Gesichtsträchtig

Die Mimiken eines Automobils

© Daimler AG

Text Sarah WETZLMAYR

Früher war die richtige Deutung eines Gesichtsausdrucks überlebenswichtig. Und auch heute, lange nach der Herausbildung der menschlichen Sprache, trifft das hin und wieder noch zu. Zum Beispiel dann, wenn ein entschlossen-aggressiv blickender Sportwagen im eigenen Rückspiegel auftaucht.

Wenn die 38-jährige Betriebswirtin Cornelia ihren silbernen Audi pünktlich um 8 Uhr 25 in der Tiefgarage abstellt, hat sie nicht irgendein Auto geparkt. Sie hat »Fridolin« seinen Platz für den Tag zugewiesen. Dort wartet er nun, bis ihr Feierabend mit dem markentypischen Klicken des Autoschlosses offiziell eingeläutet wird. Der silberne Audi trägt diesen Namen ganz und gar nicht zufällig, denn, davon ist Cornelia überzeugt, »der Name unterstreicht die Persönlichkeit meines Autos«. Fridolin ist nicht das einzige Auto, dem ein Name zugesprochen und damit auch eine spezifische Persönlichkeitsstruktur attestiert wurde. Im deutschsprachigen Raum ist beinahe jede und jeder Zweite mit dem eigenen Fahrzeug auf Du und Du. Sozusagen. Das Stichwort dazu lautet Anthropomorphisierung, was wiederum bedeutet, dass menschliche Züge und dadurch auch bestimmte Charaktereigenschaften in eine nichtmenschliche Entität eingeschrieben werden. Obwohl die Gründe dafür mannigfaltig sein können, wird diese anhaltende Tendenz mit Sicherheit dadurch begünstigt, dass man gar nicht umhin kommt, dem eigenen Automobil hin und wieder tief ins Gesicht zu blicken. Denn anstatt klassisch von der »Front« des Automobils zu sprechen, ist mittlerweile auch schon in den Designstudios der größten Autohersteller oftmals ganz einfach vom »Gesicht« eines bestimmten Modells die Rede. Ergeben hat sich diese gesichtsähnliche Anordnung der einzelnen Elemente allerdings ganz einfach aus einer Notwendigkeit heraus, erklärt Lutz Fügener, der an der Hochschule Pforzheim den BA Studiengang für Transportation Design leitet. »Durch das vorgeschriebene Leuchtbild, das es als Resultat der Zulassungsverordnung schon seit der Zwischenkriegszeit gibt, ist von vornherein festgelegt, welches Licht an welcher Stelle sein darf. Gemeinsam mit den anderen Elementen kommt dann dieses typische Gesicht zustande«, so Fügener. Als solches erkannt wurde es aber nicht sofort: »Erst in den Sechzigerjahren begannen die Hersteller damit, sich stärker mit der Front zu beschäftigen und stellten fest, dass diese auch von den KundInnen als Gesicht erkannt wird. Zuerst in den USA und etwas später dann auch in Europa. Obwohl man die der Front inhärente Physis zu diesem Zeitpunkt schon als solche besprach, fingen die Hersteller aber erst in den Neunzigern damit an, ihr auch eine Mimik zu geben, also die Neutralität in der Expression zugunsten bestimmter Ausdrücke aufzugeben.« Bedingt wurde diese Entwicklung in Europa zusätzlich dadurch, dass sich durch den Mauerfall riesige neue Märkte eröffneten.

STIMMUNGSSCHWANKUNGEN

Auch im Designteam der amerikanischen Marke Ford geht es um Gratwanderungen und Grenzerfahrungen. Wenn man, wie Amko Leenarts, seines Zeichens Chef des europäischen Ford Designteams, ein positiver, in die Zukunft gerichteter Denker und Designer ist, sollte man es aber anders formulieren: Es geht um das Ausloten von Chancen und das Wahrnehmen von Möglichkeitsräumen. Wie Leenarts erklärt, spielt bei jedem neuen Autodesign nämlich das »MAYA Prinzip«, also »the Most Advanced Yet Acceptable«, eine zentrale Rolle. Ein Prinzip, das in der Vergangenheit schon bei vielen verschiedenen Industrieprodukten zur Anwendung kam. »Der Wunsch danach, sich an der Speerspitze der technologischen Möglichkeiten aufzuhalten, darf niemals auf Kosten der Vertrauenswürdigkeit der Marke gehen. Und genau an dieser Stelle kommt auch die Front ins Spiel. Die Frage danach, ob ein Auto aggressiv aussieht. Oder freundlich und vertrauenswürdig. Das ist auch deshalb so wichtig, weil man mit dem Auto natürlich auch der eigenen Persönlichkeit Ausdruck verleihen möchte«, so Leenarts. Gegen eine aggressiv blinzelnde Front, wie sie ohnehin in erster Linie bei Sportwägen zu sehen ist, hat sich das Designteam der amerikanischen Automarke auch beim neuen Ford Puma entschieden. Hier trifft sogar eher das Gegenteil zu: Der kompakte Viertürer strahlt Freundlichkeit und Optimismus aus. »Der Puma hat keinerlei Aggression im Ausdruck und die Scheinwerfer vermitteln das Gefühl von weit geöffneten Augen«, betont Leenarts und setzt seine Erklärung mit der Beschreibung eines für ihn beinahe magischen Moments fort: »Heute habe ich hier bei uns auf dem Gelände zufällig einen Puma und einen Fiesta gesehen, wie sie nebeneinander standen. Die Unterschiede sprangen mir sofort ins Auge, denn die Linienführung des Fiestas ist von vorne nach hinten ansteigend. Beim Puma ist es genau umgekehrt. Das gibt dem Puma eben dieses besondere Maß an Gelassenheit.« Wie Lutz Fügener erklärt, haben viele Marken das aggressive Potenzial in der Expression ihrer Modelle aber ohnehin schon zur Gänze ausgereizt: »Entschlossenheit und Aggressivität im Ausdruck haben lange Zeit stark zugenommen. Zwar hat man eher milde damit begonnen, stand dann aber plötzlich unter dem Zwang, die Reizschwelle immer weiter nach oben zu drücken. Parallel dazu hat sich bei den KundInnen natürlich ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass hier eine Phase des Manierismus erreicht und der Höhepunkt damit definitiv überschritten wurde.«

Ein Sportwagen, der sich mit großer Konstanz und beeindruckender Stärke immer gegen diesen Trend bewegte, ist der Porsche 911. Während man sonst eher dazu tendiert, das Lenkrad hektisch nach rechts zu reißen, sobald man die aggressiv blinzelnden Scheinwerfer eines Sportwagens im Rückspiegel erblickt, schaut man dem Neunelfer sehr gerne ins Gesicht. Mit seinen runden Kulleraugen hat er mit der Physiognomie vieler anderer Sportwägen nämlich nur wenig gemein. Ob man den Blick des Neunelfers nicht vielleicht doch etwas nachschärfen sollte, stand allerdings immer wieder zur Debatte. »Von Modellgeneration zu Modellgeneration musste man diese Entscheidung immer wieder neu treffen. Der Ur-Entwurf selbst entstand in einer Zeit, in der man sich wahrscheinlich über solche Dinge noch keine Gedanken gemacht hat. Bei der darauffolgenden Modellgeneration fiel die Entscheidung dann immer zugunsten des Wiedererkennungswertes des Ur-Modells aus. Und damit lag man schlussendlich immer richtig«, erklärt Fügener. Hier das Gesicht zu wahren, hat sich also mehr als ausgezahlt.

 

Über all die Jahrzehnte hinweg, blieb der Ausdruck des »Neunelfers« immer ein freundlicher. Auch diese Entscheidung musste allerdings immer wieder neu ausverhandelt werden. © Porsche AG

 

IMMER DER NASE NACH

Als Peter Schreyer im Jahr 2006 als Chefdesigner von VW zu Kia wechselte, um kurz darauf der Marke, mit der berühmten »Tiger Nose«, ein neues Gesicht zu geben, bewies der vielfach ausgezeichnete Designer nicht einfach nur den richtigen Riecher, sondern er preschte, ganz der Nase nach sozusagen, nach vorne, in Richtung einer neuen Zukunft für den koreanischen Hersteller. Die steigenden Verkaufszahlen ließen schnell vermuten, dass damit ein neues Kapitel in der Geschichte der Marke aufgeschlagen wurde, das mit großer Wahrscheinlichkeit den Beginn einer langen Erfolgsstory markieren würde. Und so war es tatsächlich auch: Mit der Neugestaltung der Front verlieh Schreyer der Marke nicht nur ein neues Gesicht, sondern unterfütterte es gleichzeitig mit einer starken Markenidentität mit hohem Wiedererkennungswert. Die Taktik ging auf, denn die Strategie des deutschen Designers sorgte mitunter auch dafür, dass neue Lebensgeister bei Kia einzogen und dort ordentlich Wirbel machten. Wie Schreyer etwas später in Interviews immer wieder betonte, war die charakteristische Tigernase zwar nicht der Ausgangspunkt der abgewandten Designstrategie, dennoch entwickelte sie sich schnell zu einem Schlüsselmerkmal der neuen Design-DNA.

Wie viel über das Design transportierte Markenidentität tatsächlich in der Front stecken sollte, wird jedoch nicht nur bei Kia, sondern auch in den Designteams vieler anderer Marken immer wieder heftig diskutiert. »In der Regel ist es so, dass ich vor allem dann sehr viel Markenidentität in die Front hineingestalten möchte, wenn meine Marke sehr stark ist. Ist meine Marke noch nicht ganz so stark, gibt es zwei Richtweisen. Ich kann einerseits versuchen Identitätsmerkmale von starken Marken auf meine Marke zu übertragen, um dadurch für möglichst viele Momente der Wiedererkennung zu sorgen. Der andere Ansatz ist, dass ich neue Markenelemente entwickle. In der Hoffnung, dass sich meine Marke dadurch stärkt. Wer den zweiten Ansatz wählt, denkt deutlich zukunftsorientierter«, betont Fügener. Als Peter Schreyer das erste mit der »Tiger Nose« ausgestattete Modell, den Kia Kee, im Jahr 2007 auf der IAA präsentierte, machte er sehr schnell klar, wohin sein Blick gerichtet war: in die Zukunft. Und in ebendieser sah er möglichst viele Autos mit tigerähnlichem Ausdruck und ebenso präziser wie auffälliger Silhouette durch die Straßen fahren. In Asien ebenso wie in Europa. »Für mich ist Kia nach wie vor eine Marke, die es sich erlauben kann zu überraschen und hin und wieder sogar ein bisschen zu provozieren. Auch um sich selbst immer wieder ein wenig herauszufordern. Natürlich ist Kia auch eine vergleichsweise junge Marke. Trotzdem ist es uns wichtig auch eine gewisse Kontinuität hineinzubringen, um Vertrauen bei unseren KundInnen aufzubauen und dieses auch zu erhalten. Es geht darum große Schritte zu machen, die aber keinesfalls Unsicherheiten bei den KundInnen hevorrufen dürfen«, so Schreyer, der seinen Posten als Designchef mittlerweile an Luc Donckerwolke übergeben hat und nun als Präsident des Designmanagements des Gesamtkonzerns fungiert. Ein schmaler Grat, wie er abschließend betont. Gleichzeitig aber auch eine feine Linie, auf der sich Zeitlosigkeit und überraschend Ungewohntes gut ausbalancieren lassen. Wenn man, wie Schreyer, ein ebenso geübter wie talentierter Seiltänzer ist.

 

Mehr als 10 Jahre ist es mittlerweile her, dass Designer Peter Schreyer, mit seinem Entwurf der »Tiger Nose«, der Marke Kia ein neues Gesicht gab und Designgeschichte schrieb. © Kia Design Center Europe

 

STABILE FUNDAMENTE FÜR IKONEN

Wer im täglichen Rennen um die Aufmerksamkeit potenzieller KundInnen die Nase vorn haben möchte, muss also Gesicht zeigen. Das wusste Peter Schreyer, als er damit begann, jedes Modell der koreanischen Marke Kia mit der charakteristischen »Tiger Nose« auszustatten, das wissen aber auch all jene, die sich erfolgreich auf sozialen Plattformen im Netz bewegen. So konnte kürzlich nachgewiesen werden, dass Fotos, auf denen ein Gesicht oder mehrere Gesichter zu sehen sind, um 35 Prozent mehr Likes und Reaktionen bekommen, als Bilder, die keine Gesichter zeigen. »Das menschliche Gesicht ist für uns der wichtigste Reiz, der von unserer Umwelt abgegeben wird. Früher entschied die Fähigkeit, ein Gesicht richtig zu deuten aber häufig ganz einfach auch darüber, ob ich überlebe oder nicht«, weiß Marketingexperte und Universitätsprofessor Jan Landwehr. Auch wenn sich die Folgen einer möglichen Fehlinterpretation heute nicht mehr ganz so lebensbedrohlich darstellen, ist, wie Landwehr erklärt, der Wunsch danach, in jeder Sache — und sei sie auch noch so leblos — ein Gesicht zu erkennen, immer noch tief in der menschlichen Wahrnehmung verankert. Wer Gesichtszüge dort erkennt, wo es per definitionem gar kein Gesicht gibt, erhofft sich dadurch nämlich auch gleich den Zugang zu Persönlichkeit und Identität mitgeliefert zu bekommen. Leider gibt es dafür keinen verbindlichen Zugangscode, denn viele Aspekte daran sind, wie so oft, einfach Auslegungssache. Das gilt teilweise auch für die oft und gern erwähnte »Brand Identity «. Diese kann, wie Landwehr betont, durch das Design natürlich entscheidend mitgeprägt werden, eine vorgefertigte Formel dafür, wie weit man sich mit einer neuen Strategie und Formensprache aus dem Fenster lehnen darf, gibt es, trotz MAYA-Prinzips, aber nicht. So hat sich Peter Schreyer zum Beispiel dafür entschieden, Designstrategie und Markenidentität der Marke Kia auf ein Fundament zu stellen, dessen Bausubstanz ganz neu angemischt werden musste. Bei vielen anderen Marken setzt man hingegen verstärkt auf die Pflege eines bestehenden Konstrukts und eines starken Erbes. So erklärt Mercedes-Benz-Chefdesigner Gorden Wagener beispielsweise, dass schon der erste Mercedes Simplex einen »Grill« und damit auch ein »Gesicht« hatte. »Das ist jetzt mehr als 100 Jahre her. Seither pflegen wir unser ›Marken-Gesicht‹. Wir haben bei uns im Designgebäude eine Galerie vieler Kühlergrills an der Wand hängen. Als ich in 2008 die Verantwortung für das Design übernommen habe, war mir klar, dass wir ein Erbe haben, das es zu pflegen gilt. Wir haben eine Gegenwart, die wir mit Hingabe perfekt für unsere Kunden gestalten. Und wir haben eine Zukunft, die wir Designer gestalten, das ist die größte Verantwortung.« Letztlich zählt vor allem, dass das Fundament, ganz gleich aus welcher Bausubstanz es nun besteht, nicht wackelt. Schließlich möchte man auch in Zukunft noch Ikonen geschickt darauf platzieren können. Und diese fühlen sich auf stabilem Untergrund bekanntlich besonders wohl. Falls es in Zukunft überhaupt noch Platz für echte Ikonen gibt. »Diese Möglichkeit anzuzweifeln, würde der visionären Ausrichtung guten Designs entschieden widersprechen«, wendet Peter Schreyer ein. »Ich glaube nicht, dass in Zukunft, trotz Car Sharing und alternativer Antriebsformen, alle Autos gleich aussehen werden. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass die Vielfalt erhalten bleibt — auch, um die unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen hinsichtlich ihrer Mobilität zu befriedigen. Dazu werden wir einen wesentlichen Beitrag leisten«, fügt er noch hinzu. Etwas stärker emotional aufgeladen, bringt auch Wagener seine Ansicht dazu auf den Punkt: »Jeder Designer und jede Designerin strebt nach der Gestaltung von Ikonen. Glauben Sie keinem Designer, der Ihnen etwas anderes erzählt, sonst bräuchte es uns gar nicht. Wir haben eine Ikonen-Ausstellung, wenn Sie so wollen, nämlich das Mercedes-Benz Museum in Stuttgart. Und ich werde niemals nachlassen, das beste Design entwerfen zu wollen. Das bin ich der Marke, meinem Team, den KundInnen und mir selbst gegenüber schuldig. Unsere heutigen Autos sollen später ihren würdigen Platz in diesem Museum finden, geringer wird unser Anspruch nicht sein.« Angesichts der immer schnelleren Verfügbarkeit von Dingen, die mit immer geringeren Halbwertszeiten ausgestattet werden, ließe sich das natürlich auch pessimistischer sehen. Aber wer möchte schon der Wahrheit ins Gesicht blicken, wenn er stattdessen auch einer wahren Sportwagen-Ikone, wie dem Mercedes 300 SL, in die Augen schauen kann? Eben, niemand so wirklich.