Text und Interview Dzenana MUJADZIC
Jil Sander gilt als eine der visionärsten Gestalterinnen unserer Zeit. Ein wirklich umfassendes Verständnis ihres Werks erschließt sich jedoch erst, wenn man ihre kreative Haltung in ihrer Gesamtheit berücksichtigt, welche einem tiefgreifenden Verständnis kultureller Mehrdimensionalität zu entspringen scheint: dem Zusammenwirken ideeller, formaler und sozialer Ebenen, der Fähigkeit, intermediale Wechselwirkungen zu erfassen und einem agilen Umgang mit Perspektiven. Als Konsequenz dieses Verständnisses, übertrug sie ihre Gestaltungshaltung dynamisch auf Mode, Grafik- und Produktdesign ebenso wie auf Architektur, Garten- und Landschaftsarchitektur — um nur einige Disziplinen zu nennen.
Authentizität ist Teil der Persönlichkeit, etwas Unwillkürliches, das wir uns bewahren sollten, betont Jil Sander gleich zu Beginn unseres Gespräch. Ein Attribut, das die 1943 geborene Designerin und ihr Werk seit nahezu sechs Jahrzehnten grundlegend prägt. Warum manche Menschen leichter Zugang zu dieser dem Menschen inhärenten Authentizität finden als andere, erklärt sie damit, dass sich diese bereits früh in der Kindheit äußere, jedoch durch Erziehung unterdrückt werden könne. Sie selbst habe das Glück gehabt, dass ihre Eltern sie in ihren entschiedenen Vorstellungen gewähren ließen.
Und tatsächlich wirkte Heidemarie Jiline Sander, wie ihr Geburtsname lautet, bereits in jungen Jahren sehr entschieden in ihren Lebensvorstellungen. »Zweifel sind mir erst in der von strengem Lehrpersonal geprägten Schulzeit gekommen. Aber da war es schon zu spät, um mich zu entmutigen «, erzählt sie uns. Und so ging sie 1964 nach dem Abschluss ihres Studiums an der Textilingenieurschule Krefeld als Austauschstudentin nach Los Angeles. In jener Zeit zweifellos eine selbstbewusste Entscheidung, die — getroffen von einer 21 Jahre jungen Frau — als unkonventionell gegolten haben dürfte. Die Vermutung liegt nahe, dass genau solch eine Unbeirrtheit später auch Ausdruck in der Integrität ihrer gestalterischen Handschrift fand.
Nach ihrer Rückkehr nach Hamburg arbeitete sie zunächst als Moderedakteurin für verschiedene Frauenzeitschriften. Diese Tätigkeit schärft ihre visuelle Sensibilität, doch was sie wahrnimmt, entspricht »weder ihrem Verständnis von Proportion und Material, noch ihrem Frauenbild oder ihrer Intuition für die seismografischen Verschiebungen in den ästhetischen Bedürfnissen einer sich rasch wandelnden Gesellschaft«, wie es im Katalog zu Sanders weltweit ersten Einzelausstellung »Jil Sander. Präsens« im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt (2017/18) heißt. 1968 beschließt sie ihre erste Boutique im Hamburger Stadtteil Pöseldorf zu eröffnen. Sie verkauft zunächst ausgewählte Ready-to-wear Mode — ein damals neues Konzept, das Mode mit Designanspruch demokratisierte, weg von der Exklusivität der Haute Couture. Doch Sander beschließt schon früh, das Sortiment auch um eine eigene Kollektion in kleinem Umfang zu ergänzen. Sie ahnte wohl noch nicht, dass ihre persönliche Vision einer neuen Art sich zu kleiden Maßstäbe setzen wird.
MODERNE ALS HALTUNG
Als wir sie nach dem Ursprung ihres kreativen Antriebs und jenem Moment fragen, in dem sie erkannte, selbst zu einer gestaltenden Kraft der Kulturlandschaft geworden zu sein, werden sowohl ihr Gespür für kulturprägende Tendenzen als auch ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion deutlich: »Ich war mit meinen Ideen ja nicht allein, ich habe nur die moderne Vision, die sich in der zeitgenössischen Architektur und im Produktdesign durchsetzte, auf die Mode übertragen«, stellt Sander klar und setzt dabei zunächst Zeitlichkeit und ihre eigene Rolle in einen Kontext, als wolle sie denjenigen, die vor ihr kamen, Tribut zollen. Wenn man diese Feststellung als Ausdruck von Bescheidenheit verstehen möchte, dann deutet diese aber nicht auf das Verkennen des eigenen Einflusses hin, sondern auf die richtige Einordnung. Denn, so die Designerin, die treibende Kraft der Modernisierung sei überall spürbar gewesen und bezieht sich dabei auf die omnipräsente Aufbruchstimmung der Sechzigerjahre. Sie schöpfte daraus nicht nur Inspiration für ihre eigene Arbeit, sondern auch ein starkes Bewusstsein für Material, skulpturale Gestaltung und das Bedürfnis, innovative Stoffe zu entwickeln. »In meiner Heimatstadt Hamburg war die britische Tailoring-Tradition noch sehr präsent, sodass ich mit herausragenden Stoff- und Verarbeitungsqualitäten vertraut war. Ich habe sie nur modernisiert, um interessante neue Effekte zu erzielen«, erklärt Sander.

Links: Das Konzept des Pariser Flagshipstores an der Avenue Montaigne, das in enger Zusammenarbeit zwischen Architekt Michael Gabellini und Jil Sander entstand, spiegelte ihre ästhetischen Vorstellungen auf präzise Weise wider und setzte neue Maßstäbe in der Verbindung von Mode und Raum – etwa mit einer vom Bauhaus inspirierten Spiraltreppe; Rechts: Die Bedeutung, die die Designerin Technik, Proportion und dem kreativen Umgang mit Dreidimensionalität beimisst, war es auch, die sie ursprünglich zur Architektur geführt hat; Showroom San Francisco.
Es ist genau dieser Modernisierungsgedanke, der Sander seit jeher antreibt. Doch Zukunftszugewandtheit und eine positive Identifikation mit Modernität stünden nicht mehr hoch im Kurs, meint Sander, und erklärt:
»Ich bin eine Verfechterin der Moderne, einer Haltung, von der heute nur noch selten die Rede ist. Damit meine ich keinen festgelegten Stil, sondern das Bedürfnis, Dinge gemäß dem Stand der Technik und einer zeitgenössischen Ästhetik zu optimieren.«
Dieses persönliches Streben nach kontinuierlicher Weiterentwicklung prägte bereits ihre Vision als junge Modedesignerin. Während im Paris der Sechzigerjahre noch das klassische, damenhafte Frauenbild der Pariser Couture dominierte, richtete Sander ihren Blick lieber nach vorne. Mit ihren Entwürfen wollte sie Frauen davor bewahren, eine herkömmliche Vorstellung von Weiblichkeit übergestülpt zu bekommen. Es sei ihr, so Sander, stets um Gegenwartszugewandtheit und ein Understatement gegangen, das Aufmerksamkeit und Respekt erzeugt. Die Persönlichkeit, betont sie, dürfe nicht von Kleidung überspielt werden und wird persönlich: »Als Geschäftsfrau war ich mein eigenes Versuchsobjekt, es ging mir darum, dass man mich als Verhandlungspartnerin ernst nimmt.« Und das wurde sie: Die Tatsache, dass sie 1989 als erste Frau ihr eigenes Unternehmen an die Frankfurter Börse brachte, ist sicher eine Demonstration dieses Anspruchs.
Eine klare Haltung bestimmte auch die strategischen Entscheidungen, die sie im weiteren Lauf ihrer Karriere traf. 1999 geht sie ein Joint Venture mit Prada ein, verlässt das von ihr gegründete Unternehmen jedoch kurz darauf. In den Folgejahren kehrt sie mehrfach zurück, um erneut die kreative Leitung zu übernehmen, bevor sie sich 2013 aus privaten Gründen endgültig zurückzieht. Seit 2021 gehört die Marke »Jil Sander« nach mehreren Eigentümerwechseln dem italienischen Modekonzern OTB.
PERSPEKTIVE IN NEUEM KONTEXT
Unabhängig von der Entwicklung des gleichnamigen Unternehmens über die Jahrzehnte blieb Jil Sanders eigene Haltung zur Gestaltung stringent. Ihre Vision von Kleidung als Ausdruck von Persönlichkeit und Gegenwartszugewandtheit setzt sich auch in ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Routinierten und Vorhersehbaren fort. Als Verfechterin eines neuen Umgangs mit dem Gewohnten wird verständlich, weshalb Sander alles Berechenbare und Formelhafte mit Vehemenz ablehnt. »Mein Design hat keine Formel,« stellt sie klar. Berechenbarkeit sei sogar ein neuralgischer Punkt, auf den sie allergisch reagiere. »Wenn die Dinge zu vertraut und berechenbar werden, sind sie überfällig für eine Revision im Sinne des Zeitgeists. Dafür bin ich sehr sensibel. Design ist auch das Wagnis, etwas Ungesichertes auszuprobieren. Kollektionen sind Vorschläge, sie müssen sich etwas trauen, um relevant zu sein. Für mich war es ein großer Reiz, viermal im Jahr den Tisch im Atelier leer zu räumen und von vorne anzufangen.« Entwurfsarbeit, so Sander, sei für sie stets eine Sondierung von Möglichkeiten, die noch nicht durchgespielt worden sind. »Diese Wette auf die Zukunft braucht wache Sinne, die kann uns keine Künstliche Intelligenz abnehmen«, ergänzt sie.
Sander streift mit dieser letzten Bemerkung den fundamentalen Unterschied zwischen leblosen Formeln und der pulsierenden Intuition im kreativen Prozess. »Formeln gehören zum Verbrauchten, über das Mode und Design hinausgehen müssen. Ich bin viel zu nahe bei den Dingen, sehr taktil und mit einem ultrakritischen Auge ausgestattet«, betont sie und verweist dazu auch auf eine philosophische Lektüre:
»Man muss nur Karl Popper lesen: Wahrheiten und Formeln bleiben immer vorläufig.«
Man glaubt ihr also, wenn sie sagt: »Ich habe eine starke pädagogische Seite, ich diktiere nie, sondern versuche zu überzeugen.« Mit persönlicher Überzeugungsarbeit, habe sie ein Team um sich versammelt, das ihre Idee verstehe und verkörpere. »Dazu braucht es Gespräche und die Auseinandersetzung über Qualitätskriterien«, präzisiert sie den kontinuierlichen Austausch, der dafür sorgt, dass Sanders künstlerischer Ausdruck im Umsetzungsprozess gewahrt bleibt, egal ob es um Kampagnenfotografie oder das Design ihrer heute ikonischen Parfumflacons geht.

Ein handwerkliches Meisterstück: Der Flakon ihres Dufts Woman Pure und Man Pure aus dem Jahr 1979, den sie gemeinsam mit dem Designer Peter Schmidt entwarf, folgt einer von moderner Architektur und Kunst inspirierten Formensprache; wochenlange Experimente in italienischen Glasbläserwerkstätten waren nötig, um die scharfen Kanten des Doppelwürfels unzerbrechlich zu machen.
Ihr kompromissloser Anspruch, die eigene Integrität zu wahren, dürfte einer der Gründe für Sanders anhaltende Relevanz als Gestalterin sein. Integrität sei alles, was Designer, Künstler und Architekten hätten, betont sie. Den Verlust der eigenen Handschrift setzt sie mit dem Verlust von Bedeutung gleich. Ein Statement, das von Respekt und einem tiefen Verständnis für kulturelles Erbe und dessen Weiterführung zeugt. Wir fragen, wie künstlerischer Ausdruck und persönliches Wachstum in Verbindung stehen? »Vielen fällt es schwer, angesichts der großen, oft deprimierenden Herausforderungen die Initiative zu bewahren und ihre kreative Phantasie zu engagieren. Aber wir brauchen Visionen, um Zuversicht zu vermitteln«, entfernt Sander sich in ihrer Antwort von der eigentlichen Frage, aber die Botschaft bleibt dennoch unmissverständlich.
EINE SINNLICHE ERFAHRUNG
Wenn man über Jil Sanders Werk spricht, dann scheint das Verfolgen eines linearen Zeitprinzips nicht angemessen oder dienlich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass alles, was sie kreiert, um ein konzeptuelles Zentrum mit dem Anspruch auf Zeitlosigkeit rotiert. Der Wunsch nach einer gewissen Einordnung ist dennoch schwer abzuschütteln — und in diesem Zusammenhang interessiert uns, ob sie glaubt, ihre Vision von Modernität bedürfe heute mehr oder weniger Erklärung als früher?
»Mit Erklärungen ist nichts getan. Die Menschen müssen meine Entwürfe an sich ausprobieren, um zu verstehen, worauf ich hinauswill. Denn sinnliche Erfahrung ist ein starkes Argument«, entgegnet sie deutlich.
Laut Sander würde sich an der sinnlichen Wahrnehmung auch der ästhetische Instinkt schulen. Ein kulturell stimulierendes Umfeld könne viel zur frühzeitigen Ausbildung des Geschmacks beitragen, sagt sie und warnt gleichzeitig davor, den Begriff des »guten Geschmacks« zu starr zu definieren — denn ein zu festgelegtes Verständnis könne die Sinne und Spürsinn ebenso blockieren wie schärfen.

Mit Erklärungen wäre nichts getan … sinnliche Erfahrung sei ein starkes Argument, so Sander; Kampagnenbild, 1998.
Was zunächst die Sinne übernehmen, wird später fortgeführt von Erfahrungswerten. Geschmack sei nichts Starres, sondern entfalte und verändere sich mit der Erfahrung — bleibe diese Entwicklung aus, verliere man leicht den Bezug zur Gegenwart. »Damit will ich nicht sagen, dass der Zeitgeist immer recht hat. Jenseits von Formeln gibt es ein Gefühl für Proportionen, Materialentfaltung, frische Harmonien und Balancen, das gelungenes Design charakterisiert und neue Klassiker kreiert«, merkt sie kritisch an.
KLASSIKER VEREDELN
Genau an dieses Gefühl knüpft auch die jüngste Kooperation der Designerin mit der Traditionsmarke Thonet an — einem Unternehmen, dessen Rolle im Möbeldesign des 19. und 20. Jahrhunderts durch Gestalter wie Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Marcel Breuer bis heute nachwirkt. Ein gestalterisches Kulturgut, mit dem Sander bereits zu Schulzeiten in Berührung kam: »Die Ästhetik des Bauhauses in der Architektur, in den Objekten, in der Grafik war in meiner Jugend sehr präsent und hat mich tief beeinflusst.«

Neuinterpretation von Marcel Breuers Freischwinger-Modell S 64 im Jil Sander-Showroom in Hamburg.
In Breuers Stahlrohr-Klassiker aus den späten 1920er Jahren findet sie ihre eigene Gestaltungsprinzipien in neuer Form und neuem Maßstab vor: harmonische Proportionen, bedachte Dreidimensionalität, Understatement und dynamische Eleganz. Demnach ist es wenig verwunderlich, dass die Neuinterpretation im Rahmen der Signature-Kollektion JS . THONET eher wie eine optisch zeitgemäße Hommage an Breuers ikonischen Entwurf wirkt. »Seine Konstruktion und Grundstruktur sind überzeugend und haben eine zeitgemäße Würdigung verdient«, sagt Sander. Nach dem Motto »why fix something when it’s not broken« konzentriert sie sich auf subtile Veredelung. Der Freischwinger wirke als sei er nur gründlich poliert worden, so Sander — trotz Überarbeitung sei er sofort wiederzuerkennen. Als Inspirationsquellen für ihre Neuinterpretation des Modells S 64 nennt Jil Sander unter anderem den Lack von Steinway-Flügeln, die Lederpolsterung eleganter englischer Autos und das matte Nickelsilber von Architekturelementen — einer Metalllegierung, die sie bereits in der Raumgestaltung ihrer Flagshipstores einsetzte.
IM GROSSEN MASSSTAB
Die Wichtigkeit die Sander Technik, Proportion und dem kreativen Umgang mit Dreidimensionalität beimisst, durchzieht nicht nur diese Zusammenarbeit, sondern führte sie auch ursprünglich zur Architektur. Für die Gestaltung ihres ersten Flagshipstores in der Pariser Avenue Montaigne Nr. 50 im Jahr 1993 beauftragte sie den amerikanischen Architekten Michael Gabellini. Das Konzept, das in engster Zusammenarbeit mit der Designerin entstand, spiegelte ihre ästhetischen Vorstellungen von Licht, Proportionen und Materialität präzise wider und setzte neue Maßstäbe in der Verbindung von Mode und Raum.

Der Jil Sander Flagshipstore in London.
Im Katalog zur Ausstellung »Jil Sander. Präsens«, kuratiert von Matthias Werner K, heißt es dazu: »Beim Design des Innenraums widersteht Jil Sander der Versuchung, Leere vollständig aufzulösen.« Wir fragen in diesem Zusammenhang nach dem Stellenwert, den sie der rein visuellen Erfahrung eines Raums beimisst.
»Ich habe großen Respekt für Räume, die sich auf besondere Weise visuell erfahren lassen und die man nicht vergisst. Sie bestärken uns im Gefühl des Lebendigseins und machen Architektur zu einer eigenen Kunstform.«
Leere im Raum sehe sie — und man fühlt die Furchtlosigkeit, mit der Sander neuen Möglichkeiten seit jeher begegnet — als Chance zur Entfaltung einer selbstbewussten Individualität. Besonders charakteristisch für das Interior Design jenes Flagshipstores sind die »fliegenden Wände« und die vom Werk des Künstlers James Turrell inspirierten Lichtstimmungen, die eine schwebende, beinahe immaterielle Raumwirkung erzeugen. Matthias Werner K bemerkt dazu: »Für Jil Sander ist die Modellierung der Wände durch unterschiedliche Helligkeitsgrade faszinierender als ein ausdrucksstarkes Spiel von Licht und Schatten.« Die Sanftheit des Mediums Licht sieht er als hervorragend dazu geeignet, die Intentionen der Designerin zu vermitteln.
ABWESENHEIT ALS BOTSCHAFT
Auch in unserem Interview kommt die Strukturierung mittels Licht zur Sprache — allerdings im Zusammenhang mit Kunst. Einen der ersten bleibenden Eindrücke habe das künstlerische Werk des Malers Robert Ryman (1930 – 2019) bei ihr hinterlassen, sagt Sander. Vor allem bekannt ist er für seine meist monochromen, reduzierten Gemälde, die subtil in Textur, Technik und Trägermaterial variieren und durch den unregelmäßigen Farbauftrag strukturierte Oberflächen erzeugt und so Licht erfahrbar macht. »Seine weißen Gemälde haben mich in der Skepsis gegenüber starken Farben bestätigt. Er hat gezeigt, dass man auch Weiß in Weiß malen kann, ohne zu langweilen.« Sie weiß, dass es keinen plakativen grafischen Rhythmus braucht, um Wirkung zu erzielen.

Eine Videoinstallation, entstanden im Rahmen der Ausstellung »Jil Sander. Präsens« im Museum Angewandte Kunst Frankfurt (2017/18), gewährt einen poetischen Einblick hinter die privaten Gartenmauern Jil Sanders am Plöner See, unweit ihrer Heimatstadt. Die Natur erscheint hier als ein intuitiver Ort, der den gegenwärtigen Moment, den die Designerin so schätzt, ein wenig greifbarer macht.
Es ist das Changieren von Licht und Schatten, das einen Raum für Sander interessant macht — sie erkennt darin sogar Parallelen zwischen gelungenen Räumen und einem Garten. »Auch in inspirierenden Räumen ist die Natur zu spüren, durch ihren Sinn für Proportion und nicht zuletzt durch die Regie von Licht und Schatten,« so ihre Beobachtung. Sanders privater Garten am Plöner See in Norddeutschland ist eine zeitgenössische Version des traditionellen, englischen Gartens von Sissinghurst Castle in Kent — jenem historischen Garten, der ab 1930 von Schriftstellerin Vita Sackville-West angelegt wurde. Eine Videoinstallation, entstanden im Rahmen der Ausstellung »Jil Sander. Präsens« im Museum Angewandte Kunst Frankfurt, gewährt einen poetischen Einblick hinter die Gartenmauern. Die Natur erscheint hier als ein intuitiver Ort, der den gegenwärtigen Moment, den Sander so schätzt, ein wenig greifbarer macht.

Für Sander macht das Wechselspiel von Licht und Schatten einen Raum interessant, wobei sie Parallelen zwischen gelungenen Räumen und Gärten sieht, in denen die Natur durch Proportionen und Lichtführung spürbar wird. Ihr privater Garten ist eine zeitgenössische Version des Gartens von Sissinghurst Castle in Kent.

Im begleitenden Ausstellungskatalog findet sich dazu folgende Beschreibung: »In einer im englischen Stil gestalteten Landschaft befinden sich vier quadratische Räume, von Hecken eingerahmt. Einer ist den Rosen gewidmet, einer einem Apfelgarten, der nächste Beerensträuchern, Pflanzen zum Schneiden und einem Küchengarten. Doch der vierte Raum blieb leer: ein quadratischer Rasen — Jil Sanders Hommage an die asiatische Kultivierung der Leere, die ihre stärkste Ausprägung in den Tempelgärten der Zen-Religion findet. Diese spirituellen, trockenen Räume aus groben Steinen, Kies und Moos sind der Meditation gewidmet. Fern von westlichen Paradiesvorstellungen sollen sie zur Eingewöhnung an das Nichts dienen.« Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, wenn sie in unserem Gespräch erklärt, jede Art von Weltbild sei immer auch eine Einschränkung — und sie sich daher ungern darauf festlege. Doch ergänzt sie diesen Gedanken mit einer persönlichen Differenzierung:
»Wenn ich mich manchmal in Zen-Gedanken oder auch in astrologischen Aspekten wiedererkenne, dann ist das spielerisch, und ich vergesse es gleich. Aber ich bekenne mich zur Sanftmut, die in vielen spirituellen Systemen geschätzt wird.«
GEGENWART
Jil Sanders »Weltbild« scheint seit jeher einem offenen System der Möglichkeiten zu entsprechen — Weltanschauungen sind vorläufig, Gewissheiten flüchtig und Theorien angreifbar. Ihr Werk, häufig als zeitlos beschrieben, weil es sich in ihr bewegt und durch sie hindurchwirkt: reflektiert, präsent, dem Neuen zugewandt. Um sich diesem Werk auf angemessene Weise zu nähern, braucht es mentale Flexibilität — die Bereitschaft zu gedanklichen Sprüngen durch Zeiten, Kontexte und Bedeutungen, schließlich begegnet uns ihr Werk in seinen zahlreichen Aspekten und Facetten seit fast sechs Jahrzehnten immer wieder auf neuen Ebenen — stets auf Augenhöhe mit dem Jetzt. Sie selbst lässt sich am Ende unseres Interviews kurz auf ein Gedankenexperiment ein, das sie als spielerische Möglichkeit formuliert, nicht als Gewissheit:
»Vielleicht bewegt sich die Zeit nicht auf einer Linie oder in Kreisen, sondern als Spirale. Wo sie hinführt, wissen wir nicht.«
COVERSTORY CHAPTER №XII »SIMPLICITY« – SOMMER 2025

