Text Sarah WETZLMAYR
Starke Marken können sich große Sprünge erlauben, sind sich die Chefdesigner von BMW, Mercedes, Porsche und Audi einig. Mit neuen Designkonzepten, viel Mut und einem eindeutigen Bekenntnis zu Reduktion und Klarheit wollen sie die Vorreiterrolle des deutschen Automobildesigns auch in Zukunft erfolgreich verteidigen. Und zwar auf eher offensive als defensive Weise. Wir sprachen mit Adrian van Hooydonk, Gorden Wagener, Michael Mauer und Massimo Frascella über die Zukunft des deutschen Automobildesigns.
Wann wird aus Evolution eine Revolution? Und wie gelingt es, weit zu springen, dabei aber nur buchstäblich und nicht metaphorisch abzuheben? Oder auch: Wie bleibt man eng mit der Community verbunden, die sich rund um eine Marke gebildet hat, versetzt dabei jedoch das starke Band zwischen Produkt und Fangemeinde in eine neue, ungewohnte Spannung? Adrian van Hooydonk, Massimo Frascella, Michael Mauer und Gorden Wagener haben unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Es gibt allerdings auch eine Reihe an gemeinsamen Gedankengängen — unter anderem das Wissen darüber, dass große Sprünge im Automobildesign momentan vielleicht wichtiger sind als je zuvor. Aber auch, dass sie dabei den Faden zur jeweiligen Markenhistorie keinesfalls verlieren dürfen. Und: Sie alle sind davon überzeugt, dass das deutsche Automobildesign seine Vorreiterrolle nach wie vor erfolgreich verteidigt. Wie im Fußball gilt dabei aber auch im Automobildesign, dass eine offensivere Spielweise, die oftmals zielführendere Strategie ist, um in Führung zu bleiben.
Massimo Frascella, seit Anfang Juni dieses Jahres Chief Creative Officer bei Audi und bekennender Juventus-Fan, formuliert es im Gespräch mit Chapter folgendermaßen: »Es gibt viele Dinge, die Fußball und Automobildesign miteinander verbinden. Zunächst geht es in beiden Bereichen um Teamwork — man fährt weder im Design noch im Fußball einen sicheren Erfolg ein, wenn man lediglich elf Superstars aufs Feld schickt. Wenn es sich dabei aber um elf Menschen handelt, die dasselbe Ziel vor Augen haben und dieselbe Vision verfolgen, wird man schon eher gewinnen. Außerdem glaube ich, dass es notwendig ist, Risiken einzugehen und sich mit einer klaren Message von den anderen zu unterscheiden. Das Spiel so zu spielen, wie es alle anderen spielen? Das wäre nicht Audi.«
Daraus lässt sich unter anderem Folgendes ableiten: Der Sprung, von dem hier nun schon mehrmals die Rede war, darf ruhig weit und auch risikoreich sein, er sollte jedoch auf keinen Fall dazu führen, dass man dabei im sogenannten »Sea of Sameness« landet — und darin untergeht. Gorden Wagener, seit 2016 Chief Design Officer der Mercedes-Benz Group AG, ist sich sicher, dass das nur Marken passieren kann, die keine starke Markenidentität haben. Wenn es darum geht, die bereits angesprochene Vorreiterrolle nicht zu verlieren, kommt dieser nämlich eine Schlüsselrolle zu. Diese Ansicht teilt auch Porsche-Designchef Michael Mauer. Er hält fest: »Ein Thema, das das deutsche Automobildesign von neuen Mitbewerbern unterscheidet, sind die über die Jahre gewachsenen Marken. Speziell Porsche hat über mehr als 75 Jahre mit dem Design eine sehr starke, einzigartige und international etablierte Markenidentität aufgebaut. Wir haben die Balance zwischen ›typisch Porsche‹ und innovativen, neuen Designelementen über einen sehr langen Zeitraum hinweg perfektioniert. Aber: Die neuen Designs, die vor allem aus dem asiatischen Raum kommen, werden immer besser. Was vor Jahren noch an abgewandelte Designs deutscher Hersteller erinnerte, etabliert sich zunehmend zu eigenständigen Lösungen. Ich finde es spannend, die Entwicklung dieser Marken zu beobachten.« Mauer ist davon überzeugt, dass es ohne starke Markenidentität keine Identifikation mit der Marke geben kann — und diese bräuchte es, um auf nachhaltige Weise begehrenswert zu bleiben.
Gorden Wagener leitet seit 2008 den weltweiten Designbereich von Mercedes-Benz und der dazugehörigen Marken Mercedes-Maybach und Mercedes-AMG. Für ihn ist Schönheit ein intuitives Gefühl — ein Ideal, dem man sich anzunähern versucht, erklärt er im Interview mit Chapter.
Die Mercedes-Benz Designphilosophie der »Sinnlichen Klarheit« verschmilzt Emotion und Intelligenz und wird von Gorden Wageners Designteam kontinuierlich weiterentwickelt — ohne dabei jedoch ihren definierten Rahmen zu sprengen. (Im Bild: Mercedes-Benz EQS 580 4MATIC)
Seit 20 Jahren prägt der in Rotenburg an der Fulda geborene Michael Mauer das Design der Sportwagen aus dem Hause Porsche. Als er 2004 in Stuttgart-Zuffenhausen anfing, gab es bei Porsche nur drei Baureihen — den 911, den Boxter und den Cayenne. Fragt man ihn nach dem letzten großen Sprung bei Porsche, antwortet er: »Das war ganz klar die Einführung des ersten vollelektrischen Porsche Sportwagens. Lange bevor wir uns mit dem konkreten Produktdesign auseinandergesetzt haben, haben wir uns mit der rein strategischen Fragestellung beschäftigt, wie wir das Auto aus Designperspektive positionieren wollen. Kern dieser Überlegung war die Entscheidung, wie weit wir die neue Antriebsart visuell vom klassischen Verbrenner differenzieren wollen. Wir haben uns bewusst dazu entschieden, dem Taycan eine eindeutige Porsche Identität zu geben. Aus unserer Sicht war es wichtig, die Zugehörigkeit zur Marke Porsche ganz klar optisch in den Vordergrund zu rücken. Konkret beginnt dies schon weit vor dem reinen Stylingprozess mit dem Packaging: Die Anordnung der Komponenten war für die Proportion ausschlaggebend und deshalb zu Beginn des Entwicklungszyklus ein ganz maßgebliches Thema.«
Gerade für eine traditionsreiche Sportwagenmarke im Luxussegment ist der Wechsel auf eine andere Antriebsart ein großes Wagnis. Doch wenn es nach Michael Mauer geht, gilt: »Nichts ist unantastbar. Ich bin fast 40 Jahre in diesem Beruf und aus dieser Erfahrung heraus würde ich sagen, dass man heute definitiv weiter gehen kann als noch vor 20 Jahren. Und sogar muss. Die Dinge, die man neu denkt und verändert, müssen aber auch gut gemacht sein. Es nur anders zu machen, reicht nicht.«
Seit 20 Jahren prägt der in Rotenburg an der Fulda geborene Michael Mauer das Design der Sportwagen aus dem Hause Porsche. Für ihn sind Kontinuität und Konsistenz zwei der wichtigsten Aspekte der starken Markenidentität.
Auch bei der Gestaltung dese rsten vollelektrischen Porsche, des Taycan, war es Michael Mauer wichtig, trotz neuer Antriebsart eine eindeutige Porsche Identität zu gewährleisten. (Im Bild: Taycan Turbo Cross Turismo, 2024)
Adrian van Hooydonk, Leiter BMW Group Design, ist davon überzeugt, dass große Schritte in der Technologie nach ebenso großen Weiterentwicklungen im Design verlangen. Darauf antwortet der bayrische Hersteller mit einer Entwicklung, die definitiv an der Grenze zwischen Evolution und Revolution stattfindet: Ab 2025 kommen die ersten Modelle der Neuen Klasse auf den Markt — ein neuer, stark weiterentwickelter Designansatz, der sich nach und nach durch die gesamte Modellpalette ziehen wird. Zusätzlich hat sich das Designteam teilweise neu aufgestellt — mit Maximilian Missoni stößt ein neuer, aber sehr erfahrener Designer zum Führungsteam dazu.
»Die Neue Klasse ist so modern, dass es fast so aussieht, als ob wir eine ganze Generation übersprungen hätten. Gleichzeitig machen wir das natürlich so, dass unsere Kunden und Kundinnen diesen Schritt auch mitgehen wollen. Wir möchten niemanden auf diesem Weg verlieren«, so Hooydonk. Reduktion lautet dabei das oberste Credo. Bei gleichzeitiger Freilegung des BMW-Markenkerns. Was diesen konstituiert, beantwortet der gebürtige Niederländer auf folgende Weise: »Für die Marke BMW ist das seit jeher eine sportliche Eleganz. Dynamik gepaart mit Leichtfüßigkeit. Wenn man sich die Designs aus den 1970er Jahren ansieht, war das zu dieser Zeit auch schon so. In unserer Neuauflage wollen wir das mit noch weniger Elementen machen — noch unaufdringlicher. Dennoch wird das, was BMW ausmacht, in diesen wenigen Elementen noch deutlicher wahrnehmbar sein. Wir sind davon überzeugt, dass das außerordentlich gut in die nächste Dekade passen wird.«
Darüber hinaus soll die möglichst nahtlose Verbindung von Design und Technik weiterhin im Vordergrund stehen. Das bedeutet: »Wenn etwas schnell aussieht, ist es auch schnell. Wir möchten das Fahrerlebnis mit dem Design in Einklang bringen und umgekehrt. Das bedingt einen frühen Austausch zwischen Technik und Design. Ich glaube, dass uns das nachhaltig von vielen neuen Mitbewerbern differenziert.«
Denn schlussendlich, so Hooydonk, ist es so, dass Autos zwar hochkomplexe, technologische Produkte darstellen, die Technologien zwischen den Marken dann aber gar nicht so unterschiedlich sind. »Am Ende geht es also um die Mischung der Ingredienzien. Wie ein Koch, dem es gelingt, mit den gleichen Zutaten ein anders schmeckendes Gericht zu kochen.«
Für Adrian van Hooydonk, seit 2009 Leiter BMW Group Design, sind gute Proportionen der Grundstein für gelungenes Automobildesign. »Danach kommt die Oberfläche. Danach kommen die Linien und dann erst die Details.«
Bei Audi ist seit Juni 2024 der gebürtige Italiener Massimo Frascella für die perfekte Mischung aller gestalterischen Zutaten verantwortlich. Er begann seine Karriere bei Stile Bertone, weitere Stationen seiner Designkarriere waren die Ford Motor Company und Kia. Von 2011 bis 2024 war Frascella in leitenden Positionen bei Jaguar Land Rover tätig. Als Chief Creative Officer bei Audi möchte er Kreativität noch stärker als Teil des Markenkerns voranbringen. Das spiegelt sich auch in der Organisation des deutschen Automobilherstellers wieder, denn seit kurzem ist das Design-Ressort direkt beim Vorsitzenden des Vorstands verankert. »Kreativität ist etwas, das meiner Ansicht nach das gesamte Unternehmen durchdringen sollte — nicht nur die Design-Abteilung. Dazu gehört für mich auch der Mut, den es braucht, um Risiken einzugehen. Aber auch der Glaube an die Dinge, die man anstößt. Und an die eigene Intuition«, hält Massimo Frascella fest.
In welche Richtungen er das kreative Potential des Unternehmens künftig lenken möchte, darf der Designer zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht in konkreten Bildern zeigen. Einige der Zutaten kann er aber schon verraten, sagt er lachend und beginnt zu erklären: »Wir haben vier Schlüsselprinzipien etabliert, die lauten: Klarheit, Technik, Emotion und Intelligenz. Diese Elemente müssen in jedem Entwicklungsschritt, den wir im Design setzen, vorhanden sein. Wenn wir von Klarheit und Reduktion sprechen, bedeutet das unter anderem, dass alle Designelemente, die wir entwerfen, eine Daseinsberechtigung haben müssen und sich dabei auch authentisch ins Markenbild einfügen sollten. Beim Thema Technik beziehen wir uns natürlich auf unser Markencredo »Vorsprung durch Technik« — es geht um Präzision, Fortschritt, Sophistication. Emotion bedeutet Begehrlichkeit — im Sinne von: Man muss keinen Audi besitzen, man möchte unbedingt einen besitzen. Damit gehen für mich auch ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und eine Eleganz einher, die keinesfalls bemüht aussehen sollte. Der letzte Punkt — die Intelligenz — bezieht sich auf große Transformationen in der Industrie. Unter anderem darauf, wie der Konsument mit dem Produkt interagiert, aber auch auf sämtliche Aspekte, die das Imperativ der Nachhaltigkeit betreffen.«
Seit Juni 2024 ist Massimo Frascella Chief Creative Officer der Audi AG. Seine Designphilosophie basiert auf Simplizität, Eleganz und Klarheit — Werte, die er in alle Aspekte bei Audi einfließen lassen möchte.
Bei Mercedes haben es Gorden Wagener und sein Team in der Hand, die etablierte Designphilosophie der »Sinnlichen Klarheit«, die Emotion und Intelligenz verschmilzt, kontinuierlich in die Zukunft zu entwickeln — ohne dabei jedoch ihren Rahmen zu sprengen. Das hält das Mercedes-Designteam allerdings nicht davon ab, diese Rahmenbedingungen nicht ständig auf die Probe zu stellen. »Dafür haben wir ›Advanced Design‹, unser globales Designnetwork. Von den Designern und Designerinnen die dort arbeiten, wünsche ich mir, dass sie ›Sensual Purity‹ kontinuierlich überprüfen und die gesamte Bandbreite der Philosophie ausloten. Der Grundgedanke bleibt zwar gleich, trotzdem müssen wir uns jeden Tag ein Stückweit neu erfinden und uns selbst herausfordern.« Die französische Modemarke Chanel sei ein gutes Beispiel dafür, wie sich eine Marke ohne große Brüche laufend weiterentwickelt hat, fügt Wagener im Gespräch mit Chapter hinzu. »Karl Lagerfeld hat verstanden, was Coco Chanel einst kreiert hat, ist aber nicht davor zurückgeschreckt, das auch zu challengen. Die DNA der Marke hat er dabei jedoch nie verletzt. Starke Marken und Stile erlauben es, damit zu spielen.« Darüber hinaus sei es auch so, dass der Luxussektor viele Entwicklungen vorwegnehme und der Mainstream diese nach und nach kopiere, ergänzt der Mercedes-Designchef. »Das bedeutet, dass der Luxus den Geschmack für eine exklusive Gruppe definiert und es dann in die Breite geht. Aus diesem Grund muss sich Luxus immer weiterentwickeln.«
Ansätze, wie jener von Massimo Frascella, der vorlebt, wie sich die gesamte Organisation von der Kreativität des Designteams anstecken lassen kann, zeigen, dass »design-driven« in der Automobilbranche mehr als nur ein leeres Schlagwort ist. Damit geht auch einher, dass es im Automobildesign längst nicht mehr nur darum geht, Production Cars und Showcars zu entwickeln, sondern es auch zu den Aufgaben der Designteams gehört, die gesamte Markenidentität mitzugestalten. »Manchmal wünsche ich mir die alten Zeiten zurück, weil wir uns da viel mehr auf unsere Kernkompetenzen konzentrieren konnten. Auf der anderen Seite finde ich es ungemein spannend, dass wir Designer immer mehr in die Gestaltung des gesamten Markenbildes involviert werden. Dadurch hat sich die Bedeutung des Designs insgesamt auch sehr verändert. In Führungspositionen ist man plötzlich Teil der gesamten Unternehmensausrichtung«, bringt es Michael Mauer auf den Punkt. Denn: Um ganz vorne mitzumischen, muss die Kombination aus Marke und Produkt stimmen.
Wenn es darum geht, was einen guten Entwurf ausmacht — was ihn vielleicht sogar zur Ikone werden lässt —, entdeckt man, über alle vier Marken hinweg, einige Parallelen. Unter anderem: Proportion ist (fast) alles. Gorden Wagener drückt es so aus: »Du musst das Haus richtig bauen. Die richtige Proportion macht 80 Prozent der Miete aus.« Und Adrian van Hooydonk beschreibt die Hierarchie der einzelnen Schritte im Designprozess auf folgende Weise: »Ist die Proportion schlecht, wird kein gutes Design entstehen. Die Proportion ist der Grundstein, danach kommt die Oberfläche. Danach kommen die Linien und dann erst die Details. Unsere Kunden und Kundinnen sehen das allerdings in der umgekehrten Reihenfolge: Sie sehen zuerst die Details und nehmen die Proportionen vielleicht gar nicht so bewusst wahr.«
Die zweite wichtige Gemeinsamkeit ist das ungebrochene Naheverhältnis zu Reduktion und Klarheit. Was das konkret bedeutet? »If you like it, take one line off. If you still like it, take another line off«, bringt es Gorden Wagener auf den Punkt. Daraus resultiert im besten Fall: Langlebigkeit, Zeitlosigkeit und im allerbesten Fall die Aufnahme in den Olymp der Designikonen. Auch Massimo Frascella gibt sich rasch als Designer zu erkennen, der wohl schon in der Schule keine große Lust auf Zierzeilen hatte. Klarheit, Präzision und perfekte Proportion — so lauten die Grundfeste seiner Designphilosophie. Die große Herausforderung besteht also darin, mit möglichst wenigen, dafür klaren Linien eine eigene Handschrift zu erzeugen.
Gelingt einem das, ist man dann nahe dran, an der perfekten Form? Massimo Frascella lacht und antwortet: »Perfektion gibt es nicht. Natürlich streben wir als Designer dennoch danach. Für mich persönlich ist der Audi TT der ersten Generation jenes Auto, bei dem ich behaupten würde, dass es sehr nah dran ist. Ich sage das deshalb, weil ich bei diesem Auto nichts anders machen würde. Nein, auch aus heutiger Perspektive würde ich nichts daran verändern.« Der TT der ersten Generation sei ein Auto, das so rational ist wie kaum ein anderes, seine Wirkung aber auf einer unglaublich emotionalen Ebene entfaltet, führt Frascella weiter aus. »Das ist auch ein wichtiger Teil dessen, was Audi ausmacht: Eine Form der Rationalität, die direkt ins Herz trifft.«
»Kreativität iste twas, das meiner Ansicht nach das gesamte Unternehmen durchdringen sollte — nicht nur die Design-Abteilung«, betont Massimo Frascella im Gespräch mit Chapter. (Im Bild:: Design-Skizze des Audi A5)
Dass es die perfekte Form möglicherweise gar nicht gibt, tut jedoch dem Perfektionismus des Audi Chefdesigners keinen Abbruch. »Ich bin sehr stolz auf viele Autos, an denen ich gearbeitet habe. Das hält mich jedoch nicht davon ab, über kleine Anpassungen oder Änderungen nachzudenken, wenn ich sie auf der Straße sehe.« Sein größter Kritiker sei er selbst, so Frascella. »Vielleicht bin ich manchmal sogar zu streng mit mir selbst. Andererseits ist das etwas, wozu ich auch mein Team stets ermutige: Geht kritisch mit euren eigenen Ideen um und seid nicht gleich mit der ersten Idee zufrieden. Überprüft sie, vielleicht kommt ihr am Ende ja sogar wieder zu ihr zurück.«
Zum Thema Perfektion hat auch Gorden Wagener einiges zu sagen. »Ich bin ein Freund von perfekter Ästhetik«, hält er fest. Für ihn sei Schönheit ein intuitives Gefühl — ein Ideal, dem man sich anzunähern versucht. »Wissend, dass wir die Perfektion der Kreation nie erreichen werden. Trotzdem versuchen wir es. Neben der visuellen Definition gibt es dann aber auch noch die intellektuelle Ebene, die mir sagt: Das ist neu und unerwartet — the extraordinary. Und genau diese beiden Seiten sind es auch, die die Mercedes-Designphilosophie der ›Sinnlichen Klarheit‹ konstituieren.«
Auch der Designprozess an sich hat diese beiden Seiten — ist Intuition und mentale Stärke gleichermaßen. Das bedeutet unter anderem, dass es nicht ausreicht, gute Ideen zu haben, sondern man diese auch erfolgreich verkaufen muss. »Design ist ein mentales Spiel, wie der Fußball auch. Es ist ein Wettbewerb und wir spielen sozusagen in der Champions League«, so Gorden Wagener, der auf die enge Beziehung zwischen Produkt und Designer hinweisen möchte. »Ein Auto verkörpert auch immer die Philosophie seines Designers, in meinem Fall ist das »Sinnliche Klarheit«. Und deshalb ist mein aktuelles Lieblingsauto immer jenes, an dem ich gerade arbeite.« Zu einem gewissen Anteil teilt auch Michael Mauer diese Aussage: »Designer identifizieren sich in einem hohen Maß mit ihrer Arbeit und den Projekten, an denen sie arbeiten. Ein positives Feedback stärkt die Motivation umso mehr. Aber: Nicht jedes Design kann einen starken Wettbewerb — auch im internen Vergleich verschiedener Entwürfe — gewinnen. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass auch der Umgang mit einem vermeintlichen Misserfolg für junge Designer ein wichtiges Lernfeld ist.«
Und wie war das nochmals mit der Intuition? Massimo Frascella antwortet: »Es gibt natürlich immer eine Grundlage, die auf Daten basiert. Aber von diesem Startpunkt ausgehend, kommen dann Intuition und Bauchgefühl ins Spiel. Die Intuition ist es auch, die meiner Meinung nach, am Ende den Unterschied macht. Denn wären nur die Fakten von Bedeutung, würden ja alle zu demselben Schluss kommen.« Dann wäre auch der Sprung in den sogenannten »Sea of Sameness« kein allzu weiter mehr. Anders als beim Fußball, bei dem die Spieler und Spielerinnen im Hier und Jetzt über den Platz laufen und dabei die perfekte Balance zwischen Offensive und Defensive ausloten, leben Automobildesigner und -designerinnen in der Zukunft — zumindest beruflich. Und sind dabei — im besten Fall — ihrer Zeit zwar voraus, ohne dabei jedoch den Bezug zur Gegenwart zu verlieren. »Ich sage immer, dass bei uns im Design eine andere Zeitzone herrscht, denn wir arbeiten jetzt gerade an jenen Autos, die Ende der Dekade auf den Markt kommen. Mit Studien und Showcars gehen wir sogar noch weiter in die Zukunft. Wenn man also heute Kunden oder Kundinnen fragt, wie ihnen das Auto gefällt, an dem man gerade arbeitet, bekommt man immer eine Antwort aus der Gegenwart. Wenn es ihm oder ihr heute nicht gefällt, ist das häufig ein besseres Zeichen als sofortige Begeisterung«, beschreibt Gorden Wagener die ungewöhnliche Zeitzone, in der er sich beruflich aufhält. Ob es ihm manchmal Angst mache, die Zukunft der Mobilität auf solch entscheidende Weise mitzugestalten, wollen wir gegen Ende des Gesprächs noch von Massimo Frascella wissen. Mit der für ihn typischen Offenheit antwortet er: »Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zu finden, weil es sicherstellt, dass man den Respekt vor der Aufgabe nicht verliert und trotzdem kreativ und neugierig bleibt. Denn das sind meiner Ansicht nach die wichtigsten Eigenschaften, wenn es darum geht, relevant und erfolgreich zu bleiben. Mit der Erfahrung kommt außerdem das Selbstbewusstsein und das Wissen darüber, dass wir die Zukunft gut antizipieren und damit emotionale sogar ikonische Modelle entwerfen können.«
Geht es nach Gorden Wagener, kommt dabei auch der Leidenschaft eine zentrale Rolle zu: »Design ist für mich eine aristokratische Beschäftigung. Jede Gestaltungsaufgabe ist eine Erfüllung und eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung.« Und manchmal fügen sich all diese Aspekte perfekt ineinander und es passieren obendrein auch noch sogenannte »happy accidents«, wie sie Michael Mauer gerne bezeichnet. Im Laufe des Gesprächs kommt ihm ein konkretes Beispiel dafür in den Sinn: »Vor Jahren haben wir gemeinsam im Team an einem Claymodell über die Gestaltung der Heckpartie eines 911 diskutiert — ich habe mich am Modell angelehnt und so versehentlich ein Teil abgebrochen. Ergebnis: Das Störgefühl, über das wir zuvor noch diskutiert hatten, war weg — Problem gelöst.« Nur ein kleiner Bruchteil jener Probleme, die die Zukunft der Mobilität betreffen, werden sich wohl auf diese Weise lösen lassen. Möglicherweise bedarf es da schon eher der ein oder anderen Revolution. Wie diese aussehen wird, liegt unter anderem in den Händen jener vier Menschen, mit denen wir für diesen Artikel gesprochen haben.
ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №XI »TASTEMAKERS« – WINTER 2024/25