Text Max MONTRE
Auch bei hochfeinen mechanischen Zeitmessern geht es nicht nur um die inneren Werte, sondern oftmals um Äußerlichkeiten. Trotzdem gibt es nur wenige bekannte Uhren-Designer und -Designerinnen. Woran liegt das? Und welche Bedeutung wird dem Design in der Luxusuhren-Industrie überhaupt beigemessen? Chapter hat sich umgehört.
Es war das Ende und ein Neuanfang. Mit dem Untergang der DDR erwachte langsam wieder das unternehmerische Leben in dem traditionsreichen Uhrenstädtchen Glashütte in Sachsen. Live zugegen und an vorderster Front dabei beim Comeback der Haute Horlogerie im Erzgebirge war Walter Lange.
In seinen Memoiren, die anlässlich seines 100. Geburtstags dieses Jahr neu aufgelegt wurden, erinnert sich der Urenkel von Ferdinand Adolph Lange, seines Zeichens Gründer der Uhrenmarke A. Lange & Söhne, an den Wiederaufbau der Manufaktur. Und an die Initialzündung für den Wiederaufstieg in die höchsten Sphären der feinen mechanischen Uhrmacherei, wo sie sich heute befindet. »Ich bin mir sicher«, schreibt Walter Lange in Als die Zeit nach Hause kam, »dass die Präsentation unserer ersten Kollektion im Dresdner Schloss geradezu einem Paukenschlag gleichkam, und das verdanken wird zu einem großen Teil dem innovativen Design der Lange 1.« Diese Uhr gilt heute als Ikone und als eines der begehrtesten Modelle der Welt.
Jene Episode unterstreicht, wie wichtig neben der uhrmacherischen Leistung die Gestaltung eines Zeitmessers für dessen Erfolg ist. Auch in der Haute Horlogerie geht es um Äußerlichkeiten. Walter Lange und seinen Mitstreitern (es waren tatsächlich ausschließlich Männer) war Anfang der 1990er Jahre klar, »dass unsere Uhren neben ihrer Qualität und Präzision einen Auftritt brauchten, der sie auf den ersten Blick unverwechselbar machte«. Gut möglich, dass man in diesem Zusammenhang die bereits zu Designklassikern erhobenen Modelle Royal Oak (Audemars Piguet), Nautilus (Patek Philippe) oder die Tank (Cartier) im Hinterkopf hatte.
Fix war: Ein Alleinstellungsmerkmal musste her. So entstand das typische Großdatum, in seiner einzigartigen Gestaltung und Funktion inzwischen ein weltweit bekanntes Merkmal der Uhren von A. Lange & Söhne und stilistischer Akzent. Eine weitere gestalterische Innovation und damit ein weiteres markantes Spezifikum ist die dezentrale Stundenanzeige der Lange 1 mit der kleinen Sekundenanzeige und der Gangreserveanzeige. Ein Layout, das vielfach kopiert, aber nie erreicht wurde. »Damit ist sie so unverwechselbar, dass sie selbst ohne Logo auf dem Zifferblatt klar als Lange 1 zu erkennen wäre«, befindet auch Anthony de Haas, der jetzige Director Product Development der Manufaktur, im Interview mit Chapter. Der Zeitmesser werde ob seines harmonischen Zusammenspiels aus Form und Funktion heute als Ikone wahrgenommen.
Das Design der Lange 1 folgt einem klaren Prinzip: Alle Anzeigen sind dezentral angeordnet und bilden die Form eines gleichschenkligen Dreiecks.
Was anno 1994 allerdings noch nicht absehbar war: »Ob eine Uhr zur Ikone wird, lässt sich schwer vorherbestimmen, weil es sich erst im Laufe der Zeit zeigt. Insofern ist vor allem Zeitlosigkeit ausschlaggebend«, hält de Haas fest, der auch zugibt durchaus ein Problem mit dem Begriff »Ikone« zu haben. Er sei ihm zu distanziert, zu statisch, erklärt er uns im Gespräch. Wie dem auch sei: Trotz ihres Status’ in der modernen Uhrenwelt, wurde ihr Gestalter, Reinhard Meis, »ein Uhrenexperte und besonders kundig in der Historie der Glashütter Taschenuhren«, wie Walter Lange schreibt, wurde ihm selbst nie die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie seinem Produkt. Ein Schicksal, das er – bis auf wenige Ausnahmen – mit vielen Designern und Designerinnen in der Uhrenbranche teilt. Meis, ein Uhrmacher und Sachbuchautor, entwickelte den »genetischen Bauplan« der Uhren von A. Lange & Söhne, wie das Magazin Armbanduhren anlässlich eines Nachrufs für den 2023 verstorbenen Konstrukteur festhielt. Jede Einzelheit wurde von ihm mit größter Aufmerksamkeit studiert und festgelegt, heißt es weiter. Doch warum wurde (und wird) Meis von A. Lange & Söhne nicht explizit vor den Vorhang geholt? Das liegt vor allem daran, dass man »Uhren nicht allein als das Werk eines einzelnen Designers, sondern immer als Mannschaftsleistung und Gesamtkunstwerk versteht«, lässt uns Anthony de Haas wissen. Designer:innen, Ingenieur:innen, Konstrukteur:innen – er leite ein Team von sehr unterschiedlichen kreativen Köpfen. »Unser Ziel ist es jedes Mal, eine Uhr zu kreieren, die so noch nie zuvor gefertigt wurde, die zeitlos ist und die eindeutig als Lange-Zeitmesser erkennbar ist.«
Nur ein paar Schritte vom A. Lange & Söhne Hauptquartier entfernt, die Straße hinunter, steht man vor der Manufaktur von NOMOS Glashütte. Die vergleichsweise junge Marke hat sich ebenfalls nach der Wende in Glashütte etabliert. Dort kann man sich eines eigenen, unverwechselbaren Uhrenmodells rühmen, das man schon aus der Ferne als NOMOS-Zeitmesser erkennt: die Tangente. Vollkommen unbelastet von einem historischen Firmenerbe konnte man in den 1990ern loslegen. Inspirieren ließ man sich beim Entwurf der minimalistischen, flachen Tangente von der klaren Formensprache der Bauhaus-Bewegung. Was die »inneren Werte« betrifft, fühlt man sich der 180-jährigen Glashütter Uhrmachertradition verpflichtet: »Ein Design wird ikonisch, wenn es charakteristisch ist und einen hohen Wiedererkennungswert besitzt«, erklärt uns Thomas Höhnel, der seit 2012 Produktdesigner bei NOMOS ist. Auch er schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Anthony de Haas: »Die Uhr soll auch ohne Logo sofort als eine NOMOS erkennbar sein.« Höhnel ist Absolvent der Berliner Kunstuni und arbeitet bei Berlinerblau, der Designabteilung von NOMOS in der deutschen Hauptstadt. Er hat unter anderem die Ahoi entworfen, die sportliche Schwester der Tangente.
Dennoch: Auch bei NOMOS sei der Entwurf eines neuen Modells meist Teamarbeit. Technologie und Design würden immer zusammen gedacht. Bei Berlinerblau arbeite man daher eng mit der Entwicklungsabteilung in Glashütte zusammen. Man setzt aber auch auf externe Designer und Designerinnen und schätze deren »objektiven Blick«, sagt Höhnel und gibt zu: »Es ist für uns manchmal schwer, limitierende Faktoren wie unter anderem Wirtschaftlichkeit oder technologische Einschränkungen beim Designprozess zu ignorieren.« Bekannte Gestalter wie Mark Braun oder Werner Aisslinger, mit denen NOMOS schon zusammengearbeitet hat, kennen diese Bedenken nicht – und können frei von derartigen Einschränkungen gestalten.
Bauhaus in den Genen: Tangente von NOMOS Glashütte
»Unsere Aufgabe ist es dann, deren Uhren-Entwürfe zu einer NOMOS-Uhr zu machen«, erklärt Höhnel im Gespräch mit Chapter.
Dieser erwünschte frische Blick von außen war es auch, dem die Uhrenwelt einige Klassiker zu verdanken hat — und einen in diesem Kosmos heute legendären Designer: Gérald Genta. Für Audemars Piguet, wo man Anfang der 1970er händeringend nach etwas suchte, das sich von der Masse der immer gleichen, langweiligen Goldarmbanduhren abhob, entwarf er die Royal Oak. Der Legende nach ließ sich Genta von einem Taucherhelm und den Kanonenmündungen der HMS Royal Oak, einem britischen Kriegsschiff, zu diesem Design inspirieren. Heute gilt die Royal Oak als eine der weltweit gefragtesten Uhren.
Originalskizze der Royal Oak von Gérald Genta
1976 kam die Nautilus von Patek Philippe auf den Markt, eine weitere Kultuhr, die aus der Feder von Genta stammt: Die nackten Schrauben der Royal Oak waren verschwunden und einer hochwertig satinierten Lünette gewichen, deren Form an das Bullauge eines Schiffs angelehnt, aber etwas ovaler ist. Das markanteste Kennzeichen der Nautilus sind allerdings die zwei »Flügel« auf der Seite des Gehäuses. Der Kult rund um diesen Zeitmesser wurde in den letzten Jahren so groß, dass Patek Philippe beschloss, die Nautilus mit der Referenz 5711/1A einzustellen. Man wolle keinen »Star« im Sortiment, wurde von Seiten der Manufaktur argumentiert und verabschiedete sich 2021 von der Edelstahlversion der Uhr. Neben den beiden genannten Zeitmessern gehen noch weitere großartige Entwürfe auf Genta zurück, etwa die Ingenieur, deren Design er 1976 für IWC Schaffhausen auffrischte und die nach einer kurzen Pause vor wenigen Jahren wieder in die Kollektion von IWC zurückkehrte.
Cartier Pasha de Cartier: Mit ihrem extravagant grafischen Design ist sie heute eine eigene bedeutende Kollektion der Maison.
Auch die moderne Version der Cartier Pasha de Cartier aus dem Jahr 1985 geht auf das Konto des selbsternannten »ersten Uhrendesigners der Welt«. Mit ihrem sportlichen, dennoch extravaganten Design ist sie heute eine eigene bedeutende Kollektion der Maison.
Über die Bedeutung Gentas für das Uhrendesign hält Alessandro Ficarelli, CMO der italienischen Uhrenmarke Panerai, im Interview mit Chapter fest: »Gérald Genta spielte eine herausragende Rolle bei der Sensibilisierung der Uhrenindustrie für Design. Seine Vision ging über die reine Funktionalität hinaus und rückte das Design in den Vordergrund dessen, was eine Uhr zu einer Ikone macht.« Ficarelli macht sich auch einen Reim darauf, warum es so wenige bekannte Uhrendesigner und -designerinnen gibt: »Ein zeitloses Design zu schaffen ist ein Job für wenige, es ist eine Kunst.« Jeder, meint er, könne ein guter Handwerker sein, aber es gebe nur wenige gute Künstler. »Kunstfertigkeit ist ein angeborenes Geschenk.« Gentas Einfluss zeige sich bis in die Gegenwart darin, dass moderne Marken weiterhin sowohl Technik als auch eine unverwechselbare Ästhetik in der Uhrmacherei schätzen und wie Panerai ständig danach streben, Funktionalität mit Design zu verbinden.
In diesem Zusammenhang — Stichwort: Wiedererkennungswert / Alleinstellungsmerkmal — tut sich Panerai leicht. Deren Uhrenlinien, im Wesentlichen Luminor und Radiomir, haben ein unverwechselbares Aussehen. Dieses ist historisch gewachsen und hat mit dem ursprünglich militärischen Einsatzgebiet der Zeitmesser für italienische Kampftaucher zu tun. Ficarelli: »Im Fall von Panerai war es die Funktionalität, die ein wiedererkennbares Design hervorbrachte, und deshalb haben wir nie berühmte Designer gebraucht.«
Die mit dem Bügel über der Krone: Panerai Luminor Submersible Luna Rossi
Bei Rolex würde man dieser Aussage wohl voll und ganz zustimmen. Also falls man sich überhaupt zu diesem Thema äußerte. Was man nicht tut: Nicht umsonst hat man dort die verschlossene Auster als »Patentier« für seine Produkte gewählt, man hält dicht.
Tatsächlich hat man sich aber einst auch einen Zeitmesser von Gérald Genta entwerfen lassen: die legendäre King Midas. Rund ein Jahrzehnt vor Royal Oak und Nautilus war sie eine futuristische, extravagante Uhr, die sich massiv von den gewohnten Rolex-Modellen abhob. Heute ist sie nicht mehr im Programm. Wohl weil die Genfer in den letzten Jahrzehnten auf eine sanfte Evolution von innen heraus setzen, man spricht dort weniger von Design als von Architektur. Die ist, unbestritten, so markant, dass sie keines »frischen Blicks von außen« bedarf. Und wenn, dann würde man es wohl nicht an die große Glocke hängen.
Die Octo Finissimo Automatic Sketch von Bulgari trägt die wichtigsten Merkmale der ikonischen Octo Finissimo und verbindet Technik mit künstlerischem Ausdruck. Fabrizio Buonamassa Stigliani skizzierte mit lebendigen und spontanen Streifen die Mechanik des Zeitmessers.
»Eine schöne Uhr ohne mechanische Raffinessen ist ein Misserfolg. Umgekehrt ist es dasselbe: eine technisch ausgeklügelte Uhr ohne Ästhetik bringt wenig«, tat der Leiter des Designzentrums von Bulgari-Uhren, Fabrizio Buonamassa, gegenüber Swissinfo.ch einmal kund. Und nicht nur bei Bulgari hat man diesen Grundsatz internalisiert, sondern auch beim Mitbewerb. Hermès etwa hat sich in der Haute Horlogerie, trotz einer (noch) eher überschaubaren uhrmacherischen Tradition, etabliert. Man baut Manufakturwerke, die keine Wünsche offen lassen und designt dazu Gehäuse, die den Ursprüngen der Marke und der von ihr zelebrierten Exzellenz Respekt zollen. Die Arceau Duc Attelé zum Beispiel, vorgestellt auf der Watches & Wonders 2024 in Genf, weist mehrere Details auf, die an die Geschichte der Maison erinnern. Beispielsweise die hochglanzpolierten Hämmer in Form eines Pferdekopfes, Zahnräder in Form der Räder der historischen Pferdekutsche »Duc Attelé«, Reitergestelle in Form eines Pferdes mit Mähne… in Summe ein Stück mit dem hier schon viel zitierten hohen Wiedererkennungswert. Ganz abgesehen von den inneren Werten: Ein zentrales Tourbillon mit drei Achsen und eine Minutenrepetition in Verbindung mit dem Hermès-Manufakturwerk H1926 mit Handaufzug. Das kann auch nicht jeder.
ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XI »TASTEMAKERS« – WINTER 2024/25