Das Streben nach Essenz

Die St. Anselm Kirche von Antonin Raymond

Photo Credits: Kochi Kitazawa Collection, Tokyo

1938 schrieb Antonin Raymond: »It must be constantly restated that contemporary architecture is not the desire for expressing individuality, nor the desire for new and bizarre forms.« Sein Ziel war es viel mehr, Bautypen zu entwickeln, die in ihrer Einfachheit unverkennbar waren. Auch die von Raymond entworfene St. Anselm Kirche in Tokyo spiegelt diese Idee wider.

 

 

Nach seinem Studium in Prag arbeite Antonin Raymond für den Architekten Cass Gilbert in New York, dessen Einsatz von Beton zur Strukturierung und Texturierung ihn nachhaltig beeinflusste. Als Angestellter von Frank Lloyd Wright begann er später in Japan zu arbeiten. Dort studierte er die traditionellen Bautechniken, kombinierte sie mit Entwicklungen aus den USA und legte mit den Grundstein für moderne Architektur in Japan.

Die 1954 fertiggestellte St. Anselm Kirche verbindet diese Neuinterpretation japanischer Architekturtradition mit christlicher Liturgie. Raymond entwarf die Kirche nicht nur, sondern war auch in ihre Konstruktion involviert und plante in enger Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin – Designerin Noémi Raymond – die Inneneinrichtung. Dazu zählen etwa der eindrucksvolle Granitaltar, die simplen Kreuzwegstationen aus Metall und der mit Blattgold bedeckte Baldachin. Der rechteckige Innenraum der Stahlbetonkonstruktion weist seitlich hineinragende Betonplatten auf, welche an der Decke zusammenlaufen. Dazwischen wird die Fassade von schmalen Glasschlitzen unterbrochen. Durch diese Abwechslung von Beton und Glas ergibt sich ein lichtdurchlässiges, verschachteltes Gebäude, die Kirche erhält gleichsam eine gewisse Gesetztheit und Leichtigkeit.

 

 

Neben dem dominanten Einsatz von Beton finden sich auch traditionell japanische Elemente wieder. So erinnert etwa die Wand hinter dem Altar mit ihren kreisförmigen Mustern an Shōji Wände, der schmiedeeiserne Tabernakel greift die Bogenform von Shintō Schreinen auf. Besonders der Ise-jingū Schrein, welcher als größtes Heiligtum Japans gilt, und dessen rituelles Abreißen und Wiederaufbauen im Zyklus von 20 Jahren beeinflussten Raymond in seiner Architekturphilosophie und lassen sich in einem christlichen Kontext als Zeichen der Wiederauferstehung interpretieren.

Inspiriert von der japanischen Ästhetik und deren Streben nach Reduktion auf das Wesentliche, sagte er: »Nothing is ever sufficiently clear, sufficiently pure. It would seem that by dint of trying to eliminate all that which is not essential, of clearing the void, of seeking the essence of things, at last, in the silence thus created one hears the voice of form, substance and space.« Die St. Anselm Kirche ist also nicht nur das bloße Abbild dieses Strebens, sondern vor allem auch das Resultat der gekonnten Verschmelzung von Tradition und Moderne zu einem Gesamtkunstwerk. [LM]