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Haute Horlogerie: Uhrendesign zwischen Maxi- und Minimalismus

Astronomia Revolution Four-Axis Tourbillon by Jacob & Co.
Wenn es um ausufernden Maximalismus geht, ist Jacob & Co. ein gutes Beispiel. Im Bild zu sehen, die Astronomia Revolution Four-Axis Tourbillon.

Text Max MONTRE

In der Welt der feinen Uhren schließen sich Minimalismus und Maximalismus nicht von vornherein aus. So kann eine Drei-, Zwei- oder gar Einzeigeruhr vordergründig ganz schlicht erscheinen und doch mit einem höchst komplizierten Innenleben aufwarten.

Alle Jubeljahre kommt es vor, dass eine Ausnahmeerscheinung die Bühne der Haute Horlogerie betritt, ein hell strahlender Stern am Uhrenhimmel, der Aficionados staunen lässt und Sammler:innen glasige Augen beschert. 2025 ist es wieder so weit. Auf der wichtigsten Uhrenmesse der Welt, der Watches and Wonders in Genf, wurde ein solches uhrmacherisches Meisterstück präsentiert. Es trägt den etwas sperrigen Namen Les Cabinotiers Solaria Ultra Grande Complication La Première, ist die komplizierteste Armbanduhr der Welt und stammt von Vacheron Constantin.

Stillife image of Les Cabinotiers Solaria Ultra Grande Complication La Première from Vacheron Constantin

 

Wenn es um Maximalismus geht, hat die Les Cabinotiers Solaria Ultra Grande Complication La Première
von Vacheron Constantin die Nase vorne. Sie ist die amtierende komplizierteste Armbanduhr der Welt.

Wie könnte es anders sein, möchte man hinzufügen. Immerhin ist diese 1755 gegründete traditionsreiche Manufaktur das älteste durchgehend in Betrieb befindliche Uhrenatelier der Welt und hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder außergewöhnlich komplexe Zeitmesser hervorgebracht. 2017 etwa das Modell Celestia, letztes Jahr eine Taschenuhr namens The Berkley Grand Complication — die bisher komplizierteste Uhr der Welt: 63 Komplikationen oder Funktionen sind darin eingebaut, die Uhr hat 31 Zeiger, misst 9,8 Zentimeter im Durchmesser, ist fünf Zentimeter hoch und wiegt fast ein ganzes Kilo. Auf gut Deutsch: ein richtiger Brocken. Auch die Solaria ist nicht eben zart. Sie misst 45 Millimeter im Durchmesser bei einer Bauhöhe von 14,99 Millimetern. Aber: Für das, was der Zeitmesser kann, sind ihre Maße geradezu knapp kalkuliert. Ganze 41 Komplikationen hat man in die Armbanduhr gepackt, 1.521 Werkteile zählt das neue Manufakturkaliber 3655. Acht Jahre (!) lang hat ein (!) Uhrmacher daran gearbeitet. Dieser Meister seines Fachs hat auch das Uhrwerk entworfen.

Die Solaria vereint mit ihrer durchaus tragbaren Größe in bester Weise zwei Strömungen der Uhrmacherei: technischen Maximalismus und den Trend zur Reduktion. Auf der Werkseite spiegelt sich dies in der Miniaturisierung der Bauteile bis an die Grenzen des physikalisch Möglichen wider. Siehe dazu auch die Octo Finissimo Ultra Tourbillon von Bulgari, ihres Zeichens die flachste mechanische Armbanduhr mit Tourbillon, die insgesamt nur 1,85 Millimeter hoch ist. Ein Weltrekord in dieser Kategorie. Wobei sich hier die schwer zu beantwortende Frage stellt: Ist dies nun ein Beispiel für Maximalismus oder Minimalismus?
Beim Design jedenfalls feiert Letzterer unbestritten ein Comeback. Was sich unter anderem dadurch ausdrückt, dass die Zeitmesser seit einigen Jahren deutlich kleiner — sprich tragbarer — werden. Ein Blick auf die Neuheiten von Patek Philippe oder A. Lange & Söhne zeigt diese Entwicklung: Bei Patek Philippe wurde das Gehäuse der im Vorjahr vorgestellten quadratischen Cubitus auf 40 Millimeter verkleinert, damit sie »an jedes Handgelenk « passe, so die Genfer Uhrenmanufaktur.

png of Patek Philippe, Calatrava with gold-plated case

 

Patek Philippe zelebriert mit der neue Calatrava das minimalistische Understatement.
Für das (kostspielige) Platingehäuse braucht man durchaus einen Kennerblick.

Die 1815 von A. Lange & Söhne wiederum wurde auf nachgerade zarte 34 Millimeter (bei einer Höhe von nur 6,4 Millimetern) eingedampft. Damit entspreche man »dem Wunsch vieler Uhrenliebhaber nach einer noch dezenteren Ausführung dieser klassischen Dreizeigeruhr«, lässt die Glashütter Manufaktur wissen. Keinerlei Abstriche macht man bei der Qualität des Kalibers, welches für dieses Handaufzugsmodell eigens entwickelt wurde. In dieselbe Kerbe schlägt Pateks neue Calatrava mit roségoldfarbenem Zifferblatt, die das minimalistische Understatement feiert — denn das (kostspielige) Platingehäuse erschließt sich nur einem geschulten Auge.

Mit unaufgeregten pastelligen Zifferblättern und in drei verschiedenen Größen präsentieren sich auch die neuen Oyster Perpetual Varianten von Rolex. Das kleinste mit 28 Millimetern und lavendelfarbenem Zifferblatt. Drei Zeiger, kein Datum, nicht einmal die typische geriffelte Lünette findet sich bei diesen wohl minimalistischsten Modellen des prestigeträchtigen Präzisionsuhrenherstellers.

Man kann diesen neuen Minimalismus durchaus als Reaktion auf den vielfach artikulierten Wunsch nach einer »dezenteren Ausführung« verstehen — wie ihn etwa A. Lange & Söhne formuliert hat. Diese Entwicklung verweist zugleich auf eine breitere gesellschaftliche Strömung. »Minimalistische Ästhetiken und Fragen zu Einfachheit und Überfluss« werden aktuell intensiv diskutiert, wie die Kulturwissenschaftlerin Heike Derwanz feststellt. Minimalismus beeinflusse demnach die Alltagskultur ebenso wie die Debatten darüber, welche Bedeutung Dinge in unserem Leben einnehmen — insbesondere solche, deren Wert über den rein funktionalen Nutzen hinausgeht. Eine Beobachtung, die sich natürlich auch auf den Bereich der Luxusuhren übertragen lässt. Hier wirken die Mechanismen sogenannter »Veblen Goods« — benannt nach dem Ökonomen und Soziologen Thorstein Veblen, der aufzeigte, dass bestimmten Gütern ein sozialer Mehrwert zukommt, der sich unter anderem — aber eben nicht ausschließlich — über ihren Preis definiert. Je teurer, desto begehrenswerter. Hinzu tritt eine emotionale Aufladung, die sich nicht zuletzt in der symbolischen Funktion als Statusobjekt niederschlägt.

Still life image of pastel dials of the new Oyster Perpetual models from Rolex

 

Mit unaufgeregten pastelligen Zifferblättern und in drei verschiedenen Größen präsentieren
sich auch die neuen Oyster Perpetual Modelle von Rolex.

Dem gegenüber steht der viel zitierte Trend des »stillen Luxus« — zumindest vordergründig. Denn auch eine bewusst zurückhaltende Uhr bleibt für jene, die sich auskennen, ein klares Statussymbol — ganz ohne visuelles Auftrumpfen. Eine Rolex bleibt in ihrem (Geld-)Wert erkennbar, selbst wenn sie sich jeglicher lauter Geste entzieht. Entscheidend ist weniger die öffentliche Wirkung als die stille Bestätigung innerhalb des eigenen sozialen Umfelds.

An dieser Stelle muss natürlich auch erwähnt werden, dass Zurückhaltung im Design derzeit nicht als alleinige Richtschnur gilt. Ein solches Gegenmodell findet sich in besonders bemerkenswerter Form bei Jacob & Co. — einer Marke, die sich bei einer bestimmten Klientel großer Beliebtheit erfreut. Der hier inszenierte Maximalismus mag in seiner gestalterischen Überzeichnung bisweilen ins Groteske kippen, doch die uhrmacherische Kompetenz lässt sich der Marke dennoch kaum absprechen.

Solche gestalterischen Ausreißer markieren jedoch aktuell Ausnahmen innerhalb eines insgesamt deutlich erkennbaren Trends hin zur gestalterischen Reduktion. Und jene verstärkte Hinwendung zu dezenten Designs lässt sich auch als Indiz für eine gestiegene Sensibilität gegenüber Reduktion und Zurückhaltung lesen — als gestalterische Antwort auf eine Gegenwart, die vielfach als überkomplex und krisenhaft erfahren wird. Dabei ist der Minimalismus bei Weitem kein neues Phänomen, wie Heike Derwanz darlegt: »Religiöse Texte und Texte der griechischen Philosophie sind faszinierende historische Quellen, die das Maßhalten diskutieren.« Im wissenschaftlichen Raum werde heute vor allem aus der Perspektive der Konsumforschung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften über Minimalismus und freiwillige Einfachheit nachgedacht. »Minimalismus selbst erscheint dabei als ein Sammelbegriff unterschiedlicher Praktiken, Ästhetiken und Motivationen«, schreibt die Wissenschaftlerin.

Apropos Ästhetik: Im Uhrendesign wird im Zusammenhang mit Minimalismus gerne von »Zeitlosigkeit« gesprochen. Dieses Prädikat erhält ein Zeitmesser dann, wenn seine Erscheinungsform auch nach Jahrzehnten noch frisch und aufregend erscheint. Wenn das Design im Jahr 1972 genauso gut funktioniert wie 2025 und dabei so aufgeräumt wirkt, wie beispielsweise der Chronograph 1 von Porsche Design. In seiner jüngsten Ausführung greift er das Erbe seines ikonischen Ahnen auf, der 1972 von F. A. Porsche, dem Designer des 911, entworfen wurde. »Wenn man die Funktion eines Objekts analysiert, wird dessen Form offensichtlich«, lautet sein Denkansatz. Porsche, dessen Arbeit man auch einen gewissen Purismus nicht absprechen kann, entwarf mit dem Chronograph 1 auch den ersten vollständig in Schwarz gehaltenen Zeitmesser der Uhrenwelt — inspiriert von der Instrumententafel des 911.

2025 model of Chronograph 1 by Porsche Design

Funktioniert 2025 wie 1972, die jüngste Version des Chronograph 1 von Porsche Design.

Wer sich mit Minimalismus und Uhren auseinandersetzt, kommt eher früher als später auf das Bauhaus. Eine Bewegung, eine Kunstschule aus den 1920ern, auf die sich auch zeitgenössische Uhrendesigner berufen, wie Raúl Pagès, Gewinner des allerersten Louis Vuitton Watch Prize. »Ich lasse mich von der Kunstgeschichte inspirieren. Tatsächlich habe ich im Bauhaus eine Denkweise gefunden, die mir entspricht: Die Form folgt der Funktion. Der für meinen Stil typische Minimalismus ist ein Ausdruck dieses Prinzips«, gibt er gegenüber der Handelszeitung zu Protokoll.

Vom Bauhaus ist der Weg nicht weit zum Bauhaus-Schüler, Künstler und Architekten Max Bill, der für Junghans mit der gleichnamigen Uhr einen zeitlosen, minimalistischen Zeitmesser entworfen hat. Die max bill ist perfekt ablesbar und auf das Wesentliche reduziert. Ihr Ursprung war eine Küchenuhr, die der Schweizer Bill gemeinsam mit seinen Studenten im Auftrag von Junghans 1956 entwerfen sollte. Max Bill räumte auf und ließ nur das übrig, was für eine Uhr essenziell ist: Die Balken der Minutenskala sind gut sichtbar voneinander getrennt. Gegliedert wird sie durch etwas längere Striche für die Stunden, die durch arabische Ziffern gekennzeichnet sind. Die Ziffern lehnen sich an Typen der modernen Druckgrafik an und geben bei aller Nüchternheit ein unverwechselbares Bild. Das Küchenuhrenzifferblatt findet sich ab 1961 auf den max bill-Armbanduhren wieder. Gutes Design traf und trifft auf Zeitgeist. Das Modell ist ein Bestseller bis heute.

front of the chronograph version of the Max Bill by Junghans.

 

Eine Ausführung der max bill von Junghans als Chronograph.
Wie kaum eine andere Marke zelebriert man in Schramberg die Designprinzipien der Bauhaus-Bewegung.

 

backside of the chronograph version of the Max Bill by Junghans.

»Less is more«, um das — zugegeben — schon ausgelutschte Zitat des Architekten Mies van der Rohe zu bemühen, hat man im Bauhaus-Nachgang auch bei NOMOS internalisiert. Die Glashütter Marke, nach der Wende gegründet, hat Bauhaus, Werkbund und Minimalismus mit der Muttermilch aufgesogen (ebenso wie gutes Marketing). Nicht zufällig ist man Mitglied des Deutschen Werkbunds, einer Vorläuferbewegung des Bauhauses und der Ulmer Schule. All das spiegelt sich im Antlitz der Tangente wider, jener Ur-Uhr, die den gesamten Spirit der Manufaktur verkörpert und bis heute ihr Bestseller ist: ein Zeitmesser, geradlinig und ausgewogen, klar und schlicht — ein Klassiker.

Schaut man sich die Dreizeigeruhren von H. Moser & Cie. an, merkt man auch dort das Streben nach Reduktion und Einfachheit. Dort geht man sogar so weit, den Firmennamen, das Logo und das obligatorische »Swiss Made« vom Zifferblatt zu verbannen. Ein selbstbewusstes Statement und das Bekenntnis, dass nichts vom Wesentlichen ablenken soll.

Bei Parmigiani Fleurier heißt dieses Bekenntnis zum Purismus Tonda PF Micro-Rotor No Date. Sie kommt mit nur zwei Zeigern aus und ist darauf ausgelegt, den »Puristen des Purismus« Freude zu bereiten. Bei Parmigiani Fleurier wird »Luxus zu einer intimen Kunst — einem zarten Zusammenspiel, in dem die Reinheit der Form die Innovation lenkt und Jahrhunderte des Uhrmacherwissens sich in Objekte von unaufdringlicher, nahezu stiller Schönheit verwandeln«, lässt uns CEO Guido Terreni an der Philosophie der Marke teilhaben.

Minimalist watch design from Parmigiani Fleurier, model name Purismus Tonda PF Micro-Rotor No Date.

 

Bei Parmigiani Fleurier heißt dieses Bekenntnis zum Purismus Tonda PF Micro-Rotor No Date.

Noch einen drauf setzt Breguet. Die Manufaktur begeht in diesem Jahr ebenfalls ein Jubiläum — 250 Jahre wird sie alt — und stellt aus diesem Grund eine Einzeigeruhr vor. Mehr braucht es nicht, um uhrmacherische Kompetenz zu zeigen. Immerhin hat der Namensgeber der Marke, Abraham-Louis Breguet, das Tourbillon erfunden. Unter anderem.

Und so besticht die Classique Souscription 2025 mit einer vereinfachten Architektur, sowohl ästhetisch als auch mechanisch — optisch verkörpert durch lediglich einen einzigen Zeiger auf einem weißen Emaille-Zifferblatt. Schlicht und gut ablesbar, ist sie ein Kind des Zeitgeistes — allerdings aus dem Jahr 1797, als sie zum ersten Mal von Breguet in Paris beworben wurde. Offenbar sehnte man sich schon damals nach Klarheit: Es war die Zeit der Französischen Revolution. 

ARTIKEL ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XII »SIMPLICITY« – SOMMER 2025

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