Text Sarah Wetzlmayr
Lucie Rie (1902–1995) gilt als eine der einflussreichsten Keramikerinnen des 20. Jahrhunderts. Doch ihre Arbeit entzieht sich bis heute einfachen Zuordnungen. Es ging ihr weder um künstlerische Zuschreibungen noch um theoretische Erklärungen — im Zentrum stand immer das Tun, das unmittelbare Arbeiten am Material. Ihre Gefäße, entstanden über Jahrzehnte hinweg zwischen Wien und London, sind von einer stillen Strenge, die sich konventionellen Einordnungen bewusst entzieht. Auch deshalb erfordert eine Auseinandersetzung mit ihrem Werk Aufmerksamkeit für das, was sich nicht sofort erschließt.
Auf die Frage, ob sie sich eher als Künstlerin oder als Handwerkerin sehe, reagierte Lucie Rie in der Regel kurz angebunden: »I am a potter.« Ein Satz, der auf unmissverständliche Weise zeigt, dass sich die 1902 in Wien geborene Keramikerin mit Zuordnungen dieser Art — und deren hierarchischen Implikationen — lieber nicht aufhalten wollte. Und auch nicht damit, lang und ausschweifend über ihre Arbeit zu philosophieren, wie der Autor und Keramiker Edmund de Waal berichtet. Eine Anfrage bezüglich eines Beitrags in einem Buch beantwortete sie einmal wie folgt: »I do not want to be in your book. I like to make pots—but I do not like to talk about them. I would answer your questions today, but they would be wrong tomorrow.« In dieser Aussage, die de Waal als typisch Wienerische Methode »of getting to the point« einstuft, stecken gleich zwei Erkenntnisse über Lucie Rie.

Einerseits, dass sich im Leben der einflussreichen Keramikerin tatsächlich alles ums Machen drehte, andererseits verkapselt sich in dieser mehr als nur direkten Antwort auch Ries Ansicht, dass jedes neue Stück Keramik ein Neubeginn ist. »To make pots is an adventure to me, every new work is a new beginning «, lautet einer der am häufigsten zitierten Sätze Lucie Ries. Wien war der Startpunkt ihrer aus unzähligen kleinen Abenteuern bestehenden Reise. Lucie Rie, damals noch Luzie Gomperz, kam 1902 in der österreichischen Hauptstadt zur Welt und wuchs in einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Prägend für ihre Kindheit und Jugend war unter anderem ihr Onkel Sándor Wolf, ein angesehener burgenländischer Geschäftsmann mit einer großen Sammlung antiker Kunstschätze aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Dass sich darunter auch römische Töpferwaren befanden, beeinflusste Lucie Rie maßgeblich. »There were these fantastic Roman bowls that were floating. I always tried to copy those floating bowls«, erinnert sie sich viele Jahre später an ihre ersten Begegnungen mit der antiken Keramiksammlung ihres Onkels.
VON WIEN NACH LONDON
Schon sehr früh zeigte sich ihr künstlerisches Talent, und auf Anraten ihres privaten Zeichenlehrers besuchte sie die Kunstgewerbeschule in Wien, an der prominente Künstler wie Oskar Kokoschka und Josef Hoffmann unterrichteten. Lucie Rie zog es aber vor allem in die Keramikklasse von Michael Powolny. Allerdings war es nicht er, sondern der Architekt und Mitbegründer der Wiener Werkstätte Josef Hoffmann, der ihr erstes selbst geschaffenes Gefäß für so gut befand, dass er es im Brüsseler Palais Stoclet ausstellte. Wie Tony Birks in seiner umfassenden Biografie »Gebrannte Erde« festhält, »zeichnete sich Lucies Arbeit an der Drehscheibe durch rationelles Vorgehen und Zielstrebigkeit aus. Sie hatte das ursprünglich aus der Architektur stammende Gestaltungskonzept der frühen Secession und der Wiener Werkstätte verinnerlicht, laut dem sich alle Gegenstände des täglichen Lebens, vom Tapetenmuster über den Stuhl bis zur Grußkarte, in den gesamtbaulichen Rahmen einfügen und ein harmonisches Ganzes bilden mussten. Ihre Gefäßformen — Zylinder und Schalen — sahen täuschend einfach aus.« Während und nach ihrer Studienzeit begann Lucie Rie bereits mit unterschiedlichen Chemikalien und Glasuren zu experimentieren, zudem begab sie sich tief ins Studium der verwendeten Rohstoffe. Auf diese Weise entstand unter anderem die erste »vulkanische« Glasur, die später charakteristisch für viele ihrer Arbeiten werden sollte.

»Unlike her contemporaries, who were mostly making decorative and figurative ceramics, Rie was interested in the material and physical properties of clay and glazes. This can be linked to the modernist interest in truth to materials. She experimented with layering slips and glazes to achieve interesting surface effects«, beschreibt Kuratorin Eliza Spindel die Anfangsphase ihres Schaffens. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an den NS-Staat, emigrierten Lucie Rie und ihr Ehemann nach London. 1939 entdeckte sie in Albion Mews, einem damals stark vernachlässigten Stadtteil Londons, eine Garage mit darüber liegendem Wohnraum. Die Garage wurde zur Töpferwerkstatt umgebaut und blieb bis zu ihrem Tod Dreh- und Angelpunkt ihres Schaffens. Um sich während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach finanziell über Wasser zu halten, stellte Rie zu dieser Zeit vor allem Keramikknöpfe und Schmuckstücke für Modehäuser her. »Arriving in London in 1938, Rie found that her work was out of step with prevailing trends in British studio pottery«, so Eliza Spindel in einem Interview mit dem Magazin STIRworld. Sie näherte sich zunächst dem Stil ihres einige Jahre älteren Kollegen Bernard Leach an, einer zu dieser Zeit zentralen Figur in der britischen Töpferwelt. »First I tried to follow Bernard Leach’s rules—I made heavier pots and heavier shapes«, beschreibt Rie den Einfluss ihres Zeitgenossen in einem Gespräch mit dem Tierfilmer und bekennenden Lucie Rie-Fan David Attenborough. Nach und nach entfernte sie sich jedoch von dessen Stil und fand ihren eigenen, der sich, wie Leach einmal selbst festhielt, unter anderem durch radikale Eigenständigkeit auszeichnete: »An outstanding quality of Lucie’s work is the degree to which it is free from the direct influence of other potters, ancient and modern.« Sir David Attenborough formuliert es folgendermaßen: »Before her time Leach and his followers sought their inspiration from medieval England and twelfth century China. Rie showed how this ancient craft could produce new shapes and new colours.«
MOVED BY BEAUTY
Nach dem Krieg entdeckte Rie die stark von der Moderne geprägte Eleganz ihrer frühen Arbeiten wieder. Ab den späten 1950er-Jahren erweiterte sie ihren Stil um neue Formen und Glasuren, einschließlich organischerer Formen und strukturierterer Oberflächen. In ihrem späteren Werk finden sich leuchtende Farben und metallische Glasuren, die ein Gefühl von Opulenz vermitteln. Retrospektiven wurden ihr 1967 in der Arts Council Gallery am St. James’s Square gewidmet, 1981 im Sainsbury Centre for Visual Arts und anschließend im Victoria & Albert Museum in London. Im Rampenlicht fühlte sich Lucie Rie jedoch nie so wohl wie in ihrer Werkstätte in Albion Mews. Die letzte größere Ausstellung, an der Rie als aktive Keramikerin teilnahm, fand im August 1990 im Sainsbury Centre for Visual Arts in Norwich statt. Am Tag nach der Eröffnung erlitt die mittlerweile 88-Jährige einen schweren Schlaganfall, der ihrer Töpferlaufbahn ein jähes Ende setzte. Nach dem darauffolgenden Krankenhausaufenthalt antwortete sie auf die Frage nach ihrer Zukunft mit einer Gegenfrage: »Habe ich denn nicht genug Töpfe gemacht?« Am 1. April 1995 starb Lucie Rie in ihrer Wohnung in Albion Mews. 1999 wurde ihr im Museum für angewandte Kunst in Wien eine Einzelausstellung gewidmet.

Das für Lucie Rie von Architekt Ernst Plischke entworfene Wohn- und Schlafzimmer (1926–1928) für ihre Wohnung in der Wollzeile 28; wiederaufgebaut im Hofmobiliendepot, Möbel Museum Wien.

Ries Töpferatelier, das sich im Laufe der Jahrzehnte kaum verändert hatte, wird seit 2009 im Victoria & Albert Museum in London ausgestellt. 2023 erreichte eine Schale mit dem für ihr Werk typischen tiefgezogenen Standring, der ihren Töpferarbeiten eine besondere Form von Leichtigkeit verleiht, bei einer Auktion von Phillips Auctioneers eine Rekordsumme von 330.200 Pfund. Zentral für ihr Schaffen waren auch zahlreiche Freundschaften, wie beispielsweise zu dem bereits erwähnten Bernard Leach, aber auch zu ihrem langjährigen Werkstattkollegen Hans Coper oder zu dem Architekten Ernst Plischke, der ihre Wiener Wohnung in der Wollzeile gestaltete. Eine ungewöhnliche freundschaftliche Beziehung knüpfte Rie im hohen Alter mit dem japanischen Modeschöpfer Issey Miyake. Fasziniert von ihren Werken, organisierte er 1989 unter dem Titel »Issey Miyake meets Lucie Rie« eine Ausstellung in der Galerie Sogetsu in Tokio. »I am often asked to speak of instances where I have been moved by beauty. Lucie Rie and her work represent some which most often come to mind«, so ein Statement Miyakes über Lucie Rie.
PERFEKT UND UNVOLLKOMMEN
Lucie Rie’s Erfolge sind auch auf ihre besondere, für ihre Zeit ungewöhnliche Technik zurückzuführen. In seiner Biografie beschreibt Tony Birks, dass Kollegen und Kolleginnen, die ihr beim Töpfern zusahen, stets mit Interesse feststellten, dass sie ein nierenförmiges Stück Metall benutzte, ein einfaches, wie ein Komma gekrümmtes Werkzeug, in ihrem Fall aus Kupfer, das bei der Herstellung glatter Flächen auf der Innen- oder Außenseite einer Schüssel die Finger ersetzte. Außerdem waren viele ihrer dünnhalsigen Gefäße aus zwei Teilen montiert. Mit Ausnahme ihrer Bernard Leach-Periode achtete sie zudem peinlichst genau darauf, dass Ober- und Unterteil einer Keramik gleichermaßen sauber gefertigt waren. »Tatsächlich tragen die Füße zahlreicher Arbeiten mit Sgraffitodekor und auch die späteren sogenannten gestrickten Gefäße sehr fein geritzte, bisweilen auch nach dem Drehen aufgemalte Muster, sodass die Betrachtung ihrer Arbeiten aus jener Zeit einer Offenbarung gleichkommt, so wie der Anblick eines Seeigels oder die filigrane Zeichnung eines Insektenkörpers unter dem Vergrößerungsglas«, schreibt Birks. Bei der Sgraffito- oder Einlegetechnik diente Lucie eine scharfe Nadel als Ritzwerkzeug. Strahlenförmige, winklig zum Tonkörper angeordnete parallele Linien und feine Kreuzschraffuren waren typisch für ihre Arbeiten aus den Fünfziger Jahren. Später kombinierte sie kreuzschraffierte Sgraffitomuster mit schweren Glasuren.

Daraus entstanden die sogenannten »gestrickten« Gefäße. Im Vorwort zu seiner Biografie schreibt Tony Birks, dass Lucie Ries schlichte, dabei aber so ungemein subtile und komplexe Gefäße ihr hohes Maß an Vollkommenheit nicht der Rückführung auf eine immer klarere Form verdanken, sondern ihrer Robustheit und Zerbrechlichkeit gleichermaßen, einer Kombination aus Gegensätzen wie Sparsamkeit und Fülle, Licht und Schatten. »Doch es ist wohl vor allem das dichte Beieinander von Perfektion und Unvollkommenheit, das unnachahmliche Lucie Rie’sche Zittern, das den Betrachter in seinen Bann schlägt.« Als Mensch verkörpere sie dieselbe Mischung aus Gegensätzen, so Birks. »Ihre zierliche Erscheinung und scheinbare Zerbrechlichkeit mochten bisweilen darüber hinwegtäuschen, dass sie einen eisernen Willen besaß und zu harter Arbeit fähig war.« Auch die Tatsache, dass Lucie Rie nicht zu jenen Menschen gehörte, die permanent um sich selbst kreisten, soll an dieser Stelle erwähnt werden. So abgedroschen es auch klingen mag: Sie blieb stets mit beiden Beinen fest am Boden. Mit einer Ausnahme: In einem Video, das einen Besuch David Attenboroughs in ihrem Atelier zeigt, gibt es eine Szene, in der Lucie Rie so tief in ihren Brennofen abtaucht, dass sie die Bodenhaftung verliert. Kurz zuvor ging es in einem kurzen Schlagabtausch zwischen dem Naturforscher und der Künstlerin noch darum, ob das Öffnen des Brennofens nach dem Brennvorgang einer Offenbarung gleichkäme. Lachend antwortet Rie: »Not a revelation, a surprise.«
ARTIKEL ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XII »SIMPLICITY« – SOMMER 2025

