Seit 100 Jahren alles im Lack

Photo Credits: Daimler AG

Text Lutz Fügener

Mit einer glänzenden Lackschicht wurde und wird die Außenhaut fast aller Automobile versehen seit Henry Ford vor mehr als 100 Jahren mit der Massenmotorisierung der US-amerikanischen Bevölkerung begann. Zwar steckte man seither enorme Mengen an Geld in die Weiterentwicklung dieser Oberflächenbehandlung, doch hat sich an dem ursprünglichen ästhetischen Konzept augenscheinlich nur wenig geändert. Was bewirkt die Statik in diesem designrelevanten Thema, die offensichtliche Zurückhaltung der sich gerne als Innovationsträger gerierenden Automobilindustrie? Warum zahlen wir bei unserer Bekleidung für den industriell erzeugten Verschleiß, bei unserem Auto jedoch für die Wiederherstellung des makellosen Urzustands, dessen Verletzlichkeit oft aus gestalterischen Entscheidungen resultieren, die gegen alle Logik der Funktionalität getroffen wurden?

 

Photo Credits: Daimler AG

Mercedes-Benz Zwölfzylinder-Rekordwagen W 125, 1938

 

Any customer can have a car painted any color that he wants so long as it is black. So annoncierte Henry Ford euphemistisch die nicht vorhandenen Wahlmöglichkeiten für die Karosseriefarbe bei der Bestellung seines Modell T  im Jahr 1914. Ein Prinzip, dem er bemerkenswerte elf Jahre lang treu bleiben sollte. Zum dann nicht ganz freiwilligen Aufgeben dieser streng monochromen Periode nötigte ihn schließlich sein Konkurrent Alfred P. Sloan, der als Vorstandschef von General Motors die marktrelevanten Möglichkeiten des Designs entdeckt, verinnerlicht und in die Tat umgesetzt hatte und dem bis dato eher unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachteten Markt der Massenmotorisierung die genetischen Keime des modernen Marketings einpflanzte. Was heute in der Rückschau hin und wieder als die Ursünde des Automobildesigns bezeichnet wird, führte damals ganz nebenbei zum Aufbau des ersten Automobildesignstudios moderner Form. Die »GM Art And Color Section« ist in seiner Grundstruktur heute noch in jedem modernen Designstudio der Branche nachweisbar. Sloan und sein Chefdesigner Bill Mitchell schufen den Raum und die Werkzeuge für Variablen im Design der Massenfahrzeuge, die es bis dato ausschließlich für die sogenannten »Coachbuilder« gab, welche die Fahrgestelle der namhaften Automobilhersteller mit Karosserie-Unikaten beziehungsweise maximal Kleinserien versahen und diese für ein Vielfaches des Anschaffungspreises einer »Tin Lizzy« an begüterte Frau oder Mann brachten. Seitdem dreht sich im Automobildesign diese Rüstungsspirale. Vermeintliche Accessoires des Luxus werden mit großer Wahrscheinlichkeit nach einer, spätestens zwei Generationen für die Produkte des Massenmarkts assimiliert. Die in den Sechzigern Image sichernde Dreifaltigkeit von Leder/Klima/Wurzelholz war in den Achtzigern auch in der unteren Mittelklasse, zehn Jahre später gar für den Fiat Panda bestellbar. Ob Holz tatsächlich noch Spuren von Zellulose enthielt, spielte dann schon lange keine Rolle mehr.

 

Photo Credits: Sarel van Staden, www.carfineart.com

Henry Fords Modell T, auch bekannt als »Tin Lizzy«, war von 1914 bis 1925 ausschließlich in der Farbe Schwarz erhältlich.

 

Es liegt also in der Natur der Sache, beziehungsweise im Interesse besonders der Marketing-ExpertInnen der im Design tonangebenden Automobilmarken, alle möglichen und unmöglichen funktionalen Eigenschaften und gestalterischen Details der Entwürfe auf ihre Varianz hin abzuklopfen, um sich wieder und wieder durch wirkliche oder vermeintliche Innovation in dieser Spirale eine Etage höher schrauben zu können. Man sollte meinen, in diesem harten Geschäft gäbe es keine Tabus. Weit gefehlt!

Man muss nur wenig an Fords Tautologie vom Anfang dieses Textes verändern, um ihr für die gesamte Geschichte des Automobils wieder Gültigkeit zu verleihen: Any customer can have a car painted any color that he wants so long as it is »painted«. Seit den Anfängen der Ära der Fahrzeuge aus Blech gepressten Karosserien, — ob auf einem Rahmen stehend oder selbsttragend ist hierfür ohne Belang — werden die Autos mit glänzendem Lack versehen — Punkt. Natürlich gibt es Ausnahmen, Experimente, kleine Versuche eines Ausrittes ins Gelände der ständig wachsenden technischen Möglichkeiten, doch hat bisher keine davon die Kraft entwickelt, sich auf den Fließbändern der Massenhersteller zu etablieren. Die aus Gewichtsgründen vom Lack befreiten Karosserien der später als Mercedes »Silberpfeile« bezeichneten Rennwagen, nicht zuletzt durch seinen Hollywood-Auftritt bekannt gewordene unlackierte Edelstahlkarosserie eines DeLorean DMC-12 oder die polierte Oberfläche eines Airstream-Wohnwagens sind von durchaus beachteter Qualität und Eleganz, entwickelten jedoch kein Potenzial, sich mehrheitlich in privaten Garagen einzunisten.

 

Photo Credits: Airstream Germany
Photo Credits: Airstream Germany

Im Originalzustand verlassen Airstream Wohnwägen die Werkstätten mit einem Coil Coating, einer Art Kunststoffbeschichtung. KäuferInnen entfernen diese Beschichtung jedoch immer wieder, um die Anhänger anschließend maschinell auf Hochglanz polieren zu lassen.

 

Ganz im Gegenteil wurden beherzte und funktional durchaus nachvollziehbare Versuche, die Vormacht der Glanzlackierung in Frage zu stellen, in aller Regel wieder eingefangen. Der unter der Leitung des damaligen Ford-Chefdesigners Claude Lobo gestaltete Urtyp des Ford Ka war einer der nennenswerten und respektablen Versuche einer funktionalen Neudefinition der stoßabsorbierenden Teile und ihrer Oberflächen. Doch diese gute Idee hielt am Ford Ka gerade mal eine Generation. Schon für die geliftete Variante ergingen die Weisungen der Marketingabteilung, das weitgehend schadensresistente Kunststoffkleid mit der unvermeidlichen hochglänzenden Lackschicht zu überziehen. Schicker Unsinn, denn die Sinnhaftigkeit der Verwendung von durchgefärbten, resistenten und unempfindlichen Kunststoffen in den Bereichen der Stoßfänger musste man seinerzeit kaum jemandem erklären. Auch in eng befahrenen urbanen Räumen außerhalb der Gebiete, in denen die sprichwörtliche »südländische« Methode des Einparkens praktiziert wird, ist die Wahrscheinlichkeit der Entstehung lästiger Bagatellschäden hoch. Trifft dabei Lack auf Lack, da ist der bleibende Schaden unvermeidbar, der Makel offensichtlich und die finanziellen Aufwendungen für die Reparatur summieren sich schnell zu Beträgen, für die man auf dem Gebrauchtmarkt durchaus einen vielleicht etwas lädierten, aber uneingeschränkt fahrbereiten Untersatz mit gültigem TÜV erwerben könnte. Sicher ist ein Argument, dass diese Empfindlichkeit eine ganze Branche von KFZ-MechanikerInnen, KarosserieklempnerInnen und nicht zuletzt LackiererInnen am Leben erhält, doch allein dieser sozialökonomischen Logik folgend könnte man so konsequent sein, Stoßfänger gleich aus Porzellan herzustellen.

 

Photo Credits: BASF Coatings
Photo Credits: BASF Coatings

Angesichts dieser stoischen Innovationsvermeidung könnte man zu dem Verdacht kommen, die Entwicklung der Fahrzeuglacke selbst verharre wegen mangelnder Impulse aus dem Design auf einem historischen bis musealen Entwicklungsstand und ihre Weiterentwicklung nimmt somit innerhalb der Kosten für eine Fahrzeugentwicklung nur wenige Ressourcen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die technischen Entwicklungen der heutigen Automobillacke verschlingen enorme Aufwände. Allein die Anforderungen, die entstehen, um das gewohnte Bild der vollständig durchlackierten Fahrzeughülle zu halten, schlagen ordentliche Löcher ins Entwicklungsbudget. Die im Karosseriebau moderner Automobile verwendeten Bauteile unterscheiden sich in Material und Verarbeitung mitunter diametral vom gewohnten Bild des Stahlblechs, dürfen aber augenscheinlich nicht aus dem einheitlichen Bild ausscheren. Aus verschiedensten Gründen wie der Herstellbarkeit komplexer Formen beziehungsweise der Montierbarkeit, der Gewichtseinsparung oder bestehender Gesetze zum Fußgängerschutz werden Fahrzeugfronten, in vielen Fällen auch vordere Kotflügel, Fronthauben und Dächer aus Aluminium oder Kunststoffen hoher Flexibilität hergestellt und stellen anspruchsvolle Anforderungen an die Struktur, den Aufbau und die Belastbarkeit der glänzenden Oberfläche. Verstärkt wird dieser Effekt durch die ständig wachsenden Ansprüche an neue Lackfarben und Oberflächenqualitäten. Bis zu sieben Schichten Lack werden bei so manchem Großserienfahrzeug aufgebaut, um Tiefe, Qualität oder Effekt zu erzeugen. Das alles muss dabei möglichst umweltfreundlich passieren und die Verarbeitung in hohem Maße automatisierbar sein. Und das ist nur der derzeitige Stand der Technik. Darüber hinaus sind Technologien für die Oberflächenbeschichtungen von Fahrzeugen in der Entwicklung, die bisher ungekannte Funktionalitäten aufweisen. Vom Solarlack zum Einsammeln der Sonnenenergie bis zum Ändern der Außenfarbe auf Knopfdruck durch magnetisch ansteuerbare Farbpartikel hat die Industrie ein bemerkenswertes Repertoire von Ideen auf der Pfanne. Das Interesse daran ist jedoch nach wie vor begrenzt.

Wie groß die unbeackerten Felder und gestalterischen Reserven des Themas Fahrzeugoberfläche sind, offenbart sich beim Vergleich mit anderen Konsumgütern. Bei Hausbau, Raumausstattung, Möbeln, technischen Geräten aller Art, Musikinstrumenten, Unterhaltungselektronik inklusive der Computertechnik und seiner Ableger und nicht zuletzt der Bekleidung sind wir alle wesentlich weniger festgelegt in unseren Vorstellungen und gerne auch bereit, Experimentelles zu akzeptieren. Ohne Waschungen, verschlissene und/ oder aufgerissene Stellen, Verfärbungen und grob geflickte Details waren Jeans vieler modischer Marken in den letzten Dekaden nahezu unverkäuflich. Aber auch die aus geriffeltem Aluminium gefertigten Koffer der Kölner Traditions- und Luxusmarke RIMOWA entwickeln erst durch eine Patina aus Beulen, Dellen und Kratzern das auf seine Besitzer und Besitzerinnen rückstrahlende Image von kosmopolitischer Weltläufigkeit. Sicher ist der Investitionsaufwand für ein Paar Jeans verglichen mit dem für ein Automobil gering, doch bemerkenswert ist allemal, dass uns in dem einen Fall eine industriell applizierte Verschleißästhetik beinahe unverzichtbar erscheint, diese im anderen Fall den ideellen Wert des Produkts fast ins Bodenlose fallen lässt. Das aber spräche wiederum entweder für die unempfindliche Kunststofffläche im Stoßfänger oder die Akzeptanz von Verschleißmarken als denkbare ästhetische Option.

 

Photo Credits: BASF Coatings
Photo Credits: BASF Coatings

Basierend auf der Analyse aktueller Entwicklungen kreieren AutolackdesignerInnen laufend neue Farbtöne, Strukturen und Oberflächenqualitäten, um den stetig steigenden Anforderungen des Marktes gerecht zu werden.

 

Es gibt verhaltene Bewegung in dieser Sache. Die Entwicklung der Technologie zum Bekleben vollständiger Fahrzeuge mit Folien und deren Verfügbarkeit zu erschwingbaren Preisen haben die Experimentierfreudigkeit einiger FahrzeugbesitzerInnen augenscheinlich erhöht, zumal durch eine solche Folierung im Nebeneffekt der originale Lack des teuren Fahrzeugs geschützt wird und sich die gestalterischen Ambitionen so als Maßnahme der Werterhaltung schöngeredet werden kann. Auch die unlackierten Kunststoffteile sind wieder da — mit Marketingsynonymen wie Cross, Allroad, Country, All-Terrain werden meist Mittelklassekombis als schlechtwegetaugliche Varianten ihrer urbanen Familienmitglieder vermarktet, dafür an Front, Heck und den Radläufen mit durchgefärbtem Kunststoff bewährt und für relevante Aufpreise angeboten. Dass diese Kosmetik vielen Modellen dann tatsächlich sehr gut zu Gesicht steht, sollte dem Mut zur unlackierten Fläche wieder Rückenwind verleihen. Man darf ihren funktionalen Wert eben nicht mit so unerotischen Begriffen wie »Schutz gegen Bagatellunfälle« bewerben, sondern muss sie mit dem Duft von Freiheit und Abenteuer besprühen. Man hätte es eigentlich wissen müssen.

Es wäre eine spannende Aufgabe für das Automobildesign der Zukunft, Fahrzeuge so zu gestalten, dass der erste Akt der Inbesitznahme ein beherzter Schlag mit dem Hammer oder das Einkratzen einer Signatur sein könnte, ohne den Wert oder das Image des Fahrzeugs zu gefährden, diese ganz im Gegenteil noch zu heben. Bei der Vorstellung des Cybertruck im November 2019 ließ Elon Musk auf der Bühne die Karosserie des Prototyps mit einem Vorschlaghammer bearbeiten, um die Stabilität und Güte des Materials zu beweisen. Angst vor eventuell zurückbleibenden Spuren dieses Experiments musste er wohl nicht haben. Originale Beulen von der Hand des Religionsstifters können das Produkt dieser Marke nur wertvoller machen. Also am Ende tatsächlich alles eine Frage des Marketings? Der Claim für den Cybertruck könnte jedenfalls schon mal so lauten: Any customer can have a car so long it does not have to be painted.