Meister des Super Normalen

Designer Jasper Morrison (Coverstory Chapter VII)

Portrait: Julia Zimmermann; Produktbilder: Jasper Morrison Studio

TEXT & Interview Sarah wetzlmayr | Cover Story CHAPTER №VII »NORMAL THINGS« – WINTER 2022/23

Jasper Morrison entwirft Dinge, deren besondere Bedeutung erst in ihrer Benützung unverkennbar zu Tage tritt. Sie fügen sich beinahe reibungslos in die Atmosphäre eines Raumes ein, sind dabei aber nicht einfach nur alltäglich oder normal, sondern super normal. Wir haben mit dem britischen Produktdesigner über Design ohne Ego, Superlative frei von Überhöhung und über Stühle, die einfach nur Stühle sind, gesprochen.

Worte, die mit einem zuvor in Zitronensaft getunkten Pinsel niedergeschrieben wurden, werden erst dann sichtbar, wenn man das Stück Papier, auf dem sie stehen, erwärmt. Mit einem gewöhnlichen Alltagsgegenstand wie einem Föhn zum Beispiel. Dafür, dass einem dieses Verfahren in der Kindheit als Geheimschrift verkauft wurde, ist alles daran erstaunlich einfach und offensichtlich. Eine gewisse Form der Temperaturerhöhung braucht es auch, damit die Handschrift des britischen Designers Jasper Morrison — in all ihrer auffälligen Unauffälligkeit — ihre volle Wirkung entfaltet. Die in diesem Zusammenhang in erster Linie bildlich gemeinte Wärme entsteht im Falle Morrisons, der sich vor allem als Stuhldesigner einen Namen gemacht hat, durch den täglichen Umgang mit jenen Gegenständen, die seine unaufdringliche Handschrift tragen. Durch eine Art von positiver Reibung, die wie feinkörniges Schmirgelpapier dafür sorgt, dass sich die von ihm entworfenen Dinge rasch in die Atmosphäre eines Raumes einfügen. Denn genau darum geht es dem 1959 in London geborenen Designer, der seine Ausbildung unter anderem am Royal College of Art absolviert hat und seither auf möglichst zurückhaltende Weise in der Welt des Produktdesigns für Furore sorgt. Der Designer selbst bringt es im Gespräch mit Chapter folgendermaßen auf den Punkt: »Ich versuche, die Atmosphäre, in der sich unser Alltag abspielt, zu verbessern. Die Welt braucht nicht unendlich viele neue Produkte, aber wenn die Atmosphäre, die unser tägliches Leben umgibt, verbessert werden kann, ist das für mich ein lohnenswerter Versuch.«

Super Normal Ausstellung, Axis Gallery, Tokyo, 2006

 

Ein Ausnahmefall: Stühle und andere von ihm gestaltete Objekte sieht Jasper Morrison an sich nicht gerne auf Sockeln und Podesten ausgestellt.

Super Normal Ausstellung, Axis Gallery, Tokyo, 2006

Dieser Ansatz scheint dem, was man gemeinhin unter Design versteht, diametral gegenüberzustehen. Schließlich gibt es eine mehr oder weniger unausgesprochene Übereinkunft darüber, dass mit einem sogenannten Designobjekt stets eine bestimmte Auffälligkeit und Exponiertheit einherzugehen hat. Jasper Morrison ist sich dieses Umstands zwar bewusst, hat mit seinen super normalen Designs jedoch einen völlig anderen Weg eingeschlagen. »Super normale Gegenstände sind nicht viel auffälliger als ihre ganz normalen Gegenstücke, haben jedoch Qualitäten, die über das rein Visuelle und Funktionale hinausgehen, wie zum Beispiel eine besondere atmosphärische Wirkung. Auf diese Weise sorgen sie beim Benutzer oder der Benutzerin für eine große Zufriedenheit. In ihrer Präsenz eher diskret, verfügen sie auf diese Weise dennoch über eine große Wirkungsmacht«, so der Designer. Er ergänzt, dass es meist ein wenig dauert, bis man diese Gegenstände aufgrund ihrer Praktikabilität und subtilen Präsenz zu schätzen beginnt und bemerkt, auf welche Weise sie zur Atmosphäre eines Raumes beitragen. »Neunundneunzig Prozent aller Designobjekte sollen schnell wahrgenommen werden, das ist Teil der Marketingstrategie vieler Unternehmen. Aber Objekte, die man sofort wahrnimmt, sind meist nicht die besten Alltagsbegleiter, sie stören die Atmosphäre durch ihre überbordende Präsenz«, stellt Morrison in einem Interview mit dem Iittala Journal fest.1 Das bedeutet jedoch nicht, dass Aspekte wie Schönheit in seiner Arbeit keine Rolle spielen. Vielmehr geht es dem Designer um die perfekte Balance zwischen Gestaltung, Funktion und der bereits beschriebenen atmosphärischen Qualität. Die Bedeutung, die er Letzterer zumisst, ist, so Morrison, auch Resultat einer ausgeprägten Sensibilität der Atmosphäre eines Raumes gegenüber, die er schon früh an sich bemerkt hat. 

EINFACH STÜHLE 

Morrisons super normales Design kann demnach als Steigerung dessen, was im Allgemeinen als alltäglich oder schlichtweg normal empfunden wird, gesehen werden — als eine Form von Superlativ des Normalen, allerdings niemals als eine Überhöhung dessen. Das würde auch ganz und gar nicht zu Jasper Morrison passen, der sich zwar in die Suche nach dem perfekten Stuhl gut hineinsteigern kann (»Ich würde gerne den ultimativen Stuhl entwerfen. Das ist der Traum, mein Ziel«2), dabei aber stets mit beiden Füßen fest auf dem Boden bleibt. Auch in Ausstellungsräumen sieht er die von ihm gestalteten Objekte nicht gerne auf Sockeln und Podesten stehen oder von Decken herunterbaumeln. »Es ist natürlich viel leichter, Stühle gut aussehen zu lassen, wenn man sie auf einen weißen Sockel hebt und einen Scheinwerfer auf sie richtet. Die Stühle, wie in meinen Ausstellungen, einfach auf den Boden zu stellen, reduziert sie auf das was sie sind: Stühle. Ich empfinde dies als einen sehr ehrlichen Zugang«, erklärt Jasper Morrison, der damit auch viel über seinen Designansatz verrät.

 

 

All Plastic Chair, 2016

 

Eine Anekdote, die auf ähnlich einfache wie einprägsame Weise ein Gefühl für Morrisons Designphilosophie vermittelt, stammt vom japanischen Designer Naoto Fukasawa, mit dem Jasper Morrison gemeinsam den Begriff des Super Normalen aus der Taufe hob. Er erinnert sich an folgendes Szenario: »2005 wurde eine Serie von Aluminiumstühlen, die ich für Magis entworfen hatte, beim Salone del Mobile in Mailand gezeigt. Als ich die Messe besuchte, fand ich im Gegensatz zu den anderen Exponaten, die im Scheinwerferlicht die Aufmerksamkeit auf sich zogen, meine drei Stühle in einer Ecke des Standes stehen. Sie dienten als Ruheplätze für die Messebesucher.« Auch Jasper Morrison hatte die Stühle gesehen und seinen ein wenig deprimierten Kollegen daraufhin mit größtmöglichem Enthusiasmus angerufen. »That’s Super Normal«, dürfte er, so die Erzählung, damals mit fast schon kindlicher Freude ins Telefon gerufen haben.

Weil aller guten Dinge ja bekanntlich drei sind, eine letzte Geschichte, die deutlich macht, worin für Jasper Morrison die Quintessenz des Super Normalen besteht: Für das Hannoveraner Kunstprogramm »Busstops« hatte Jasper Morrison, der kurze Zeit später auch für das Design der Hannoveraner Straßenbahn engagiert wurde, eine Haltestelle entworfen. Als die »Busstops« der Öffentlichkeit präsentiert wurden, hörte er einen der Journalisten sagen: »Hier müssen wir nicht aussteigen. Diese Haltestelle sieht so normal aus.« In einem Interview mit der deutschen Nachrichtenzeitschrift DER SPIEGEL erzählt Morrison, dass er das damals als Kompliment auffasste. »Die anderen Entwürfe …na ja, das war der Beginn der Starchitecture. Die Haltestelle von Frank Gehry hatte zum Beispiel ein Dach, das an die Schuppenhaut eines Fisches erinnerte.«

1997 kam die Hannoveraner Straßenbahn für den aufstrebenden britischen Produktdesigner genau zur richtigen Zeit. Von seiner Arbeit für die Mailänder Möbelmesse desillusioniert, brachte ihn die Tram auf eine gänzlich neue Spur. Sie nahm den Londoner Designer in eine Welt mit, die er zu diesem Zeitpunkt noch nie betreten hatte. »Ich habe mich plötzlich sehr nützlich gefühlt, das war ein gutes Gefühl«, hält Morrison rückblickend fest. Ihm wurde klar, dass er das Gefühl, etwas wirklich Nützliches entworfen zu haben, in seine anderen Projekte mitnehmen möchte. Gleichzeitig brachte die Größe des Projekts ein Bündel an Herausforderungen mit sich. Von der Form der Sitze über die Griffe bis hin zur äußeren Hülle lagen alle sichtbaren Elemente der Straßenbahn in Jasper Morrisons Verantwortungsbereich. Sein Design wurde schließlich mit dem IF-Preis des Industrie Forums Design ausgezeichnet.

 

 

Plywood Chair, 1988

 

VENI, VIDI, VITRA 

Zu den bekanntesten frühen Entwürfen Morrisons gehören unter anderem der Moulded Plywood Chair von 1984/5 wie auch der rund vier Jahre später entworfene Plywood Chair. Letzterer war Ergebnis eines dreimonatigen Arbeitsaufenthalts in Berlin, der in der Ausstellung »Some New Items for the Home, Part I« mündete. Morrison zeigte im Zuge der Ausstellung einen spartanisch eingerichteten Raum mit nur wenigen, betont einfachen Objekten — im Wesentlichen ein Tisch, drei Stühle und drei grüne Glasflaschen. Seine Arbeit wurde damals als Abgrenzung gegenüber den Spielereien der Postmoderne und als Beginn einer »Neuen Einfachheit« gesehen. Über die Schlichtheit des Plywood Chair sagte Morrison später: »Der Plywood Chair sieht vor allem deshalb so aus, wie er aussieht, weil ich ihn selbst machen musste und die einzige Ausrüstung, die ich hatte, eine elektrische Stichsäge und ein paar Kurvenschablonen waren.7« Ein Jahr nach »Some New Items for the Home, Part I« begann Vitra mit der Serienproduktion des Stuhls. 1986 entstanden — diesmal bei der britischen Marke SCP — unter anderem der Slatted Stool und der mittlerweile ikonische Side Table. Der Side Table war der erste von Jasper Morrisons Entwürfen, der professionell produziert wurde. In den Achtzigerjahren begann auch Morrisons Zusammenarbeit mit der italienischen Marke Cappellini. Sein früher Tischentwurf Flower Pot (1984) und der ursprünglich als Einzelstück gefertigte Thinking Man’s Chair (1986) gingen unter der Schirmherrschaft von Giulio Cappellini in Serie. Als dieser anbot, den Stuhl, der an einen bis auf sein Tragwerk entkleideten Polstersessel erinnert, zu produzieren, begründete Jasper Morrison seine Zusage folgendermaßen: »Cappellini hat weltweit 110 Verkaufsstellen und eine Fabrik, die in der Lage ist, den Stuhl mit demselben, wenn nicht sogar einem besseren Standard und für weniger Geld herzustellen. Designer, die lieber weniger Produkte für mehr Geld herstellen, sind entweder Narren oder Künstler, und ich habe weder die Absicht das eine noch das andere zu sein.« Ende der Achtziger- und Beginn der Neunzigerjahre gestaltete Jasper Morrison unter anderem einige Polstermöbel für Vitra und Cappellini wie auch die 1144-Türklinke für FSB.

 

1144-Türklinke, 1990 

 

Für den Designer ein wichtiger Meilenstein, wie er in dem Buch Everything but the Walls festhält: »Dieser Türgriff war ein großer Schritt für mich. Zum einen, weil er in Serie produziert werden sollte, zum anderen, weil ich eine neue Arbeitsweise gefunden hatte. In beiderlei Hinsicht habe ich Jürgen Braun von FSB viel zu verdanken, der mir dieses erste industrielle Projekt angeboten hat. Nach den Ready-mades und der Adaption grundlegender, wiedererkennbarer Objekttypen war ich zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht die Aufgabe des Designers ist, eine neue Form zu erfinden, sondern sie nur an den richtigen Stellen, zur richtigen Zeit und aus guten Gründen anzuwenden.«

 

 

Flower Pot, 1984

 

In den Neunzigerjahren begann auch die Zusammenarbeit mit Alias, Magis, Alessi und Sony. Für den japanischen Elektronikkonzern entwarf Jasper Morrison einen Flatscreen TV und eine HiFi-Anlage. Außerdem erschien 1992 die erste Auflage seines Buches A World without Words, das das selbsterklärende Potenzial super normaler Dinge unterstreicht. Und ein wenig auch die Persönlichkeit Morrisons, der keinesfalls zu jenen gehört, die bei Interviewanfragen sofort den Arm hochreißen, um wild fuchtelnd auf sich aufmerksam zu machen. »Es sind keine Worte nötig, die Super Normalität bestimmter Dinge zeigt sich mit der Zeit und dem Gebrauch. Sie können einen Korkenzieher mehrere Jahre lang benutzen und sich langsam seines Wertes bewusst werden. Vielleicht wählen Sie ganz selbstverständlich eine bestimmte Bratpfanne und denken mehrere Jahre lang nicht daran, bevor Sie merken, wie gut sie ist. Es ist schwer zu sagen, ob die Bratpfanne von Anfang an gut war oder ob Ihre Beziehung zu ihr dazu geführt hat, dass sie die beste geworden ist«, erklärt uns Jasper Morrison im Interview und lenkt damit den Fokus einmal mehr darauf, dass das Super Normale nicht als Etikett funktioniert, sondern sich erst durch die Benützung von Objekten entwickelt. Das geschehe, wie der Designer anmerkt, meist auf solch subtile Weise, dass man es als Nutzer oder Nutzerin gar nicht bemerkt. »Für Marketing-Abteilungen kann es frustrierend sein, wenn sie nachfragen, ob sie den Begriff für die Einführung eines neuen Designs verwenden dürfen und ich ihnen daraufhin antworte, dass es dafür zu früh sei. Es geht um viel mehr als nur die visuelle Qualität eines Objekts, es geht um die Beziehung zwischen dem Produkt und seiner Nutzerin oder seinem Nutzer.« 

JASPER SENDS HIS FIRST FAX

Mit dem für die italienische Firma Flos entworfenen Glo-Ball wagte sich Jasper Morrison Ende der Neunzigerjahre erstmals auch an die Gestaltung von Leuchten. 2000 folgte — ebenfalls bei Flos — das bekannte Modell Luxmaster. Wenn man durch die Timeline auf seiner Website scrollt, wird rasch klar, dass es kaum Produktgruppen gibt, an denen sich der Designer noch nicht abgearbeitet hat. Außerdem verraten Einträge wie »Jasper sends his first fax, to Terno Kurosaki in Japan« von 1987 viel über den ebenso hintergründigen wie subtilen Humor des britischen Designers. Mit der für den Schweizer Uhrenhersteller Rado entworfenen Armbanduhr r5.5 wagte sich Morrison schließlich auch in einen Bereich vor, der ihm einiges an Fingerspitzengefühl abverlangte. »Die Arbeit in einem so kleinen Maßstab war eine große Herausforderung für einen Stuhldesigner wie mich, der an Anpassungen von fünf Millimeter da und dort gewöhnt ist«, schreibt er in dem 2015 erschienenen Buch A Book of Things. Das Spannungsverhältnis, das sich aus der Kombination eckiger und runder Elemente ergibt, ist für Morrison ein besonderes Merkmal seiner Uhr, deren Gestaltung, wie er erwähnt, mit einer steilen Lernkurve verbunden war.

 

 

Glo-Ball, 1999

 

Ein aktuelleres Beispiel für das völlig undogmatische, dabei aber von einer großen Kontinuität geprägte Schaffen Jasper Morrisons ist der für Vitra entworfene All Plastic Chair. Für den 2016 lancierten APC stellte sich der Designer erneut die Frage, auf welche Weise sich der klassische Kaffeehausstuhl erneuern ließe. Inspiration fand er unter anderem im Café Einstein Stammhaus in Berlin, das im Erdgeschoss jenes Gebäudes im Stadtteil Schöneberg liegt, in dem auch schon die Ausstellung »Some Items for the House, Part I« stattgefunden hatte. Hier sitzen die Gäste auf klassischen, hölzernen Kaffeehausstühlen, wie sie in vielen Europäischen Ländern weit verbreitet sind — in Deutschland als Frankfurter Stuhl, in Italien als Sedia Milano und auch in der Schweiz und in Österreich in vielen Variationen. Beim APC handelt es sich um einen Stuhl, der das gesammelte Wissen eines erfahrenen Designers in sich vereint, dabei aber so aussieht, als wäre er schon immer da gewesen. Um mit der Nüchternheit seines Gestalters zu sprechen: wie ein guter Stuhl eben. Er funktioniere, so Morrison, in einer Küche ebenso gut wie in einem Büro — ist »ansprechend, ohne ausgeflippt zu sein«.

Auch die japanische Lifestylekette Muji überzeugte Jasper Morrison mit seinen Designs. Je mehr man über die Arbeit des ruhigen, britischen Designers weiß, umso eher kommt einem bei dieser Verbindung sofort der Ausdruck »a perfect match« in den Sinn. Warum das so ist, hat unter anderem damit zu tun, dass bei super normalen Dingen die Handschrift des Designers erst im Umgang damit zu Tage tritt — und zwar auf solch subtile Weise, dass die Atmosphäre des Raumes dadurch keinesfalls beschädigt wird. Weil bei Muji keinerlei Wert darauf gelegt wird, zu erwähnen, von wem die zum Verkauf angebotenen Produkte entworfen wurden, könnte die Beziehung kaum naheliegender sein. »Muji war und ist eine gute Übung. Man weiß von Anfang an: Das wird ein Muji-Produkt. Niemand wird erfahren, von wem das Design stammt«, bringt es Jasper Morrison in einem Interview auf den Punkt. Und setzt in noch knapperer Form nach: »Oft ist namenloses Design das bessere.« Dass sich Jasper Morrison als Produktdesigner trotzdem einen Namen gemacht hat, muss dazu in keinerlei Widerspruch stehen. 

OHNE EGO, ABER MIT DISNEY

Für Morrisons Arbeit gilt demnach: »Ohne Ego funktioniert Design besser«. Zwar hätte jeder Mensch ein mehr oder weniger ausgeprägtes Ego, doch man müsse es nicht unbedingt zum Teil seiner Arbeit machen. Warum das so ist, möchten wir von dem Designer wissen. Er antwortet: »Ein zu großes kreatives Ego stört die Wirkung eines Objekts eher, während die Unterdrückung des kreativen Egos im Designprozess es einem Objekt ermöglicht, eine größere Wirkungsmacht zu erreichen, das nicht durch die stilistische Handschrift des Designers beeinträchtigt wird.« Die Rolle eines Designers oder einer Designerin würde sich dadurch in eine durchwegs positive Richtung verändern, ist Jasper Morrison überzeugt. »Wenn das Produkt besser funktioniert, kann der Designer mit seiner Arbeit zufriedener sein, und das Produkt wird wahrscheinlich auch länger auf dem Markt bleiben. Der Designprozess ist auch ohne das Ego des Designers kreativ genug.« Trotzdem gibt es für Jasper Morrison einen feinen Unterschied zwischen anonym hergestellten Objekten, deren Designer oder Designerin gänzlich unbekannt ist, und Dingen, die ohne ein sich permanent einmischendes kreatives Ego entstanden sind. »Der unbekannte Autor entwirft völlig anonym, während der Designer, der seinen persönlichen kreativen Ausdruck vermeiden oder einschränken möchte, in dem Bewusstsein entwirft, dass sein Name auf dem Produkt steht«, so Morrison.

 

 

Coat Stand, 1987

 

Mit dem bewussten Zurückdrängen des kreativen Egos geht im Falle Morrisons auch der Wunsch nach einer Demokratisierung von Design einher. Das führte wiederum dazu, dass der Brite nie wirklich den Drang verspürte, sich mit der Idee von Luxus auseinanderzusetzen. Ganz im Gegenteil: Die Vorstellung, etwas zu genießen, das andere ausschließt, hält er für absurd. »Ich glaube, dass Luxus für Menschen erfunden wurde, die für sich keine bessere Möglichkeit gefunden haben, das Leben zu genießen, als sich anderen überlegen zu fühlen«, fasst er zusammen. Als Teenager, erzählt Morrison, war er eines Tages mit dem Zug in Europa unterwegs und ein alter Mann holte sein Mittagessen heraus, um ihm ein Glas Wein und ein Stück Brot und Käse anzubieten. Das sei die Art von Geist, die Design vermitteln sollte. Ein Denkansatz, der, wenn man sich das gesamte Oeuvre des Designers anschaut, nicht vollkommen frei von Widersprüchen ist. Schließlich gehören Objekte in limitierter Auflage, wie etwa für Issey Miyake, oder ein luxuriöses Tischmodell für Hermès ebenfalls zum Portfolio des Briten. Projekte wie diese seien Möglichkeiten, sich selbst mit Widersprüchen zu konfrontieren und aus den Einschränkungen, die die Massenproduktion mit sich bringt, auszubrechen, hält Jasper Morrison fest. Ansonsten würde man schnell zum Gefangenen seines eigenen Weltbilds.

Please Watch, 2012, Jasper Morrison für Issey Miyake

 

Es ist nicht wirklich überraschend, dass Jasper Morrison Energie und Inspiration vor allem aus alltäglichen Situationen schöpft. »Ich finde es unglaublich spannend, wie Menschen leben, womit sie leben und welchen Einfluss bestimmte Gegenstände auf ihre Alltagsatmosphäre haben. Das ist es, was mich dazu antreibt, neue Dinge zu entwerfen oder bestehende Dinge besser zu machen«, schildert der Designer. Wobei das »Neue« für ihn stets einem Gedankenfeuerwerk entspringt, in dem auch die Geschichte eines Objekts hohe Flammen schlägt. »Ich mag es, mir anzusehen, was vorher war. Die kollektive Anstrengung, die beispielsweise in der Entwicklung der Gabel steckt, möchte ich keinesfalls ignorieren oder verwerfen. Ich stelle mir niemals vor, dass ich, Jasper Morrison, gerade eine Sache neu erfinde, in die bereits mehrere hundert Jahre an Bemühungen geflossen sind, sondern versuche vielmehr, Dinge zu verbessern, diese kollektiven Anstrengungen zusammenzufassen und auf eine Art von kreativen Schlusspfiff hinzuarbeiten.« Allerdings gibt es für Morrison auch Stücke, bei denen diese Anstrengung bereits auf derart vollkommene Weise zu Ende geführt wurde, dass es keiner weiteren Bemühungen mehr bedarf. Dieter Rams’ Regal mit dem Namen 606 ist für ihn ein solches Objekt.

 

 

Équilibre d’Hermès, 2020 

 

Weniger offensichtlich, aber auf den zweiten Blick durchaus nachvollziehbar: Auch Kinderbücher wie Tintin und frühe Walt Disney Cartoons beeinflussten seine kreative Arbeit — vor allem »diese Art der Destillation von Objekten hin zu einer fast lächerlichen Einfachheit«. Die Simplizität der Linie, die Sparsamkeit, die nötig war, um sie zu schaffen, hat ihm, wie er in einem Interview erzählt, »wahrscheinlich schon in jungen Jahren eine ordentliche Gehirnwäsche verpasst, sodass alles, was visuell kompliziert ist, für mich verschwendete Mühe darstellte.« Aussagen wie diese führten immer wieder dazu, dass Jasper Morrisons Arbeiten mit dem Etikett des Minimalismus versehen wurden. Für den Designer ein nicht nachvollziehbarer Schluss, wie er in Gesprächen stets betont. Die Form sei bei ihm zwar oft einfach, aber immer von der Intention unterlegt, den maximal möglichen Effekt zu erzielen. Wie zum Beispiel ein Maximum an Komfort oder einen maximalen Unterschied in Sachen Atmosphäre.

LIKE SPRAYING PAINT ON A GHOST 

Wird Morrison zu seinen frühen Einflussgebern und allerersten Arbeiten befragt, fallen meist dieselben drei Namen: Eileen Gray, Le Corbusier und Jean Prouvé. Ein wenig später begann er sich auch mit den Entwürfen Franco Albinis auseinanderzusetzen. Der Weg, den er einschlug, war zudem auch ein Versuch, sich aus jenen düsteren, gepolsterten Räumen zu befreien, in denen er aufgewachsen ist. Im Freilegen dessen, was sich unter der dunklen Polsterung der Möbel seiner Kindheit verbarg, liegt die leise Rebellion Morrisons, die in ihrer Zurückhaltung einzigartig ist. Klingt widersprüchlich? Vielleicht. Lässt sich aber dennoch einfach belegen, wie unter anderem mit der skelettartigen Anmutung des Thinking Man’s Chair von 1986. 

Zum Kern eines Möbelstücks vorzudringen, ohne dabei beim Thema Komfort und bei der für Jasper Morrison so wichtigen atmosphärischen Qualität eines Objekts Abstriche machen zu müssen, ist eine jener Herausforderungen, der sich der gebürtige Londoner bei jedem seiner Entwürfe stellt. Wie dieser Brückenschlag gelingt, ist nach einem Gespräch mit Jasper Morrison ebenso glasklar wie unerklärlich. Sicher ist nur eines: Worin das große Geheimnis seiner Designhandschrift besteht, lässt sich mit Wärme besser beantworten als mit Worten. Und diese entsteht — womit wir wieder beim Anfang dieses Textes wären — in der Regel dann, wenn man seine Objekte, sei es bewusst oder unbewusst, zu wichtigen Bestandteilen des eigenen Lebens macht. Ihnen Leben einhaucht. Oder um es mit Morrisons eigenen Worten zur fast schon mystischen Qualität des Super Normalen zu sagen: »It is like spraying paint on a ghost. You may have a feeling it’s there but it’s difficult to see.«