Einer der Größten seiner Zeit

Ricardo Bofill und sein Lebenswerk

Photo Credits: Lluis Carbonell

Text Bettina KRAUSE

Mutig, monumental, dramatisch und meisterhaft — Ricardo Bofills postmoderne Bauten sind nicht nur ein zentraler Beitrag zur Architekturgeschichte, die von ihm entworfenen Siedlungsprojekte, Plätze und Viertel revolutionierten vielfach den Städtebau. Insbesondere seine einzigartigen sozialen Wohnungsbauten polarisierten dabei auch stark, wurden euphorisch gelobt und zuweilen auch heftig kritisiert. »Die moderne Architektur sieht überall gleich aus und hat keinerlei Persönlichkeit. Wir brauchen aber etwas ganz anderes«, sagte Ricardo Bofill, der als einer der visionärsten Architekten der Postmoderne in die Geschichte eingeht. Was er im Sinn hatte, sollte das Gegenteil von eintönig und anonym sein: Er zelebrierte eine poetische, fantasievolle Baukunst zu der jede und jeder Zugang haben sollte.  Im Jänner 2022 verstarb der katalanische Architekt im Alter von 82 Jahren. Wir blicken auf das Lebenswerk des Visionärs zurück.

 

Photo Credits: Lluis Carbonell

Ricardo Bofill wurde am 5. Dezember 1939 in Barcelona geboren und schon in Kindheitstagen soll sein Interesse der Baukunst gegolten haben. Nach dem Besuch eines französischen Gymnasiums begann er ein Architekturstudium in Barcelona und setzte dieses später an der École d’architecture in Genf fort. Sein erstes Haus soll Bofill aber bereits mit 17 entworfen haben und im Alter von 24 gründete der Katalane sein eigenes Büro. Der Name: Ricardo Bofill — Taller de Arquitectura (RBTA). Unterstützung erhielt er in seinem Team unter anderem von SoziologInnen, PhilosophInnen, DichterInnen und DesignerInnen. Wesentlich war aber auch stets der Einfluss seines Vaters, Emilio Bofill Benessat, seines Zeichens Bauunternehmer. Ästhetisch wurde Ricardo Bofill von seiner katalanischen Herkunft beeinflusst, aber auch von vielen Reisen, sei es nach Italien oder Nordafrika.

 

MENSCHEN IM FOKUS DER ARCHITEKTUR

Bofill war Visionär, ein Künstler und Freigeist. Er wollte die Stadt neu denken — als lebenswerten Lebensraum für die BewohnerInnen, losgelöst von traditionellen, wie er sagte, »spießigen« Häusern und Straßen, von festgelegten sozialen Strukturen. Vielmehr war für ihn das Zimmer als kleinste Einheit, um die sich die Stadt mit ihren kollektiv nutzbaren Räumen und Infrastrukturen erstreckt, zentral. Diese Einzelräume gruppieren sich bei Bofill idealerweise zu Gebäuden, die sich scheinbar beliebig erweitern lassen konnten. Attraktiv an Bofills Vorstellungen sind der für alle erschwingliche Wohnraum sowie die Funktion der Architektur, Identität zu stiften — vor allem im Sektor des sozialen Wohnungsbaus. Optisch machen Ricardo Bofills monumentale neohistoristische Fassaden seine Bauten unverwechselbar — in der Zeit der Postmoderne waren historische Zitate angesagt. Stahl und Beton waren seine bevorzugten Materialien, die seine realisierten Großprojekte oft wie gestaffelte, majestätische Festungen wirken ließen. Bereits mit Mitte Vierzig war der Architekt eine vielbeachtete Größe der Branche, der ebenso verehrt wie kritisiert wurde.

Sein Büro expandierte 1971 nach Paris, wo er verschiedene eindrucksvolle Wohnsiedlungen in den Vororten der Metropole realisierte.

 

Photo Credits: Image courtesy of Ricardo Bofill Taller de Arquitectura

Xanadú, Calpe, Spanien, 1971

 

LEBENSWERTE WOHNUTOPIEN

Eines der ersten Projekte, die Ricardo Bofill mit seinem Büro realisierte, ist der Wohnblock Xanadú an der Küste von Calp in Spanien, von 1971. Der Bau umfasst 18 übereinander gestapelte Apartments, die aus Elementen traditioneller Häuservolumen bestehen. Als Alternative zum eintönigen Wohnungsbau entwarf Bofill diese kubenartigen, überlagerten Strukturen mit kleinen Vorsprüngen und Dächern als detailreiches Gebäude. Im Mittelpunkt standen dabei die BewohnerInnen mit ihren Bedürfnissen. Entsprechend wurden Fenster nach ihrer idealen Ausrichtung — nach Bedarf an Licht, Lüftung und Privatsphäre — platziert und das Innere der Räume mit möglichst hoher Wohnqualität gestaltet.

Nicht weit entfernt entstand ein ähnlich Aufsehen erregendes Gebäude: La Muralla Roja ist eine farbenprächtige Formvollendung. Wie eine Festung — oder wie ein rötlicher Kristall — wirkt der 1973 ebenfalls an der Costa Blanca entstandene Wohnkomplex. In dem von außen monochrom rosafarbenen und verschachtelten Bau sind die 50 Apartments mit Balkonen über labyrinthische Treppen, Gänge und Brücken miteinander verbunden. Als Inspiration soll ihm die arabische »Kasbah« gedient haben. Auf der Form des Quadrates basiert die sich stetig wiederholende Grundform, die La Muralla Roja wirken lässt wie eine natürlich gewachsene urbane Struktur. Die entstehenden Symmetrien und Geometrien haben einen hohen ästhetischen Wert: Zahlreiche Fotoproduktionen und Filmdreharbeiten finden hier auch heute noch statt.

Zu einem der bekanntesten Projekte Ricardo Bofills gehört Walden 7 in Sant Just Desvern, einem Vorort von Barcelona. Der Name ist als Anspielung auf Henry David Thoreaus Roman Walden von 1854 zu verstehen. In dem Klassiker beschreibt Thoreau sein Leben in einer Blockhütte an einem See in Massachusetts. Dass Bofill diese Referenz wählte, verdeutlicht einmal mehr seinen Wunsch, den Menschen in den Mittelpunkt seiner Bemühungen zu rücken. Der Komplex Walden 7 umfasst mehr als 400 Apartments für sozialen Wohnungsbau, die sich um sieben Innenhöfe reihen. Realisiert wurde der Bau zwischen 1970 und 1975. Auch hier ergänzen sich wiederkehrende Einzelelemente zu einem großen Ganzen. Markant sind die rotbraunen Fassaden, die halbrunden, unregelmäßig platzierten Balkone, die zum Teil miteinander verbunden sind, sowie die Übergänge zwischen den baulichen Einheiten. In der vertikalen Stadt leben mehr als 1.000 Menschen, die neben der einzigartigen Architektur und Identität des Baus, auch die Dachgärten und Pools schätzen.

 

Photo Credits: Gregori Civera
Photo Credits: Gregori Civera
Photo Credits: Salva Lopez

La Muralla Roja, Calpe, Spanien, 1973

Photo Credits: Gregori Civera

Walden 7, Sant Just Desvern (Barcelona), Spanien, 1975

 

DIE VERWUNSCHENE FABRIK

Ebenfalls in Sant Just Desvern entstand Ricardo Bofills vielleicht — nicht nur flächenmäßig mit 31.000 Quadratmetern — größtes Meisterwerk. 1973 gestaltete RBTA die ehemalige Zementfabrik La Fábrica aus dem späten 19. Jahrhundert um und machte daraus den Sitz des Büros sowie das Zuhause Bofills und seiner Familie. Assoziationen zu Kathedralen oder Burgen aus Fantasyfilmen werden wach, wenn man den begrünten, überwucherten und verwunschen wirkenden Betonkoloss mit seinen Türmchen, Bögen und Säulen betrachtet. Aus Maschinenräumen und über 30 riesigen Silos bestand der Bau, in die Bofill Böden einziehen ließ, sodass sich neue räumliche Ebenen ergaben. Hohe Decken mit ebenso hohen Fenstern, die er einbauen ließ, machen die Räume luftig und hell. Zudem wirken die Räume mit den Fußböden aus Holz, den zahlreichen Pflanzen und fließenden Vorhängen wohnlicher, als man es von außen vermuten würde. Nicht nur die kilometerlangen, unterirdischen Tunnel und das waldartige Grün, das La Fábrica umgibt, machen das Gebäude auch heute noch zum architektonischen Highlight. Während Bofill in den Siebzigern für den Kauf und die Umwandlung des ehemaligen Fabrikgeländes belächelt wurde, ist heute die Nachnutzung außergewöhnlicher Gebäude mehr als populär. Aber das zeichnet einen Visionär aus: Auch bei Gegenwind dem eigenen Weg und der eigenen Intuition zu folgen. Und das tat Ricardo Bofill zeitlebens.

 

Photo Credits: Salva Lopez
Photo Credits: Nacho Alegre

La Fabrica, Sant Just Desvern (Barcelona), Spanien, 1975–heute

 

»VERSAILLES FÜR DAS VOLK«

Der soziale Wohnungsbau blieb zentrales Thema in seinem Schaffen. Wenige Kilometer von Paris entfernt realisierte Bofill zwischen 1978 – 1982 aus vorgefertigten Betonteilen Les Arcades du Lac. An einem künstlich geschaffenen See gelegen, umfasst die Wohnanlage 389 Einheiten mit Sozialwohnungen und Eigentumshäusern. Mit verschiedenen Sichtachsen, Innenhöfen und einer Parkanlage erinnert das Ensemble an eine Schlossanlage.

Ebenfalls in Paris entstand zwischen 1978 und 1984 Les Espaces d’Abraxas in der Planstadt Marne-la-Vallée. Von außen kommt der Bau einer monumentalen Festung gleich. Das neoklassizistische Ensemble wirkt aufgrund seiner Größe überwältigend: Fast 600 Apartments ordnen sich in einer strengen Geometrie um den halbrunden Innenhof an. Als »Versailles für das Volk« soll Bofill den symmetrischen Koloss mit den zahlreichen Säulen und Bögen bezeichnet haben.

 

Photo Credits: Gregori Civera
Photo Credits: Gregori Civera

Les Arcades du Lac, Paris, Frankreich, 1982

Photo Credits: Image courtes of Ricardo Bofill Taller de Arquitectura

Les Espaces d’Abraxas, Paris, Frankreich, 1982

 

IKONISCHER UFERBAU

In seinen späteren Jahren wandelte sich der Stil Bofills von einer postmodernen Formensprache hin zu einer eher zeitgenössischen, geradlinigen. In seiner Heimat Barcelona realisierte er neben dem Flughafen und dem Nationaltheater 2009 eines seiner letzten Projekte — das W Barcelona Hotel am Hafen der Metropole. Mit seiner markanten Form, die an ein vom Wind aufgespanntes Segel erinnern soll, ist das Hotel zum ikonischen Wahrzeichen Barcelonas geworden. Für Ricardo Bofill ist es eine Hommage an das Mittelmeer, dessen Szenerie die Gäste auf den 26 Etagen genießen können.

2012 übernahm Bofills Sohn Ricardo Bofill Junior die Leitung des Architekturbüros RBTA, das weiterhin zahlreiche Projekte auf dem gesamten Globus — von Chicago über Marokko, Tokio und Beirut — realisiert.

Anfang dieses Jahres, am 14. Januar 2022, starb Ricardo Bofill im Alter von 82 Jahren in Barcelona tragischerweise an den Folgen einer Covid-19 Erkrankung. Seine einzigartigen, visionären Gebäude — im Laufe seiner Karriere soll er an mehr als 1.000 Bauten beteiligt gewesen sein — und sein unvergleichlicher Formenreichtum werden noch lange an den Ausnahmearchitekten erinnern.

Photo Credits: Gregori Civera

W Barcelona Hotel, Barcelona, Spanien, 2009