie etwas Befreiendes, wie die Künstlerin bereits mehrfach in Interviews betonte. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich von jeglichen Traditionen lossagen möchte. Ganz im Gegenteil. »Die Art und Weise, wie ich Kunst mache, findet im Diskurs mit anderen Kunstschaffenden und anderen visuellen Ausdrucksformen statt – wie auch im Dialog mit der Geschichte der abstrakten Malerei. Ich empfinde mich selbst als Teil dieses Dialogs«, möchte Julie Mehretu unbedingt betonen. Das gilt auch für die Geschichte des BMW Art Cars, mit der sich die Künstlerin intensiv auseinandersetzte. Frank Stellas rasterartige Gestaltung von 1976 hätte sie unter anderem sehr inspiriert, so Mehretu. Wie es sich denn anfühle, sich einem konkreten Objekt, wie einem Rennwagen, auf abstrakte Weise zu nähern, möchten wir daran anknüpfend von ihr wissen. Sie hält für einen Moment inne und setzt schließlich mit ruhiger Stimme zu einer Antwort an: »Ein Fahrzeug wie der BMW M Hybrid V8 ist zwar ein konkretes Objekt, gleichzeitig jedoch unglaublich reich an Metaphern und Geschichte.« Damit zu spielen und damit die gesamte Bandbreite dessen auszuloten, was ein Auto sein kann, sei für sie ein großer Reiz gewesen, fügt sie hinzu. Ihre Arbeiten rein der abstrakten Kunst zuzuordnen, empfindet der amerikanische Konzeptkünstler Glenn Ligon jedoch als zu kurz gegriffen. Er sagt: »Julie is the painter I turn to when I want to think about how to trouble the line between abstraction and figuration, between local and global concerns, between painterly restraint and joyous abandon.«

Close up des BMW Art Cars von Künstlerin Julie Mehretu
© Tereza Mundilova

Auch sie selbst hielt einmal in einem Interview fest: »I think that there isn’t this binary between representational work and the abstraction. It’s much more blurry and messy.« Und da ist sie wieder – die Unschärfe, die sie auch bei der Konzeption ihres BMW Art Cars auf die richtige Spur – sozusagen auf die Ideallinie – brachte. Und die sich, wie sich in einem Interview mit der New Yorker Kuratorin Adrienne Edwards herauskristallisiert, ab dem Jahr 2012 mehr und mehr in ihrem Werk ausbreitete. Immer seltener dienten ihr Karten, Stadtpläne und Architektur als Grundlage für ihre vielschichtigen Gemälde. Zudem kommt der Airbrush immer häufiger zum Einsatz und sie beginnt, in Massenmedien abgedruckte Fotografien als Basis zu verwenden. In einem Interview mit einem amerikanischen Kunstmagazin erzählt sie, dass es diesen Moment gab, in dem sie ein Bild des Bunkers von Saddam Hussein auf eine Leinwand projizieren wollte, der Projektor aufgrund eines Fehlers jedoch ein verschwommenes Bild ausspuckte. »And, I don’t know, something was so profound to me, and so potent, in that image. It felt like everything I was trying to do with this architectural drawing just emerged in this blur. It felt like the specters of that image, the light and the forms, allowed for this other kind of dynamic to exist in the image. So, then I actually decided to start playing with that in Photoshop… I really wanted it to look like this kind of haze of a blur where you can’t see the image yet the form and suggestion of color and light are still apparent.«

BMW art Car der Künstlerin Julie Mehretu fotografiert im Studio
© Andre Josselin
Skizzen des BMW Art Car der Künstlerin Julie Mehretu
© Andre Josselin

Nach wie vor oszillieren viele ihrer Arbeiten zwischen Zeichnung und Malerei und verlangen es dem Betrachter oder der Betrachterin ab, sie aus unterschiedlichen Perspektiven und Distanzen zu erfassen. Wobei »erfassen« im Kontext ihrer flimmernden, aus unzähligen Ebenen bestehenden, häufig großformatigen Gemälde mit Sicherheit das falsche Wort ist. Wer sich in sie hineinwirft, hat immer noch die vielen von ihr gesetzten, gestischen Markierungen, um sich – wie an Rettungsbojen –festzuhalten, im besten Fall lässt man sich jedoch einfach treiben. Oder um wieder zum Begriff der Opazität zurückzukehren: Ihre Bilder zur Gänze zu durchleuchten, sollte keinesfalls das erklärte Ziel sein. Selbst mit kunsthistorisch geschultem Röntgenblick würde es einem nicht gelingen, ihre Arbeiten vollkommen zu durchdringen. In einem Interview mit dem Flash Art Magazine erzählte sie von einem Kritiker, der sich bemühte eines ihrer Bilder zu ergründen, der wortwörtlich bis auf den Grund blicken wollte, die »Opacity« ignorierend: »I remember, I even had a critic ask me one time. ›Well what does this mark mean?‹ He literally went through the piece and asked about every mark.«

»…In einer Welt, die so sehr von Algorithmen bestimmt ist, ist das Setzen einer Markierung auf einem Stück Papier für mich eine Aktion, die außerhalb dieses Systems existiert.« 

GRENZEN ÜBERSCHREITEN

Den eben erwähnten Röntgenblick braucht man auch nicht, um etwas über Julie Mehretus bisherigen Weg zu erfahren. In Interviews spricht sie ausführlich und offen über die vielen Umzüge in ihrer Kindheit und Jugend, die sie später — in ihrer Kunst — noch prägen sollten. »There was this military dictatorship in Ethiopia, and it was a hairy moment where the government was eradicating intelligentsia und intellectuals«, erzählt die Tochter eines Universitätsprofessors im Fach Geografie und einer Montessori-Lehrerin. Über ihre künstlerischen Anfänge sagt sie: »When I started my MFA, I was making big, abstract oil paintings that looked gestural and expressionistic, even though I wasn’t interested in them looking like that.«

 

Gemälde von Künstlerin Julie Mehretu mit dem Titel »Untitled 1« aus dem Jahr 2001,
© Julie Mehretu; Courtesy Künstlerin & Marian Goodman Gallery

 

»Untitled 1«,  2001
Tinte und Acryl auf Leinwand
152.4 ×  213.4 cm

 

Wer Julie Mehretu kennenlernt, hat einen Menschen vor sich, der mit Leib und Seele Kunst machen, aber keinesfalls Zuschreibungen, die von außen auf ihn einprasseln, verkörpern möchte. Sie passt in keine Schublade — nicht nur aufgrund der Größe vieler ihrer bekanntesten Gemälde. Julie Mehretu ist zudem eine Künstlerin, die sich, wie sie im Interview erzählt, im Laufe ihrer Karriere immer mehr für die aktivistische Seite ihrer künstlerischen Tätigkeit interessierte. Die Frage danach, was sie darunter genau versteht, beantwortet sie folgendermaßen: »Es passieren so viele Dinge in unserer Welt, vor allem aufgrund des nur so dahin rasenden technologischen Fortschritts, die uns das Gefühl vermitteln, dass wir als Menschen kaum noch individuelle Handlungsfreiheit haben. Ich spreche nicht von einem übersteigerten Individualismus, sondern eher davon, als Individuum das Gefühl zu haben, das eigene Umfeld aktiv mitgestalten zu können – vielleicht sogar Veränderungen herbeizuführen. Ich glaube fest daran, dass das Zeichnen eine sehr intime und unmittelbare Form des Beharrens darauf ist, hier zu sein. Wie auch ein Beharren auf genau diesen individuellen Möglichkeiten. In einer Welt, die so sehr von Algorithmen bestimmt ist, ist das Setzen einer Markierung auf einem Stück Papier für mich eine Aktion, die außerhalb dieses Systems existiert.«

 

Gemälde der Künstlerin Julie Mehretu mit dem Titel »Black Ground (deep light)« aus dem Jahr 2006
Erma Estwick; © Julie Mehretu; Courtesy Künstlerin & Marian Goodman Gallery

 

»Black  Ground (deep  light)«,  2006
Tinte und Acryl auf Leinwand
182.9 × 243.8 cm


Darüber hinaus bedeutet das jedoch auch, dass das BMW Art Car nach seinem großen Aufritt beim 24-Stunden- Rennen von Le Mans noch nicht in den Ruhestand geschickt wird, sondern seine Ausdauer auch noch in ganz anderer Form unter Beweis stellen wird. Mit der »PanAfrican Translocal Media Workshop Series« auf dem afrikanischen Kontinent wird die Zusammenarbeit zwischen Julie Mehretu und BMW im Jahr 2025 fortgesetzt. Gemeinsam mit Mehret Mandefro, Emmy-nominierte Produzentin, Autorin und Mitbegründerin des Realness Institute, das sich für die Stärkung des Medienökosystems in ganz Afrika einsetzt, wird Julie Mehretu im Laufe von neun Monaten Workshops in acht afrikanischen Städten ausrichten, um Kunstschaffenden einen Raum für Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit zu ermöglichen. Anschließend werden die Ergebnisse der Workshops im Zeitz Museum of Contemporary Art Africa in Kapstadt präsentiert — gemeinsam mit dem 20. BMW Art Car. Zentraler Partner für die Konzeption des Programms ist die 2004 von Julie Mehretu, Lawrence Chua und Paul Pfeiffer gegründete Künstlerresidenz Denniston Hill in Upstate New York. Auch bei dem zweiten Teil ihrer Zusammenarbeit mit BMW ging es ihr, wie sie hinzufügt, unter anderem darum, auszutesten, was dieses Auto alles (sein) kann. »Really pushing the imagination of what this car could be« ist ein Satz, der während unseres Interviews mehrmals fällt und der, über das BMW Art Car hinaus, bezeichnend für ihre Arbeit ist. Dazu passt auch, dass sie ihre künstlerischen Arbeiten als »space for possibility and for invention« betrachtet. »In terms of actual social change, it will not alleviate many systemic problems we have, such as our really shitty education system or poverty or hunger. But I think there’s room for many levels of working on social change.«

VOM ABSTRAKTEN INS KONKRETE

Obwohl in Zusammenhang mit Julie Mehretus künstlerischer Arbeit naturgemäß vor allem von Abstraktion die Rede sein muss, möchten wir ein paar konkrete Zahlen nicht unerwähnt lassen. Ihr 7 × 24 Meter großes Wandgemälde »Mural« hängt in der Lobby des Goldman Sachs-Hauptquartiers und wurde vom amerikanischen Kunstkritiker Calvin Tomkins als »the most ambitious painting I’ve seen in a dozen years« bezeichnet. Ihr Gemälde »Untitled 1« (2001) wurde 2010 beim Auktionshaus Sotheby’s für mehr als eine Million US-Dollar verkauft und ihre Arbeit »Black Ground (deep light)« (2006) bei Sotheby’s in Hong Kong für 5,6 Millionen US-Dollar versteigert. »Untitled« (2001) konnte — ebenfalls bei Sotheby’s in Hong Kong — für 9,32 Millionen US- Dollar versteigert werden. Im Jahr 2023 verkaufte der Unternehmer Michael Ovitz Julie Mehretus »Walkers With the Dawn and Morning« (2008) für 10,7 Millionen Dollar. Nie zuvor erzielte ein Kunstwerk einer BIPOC-Künstlerin eine höhere Summe. Zudem bekam sie 2005 den renommierten »Genius Grant« der MacArthur Foundation und 2015 die U.S. State Department Medal of Arts. 

Rückansicht des BMW Art Cars von Künstlerin Julie Mehretu fotografiert im Studio
© Tereza Mundilova

Dafür, dass Julie Mehretu zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gerade die Eröffnung der bislang umfassendsten Ausstellung ihrer Werke in Europa hinter sich gebracht hat, wirkt sie außerordentlich gelöst und entspannt. »Ensemble« lautet der Titel jener Ausstellung, die bis 6. Januar 2025 im Palazzo Grassi in Venedig zu sehen war. Der Name war Programm, denn ihre eigenen Bilder treten im Rahmen dieser Ausstellung mit Werken befreundeter Kunstschaffender wie Nairy Baghramian, Huma Bhabha, Tacita Dean, David Hammons, Robin Coste Lewis, Paul Pfeiffer und Jessica Rankin in einen spannenden Dialog. Ob es ihr leicht fiele, zufrieden auf das bisher von ihr geschaffene Werk zurückzuschauen, fragen wir sie noch schnell, bevor sich das Fenster der Videokonferenz-App wieder schließt. »Manchmal denke ich natürlich darüber nach, ob ich da und dort nicht vielleicht etwas anders gemacht hätte, aber am Ende sind die Bilder das, was sie sind. Manchmal schaue ich aber auch ein Bild von mir an und denke: Wow, wie hast du das eigentlich hinbekommen?« Ob sich beim Art Car dieses Gefühl der Zufriedenheit auch eingestellt hätte? »Absolut. Ich bin gerade aus dem Studio zurückgekommen und habe dort das Modell gesehen. Es sieht fantastisch aus!« Sie lacht und wir verabschieden uns. Vermutlich kitzelt der Frühling immer noch in ihrer Nase. Und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit kitzelt es Julie Mehretu auch bereits wieder in den Fingern. Es gilt noch viele weitere Rahmen zu sprengen.