Wer schon einmal einen Roadtrip gemacht hat, weiß, dass es dabei vor allem darum geht, konsequent nach vorne zu schauen. Was das mit der Mobilität der Zukunft zu tun hat und warum es manchmal gut ist, mit dem Strom zu schwimmen, zeigt der VISION EQXX von Mercedes, den Chapter an einem heißen Julitag in Immendingen testen durfte. Fotografisch wurde das Visionsfahrzeug von Maximilian Lottmann in Szene gesetzt.
Wer sich möglichst stromlinienförmig durchs Leben bewegt, scheint sich – auf den ersten Blick zumindest – in Sachen Innovation lieber auf den Pioniergeist anderer zu verlassen. Mit dem Visionsfahrzeug EQXX zeigt Mercedes, dass das auf die Autowelt ganz und gar nicht zutrifft. Geht es nach Teddy Woll, Leiter der Abteilung Aerodynamik bei Mercedes und maßgeblich an der Entwicklung des VISION EQXX beteiligt, ist das Schwimmen mit dem Strom sogar unabdingbar, wenn man es sich zum Ziel gemacht hat, den effizientesten Mercedes aller Zeiten zu bauen. Wobei es in diesem Fall eher »Fahren mit dem Luftstrom« heißen müsste. In Zahlen bedeutete das für das Mercedes-Team, ein Auto zu bauen, das in der Lage ist 1.000 Kilometer mit nur einer Akku-Ladung zurückzulegen. »Und zwar unter realen Bedingungen«, ergänzt Malte Sievers, Entwicklungsingenieur bei Mercedes. Außerdem sollte sich das Fahrzeug optisch in die Markenwelt von Mercedes einfügen, also »ein echter Mercedes sein«.
Nach der ersten Test- und Rekordfahrt, die im April 2022 stattfand und von Sindelfingen über die Schweizer Alpen nach Cassis führte, war jedoch schnell klar, dass bei 1.000 Kilometer die Grenze noch lange nicht erreicht ist. 1.202 Kilometer mit nur einer Akkuladung lautete schließlich der offizielle, im Juni 2022 eingefahrene Rekord, der mit einem einstündigen Ausflug auf die Rennstrecke in Silverstone endete. Der Durchschnittsverbrauch blieb trotz der kleinen Eskapade zum Schluss deutlich unter 10 kWh pro 100 Kilometer. »Das zeigt, dass wir es hier mit einem Fahrzeug zu tun haben, das zwar unglaublich effizient ist, bei dem es aber trotzdem nicht um Verzicht geht«, sagt Sievers, dem man die Euphorie der Rekordfahrt immer noch ansieht.
Verschmelzung von Technik und Ästhetik
Der Weg dorthin verlief allerdings nicht immer ganz reibungslos, erzählt Teddy Woll lachend. »Unsere ersten Berechnungen ergaben, dass wir ohne verkleidete Räder und deutliche Spurreduktion bei den hinteren Rädern keinen Cw-Wert unter 0,20 hinbekommen. Das Designteam zeigte sich von beiden Maßnahmen jedoch alles andere als begeistert.« Schließlich einigte man sich auf eine leichte, kaum sichtbare Spurreduktion von 50 Millimetern pro Seite und glatte Räder mit transparenter Verkleidung, die optisch Tiefe herstellt und zudem den Blick auf die roségoldenen Details freigibt. »Als Designer denken wir immer an die Verbindung von Technologie und Ästhetik«, so Gorden Wagener, Chief Design Officer bei Mercedes. »Die Aerodynamik des VISION EQXX verkörpert für uns als Designer diese Verschmelzung von Technik und Ästhetik. Durch unsere Philosophie der Sinnlichen Klarheit haben wir einzigartige Proportionen geschaffen, die Schönheit mit Effizienz verbinden. Der daraus resultierende Body Flow liefert eine revolutionäre Aerodynamik. Die Tatsache, dass das Endergebnis so schön geworden ist, unterstreicht die Fähigkeit unseres Designteams, eng mit unseren Aerodynamik-Experten zusammenzuarbeiten.«
Die intensive Zusammenarbeit zwischen Design und Aerodynamik steht bei Mercedes nicht erst seit der Entwicklung des VISION EQXX hoch im Kurs. Schon 1937 und 1938 zeigte man mit dem W 125 und dem 540 K, was in Sachen »Stromlinie« alles möglich ist. Mit dem Concept IAA, das 2015 präsentiert wurde, erreichte man – ohne dabei auf das markentypische Mercedes-Design zu verzichten – erstmals einen Cw-Wert von 0,19. Dass es mit dem VISION EQXX gelang, diesen Wert erneut zu unterbieten, liegt vor allem an der strömungsförmigen Grundform des Autos, der innovativen, aerodynamisch neutralen Kühlplatte im Unterboden und der Integration von passiven und aktiven Aero-Elementen. Zu den aktiven Elementen gehört unter anderem der versenkbare Heckdiffusor, der ab 60 km/h zum Einsatz kommt und für verminderten Luftwiderstand sowie erhöhte Fahrstabilität sorgt. »Normalerweise dauert es etwa ein Jahr, bis die Formfindung abgeschlossen ist«, erläutert Teddy Woll. »Für den VISION EQXX hatten wir weniger als die Hälfte der Zeit. Schlanke, agile Prozesse und ausgereifte digitale Tools erleichterten die Zusammenarbeit erheblich und ermöglichen schnellere Entscheidungen. Außerdem brauchten wir nur ein Modell und viel weniger Zeit im Windkanal.«
On the Road
Inspiration und Ideen holt sich Teddy Woll unter anderem aus den Gesprächen und Diskussionen mit den Designern. Reibungsfläche gibt es nämlich ausgerechnet dort, wo es um die Entwicklung glatter, möglichst windschlüpfriger Flächen geht, zur Genüge. »Im Gegensatz zu früher hat die heutige Designgeneration auch immer den Anspruch, etwas Funktionales zu machen«, erklärt der Aerodynamik-Experte und zeigt dabei aufs Heck des VISION EQXX. »Zum Beispiel aus dieser scharfen Kante ein neues Lichtdesign zu entwickeln.« Sich von der Natur inspirieren zu lassen sei im ersten Moment zwar reizvoll, hätte aber einen entscheidenden Haken: »In der Tierwelt gibt es keine Räder. Würde man an einen Pinguin Räder montieren, stiege dessen ursprünglicher Cw-Wert von 0,03 um ein Vielfaches an.«
Auch in Hinblick auf das Interieur sollte der VISION EQXX ein »echter Mercedes« sein, also sinnliche Klarheit und modernen Luxus verkörpern. Darüber hinaus war man sich rasch einig, dass der Effizienzgedanke auch bei der Innenraumgestaltung nicht zu kurz kommen dürfe. Das bedeutete für das Designteam unter anderem, den Fokus auf wenige Module zu legen und damit die Schönheit des Leichtbaus zum Ausdruck zu bringen. Der Anspruch, den effizientesten Mercedes aller Zeiten zu bauen, ging für das Entwicklungsteam außerdem damit einher, möglichst viele nachhaltige und nachwachsende Materialien zu verarbeiten. So bestehen die Teppiche im VISION EQXX zu 100 Prozent aus schnell nachwachsender Bambusfaser und die vegane Lederalternative MyloTM kam bei einigen Sitzpolster-Details zum Einsatz. Im oberen Bereich des Innenraums, am Übergang zwischen den Türen und dem Dachhimmel, nutzten die Designer Dinamica®, ein Material, das zu 38 Prozent aus recycelten PET-Flaschen besteht. »Die Arbeit mit diesen innovativen, nachhaltigen Materialien zur Gestaltung des Innenraums des VISION EQXX war eine wichtige und spannende, aufregende Erfahrung«, sagt Gorden Wagener. »Sie eröffnen völlig neue Wege der Kreativität, und die optischen und haptischen Oberflächen sind exquisit.«
Auch der Wunsch, die Effizienz des Visionsfahrzeugs auf einer realen Strecke, mit unterschiedlichen Verkehrs- und Wetterbedingungen zu überprüfen, ist tief in der Markengeschichte verwurzelt. Schließlich war es Bertha Benz, die im Jahr 1888 die allererste Fernfahrt mit einem Automobil zurücklegte. Mit 106 Kilometern für die damalige Zeit ebenfalls eine Rekordfahrt – und ein echter Roadtrip, lange bevor es diese Bezeichnung überhaupt gab. Seit damals ist klar: Wer sich auf ein solches Abenteuer begibt, schaut nach vorne und nicht zurück. In On the Road, dem Roadtrip-Roman schlechthin, drückt Autor Jack Kerouac diesen Gedanken folgendermaßen aus: Nothing behind me, everything ahead of me, as is ever so on the road. Weil der EQXX als Visionsfahrzeug zeigt, welche Wege die Marke in Zukunft einschlagen möchte, könnte das auch auf dem Segel des VISION EQXX stehen. Warum hier plötzlich von einem Segel die Rede ist? Weil man sich bei Mercedes nach den beiden rekordverdächtigen Roadtrips ziemlich sicher ist, dass das Wort »fahren« das Gefühl der Fortbewegung mit dem EQXX nur unzureichend einfängt. »Segeln« wäre da viel näher dran. Nächste Stufe: Gleiten wie ein Pinguin. Oder eben: Mit dem Strom schwimmen. Im besten Sinne der Redewendung, versteht sich. [SW]