TEXT MAX MONTRE | ERSCHIENEN IN CHAPTER №IX »WORK IN PROGRESS« – WINTER 2023/24
In kaum einer Branche erleben althergebrachte, fast vergessene Handwerkstechniken eine derartige Renaissance, wie in der Haute Horlogerie. Das traditionelle Wissen der Spezialisten und Spezialistinnen wird von Luxusuhrenmarken gehütet wie ein Schatz. Dieser technologische Artenschutz hat einen guten Grund.
Die Handarbeit habe, konstatiert Justin McGuirk in seinem Essay »Craft fetishism: From objects to things«, geradezu »magische Eigenschaften« angenommen. Nicht ganz unironisch merkt der Londoner Schriftsteller, Kritiker und Kurator an, dass sie nicht zuletzt für Luxusmarken eine Abkürzung darstelle, um der Kundschaft mitzuteilen: Wir sind authentisch, wir sind glaubwürdig. Tatsächlich sei es gerade die »Spur der Hand«, die die Qualität ausmache, hält McGuirk, ganz ohne Augenzwinkern, fest: Das Handgemachte sei ein echtes Gütesiegel. Kaum wo hat man das mehr verinnerlicht als in der Haute Horlogerie, der Hohen Uhrmacherkunst. Man sieht sich, wohl auch aus Marketinggründen, als Gralshüter jahrhundertealter handwerklicher Tradition. Dort gilt der althergebrachte Spruch wie wohl selten irgendwo sonst: »Das Handwerk hat goldenen Boden«. Handwerkliches Geschick darf fallweise gar als eine noble Art des Seins verklärt werden. Und das nicht nur vollkommen ironiefrei, sondern todernst.
Denn das Handwerk, ein durchaus emotional aufgeladener Begriff, ist überlebenswichtig für einen Wirtschaftszweig, der im Grunde genommen ein überflüssiges Produkt herstellt. Es ist ein wichtiges Distinktionsmerkmal, um sich von der Masse abzuheben: Manufakturelles Arbeiten in eigener Regie ist das Kennzeichen des Luxus. Deshalb wird es von sämtlichen Uhrenmarken so gerne hervorgestrichen.
Warum? Dafür muss man einen kurzen Blick zurück in die Geschichte werfen. Als in den 1970ern die billige Quarzuhr, oder mit den Worten des Star-Dirigenten Leonard Bernstein, »die größte Pest seit der Erfindung des Hustens«, die Welt im Sturm eroberte, schien die traditionell gefertigte mechanische Uhr mit einem Mal obsolet zu sein. Die stolze und selbstbewusste Uhrenbranche, gerade die eidgenössische, stürzte in eine lebensbedrohliche Krise. Der Zeitmesser, einst ein Symbol von Wert, wurde über Nacht zum Wegwerfartikel. Bewährte Hersteller gingen pleite, Familienbetriebe in den Bankrott, man rief den Notstand aus.
Was in den Jahrzehnten danach geschah, grenzt an ein Wunder. »Eine Renaissance ohnegleichen«, wie es Uhrenexperte Gisbert L. Brunner ausdrückt. Teure, mechanische Zeitmesser waren plötzlich wieder gefragt, Quarzuhren unter Kenner:innen verpönt. Denn: Zum Luxus gehört Seele. Die wurde der Quarzuhr kurzerhand abgesprochen. Eine Seele könne nur das Mechanikwerk besitzen — zusammengeschraubt wie vor über hundert Jahren: »Seit 1735 gibt es bei Blancpain keine Quarzuhren. Es wird auch nie welche geben.« Selten ist ein Satz aus einer Werbeanzeige so in Erinnerung geblieben wie dieses Statement der Uhrenmarke Blancpain aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Es fasst das Credo der Haute Horlogerie zusammen. Auf diese Weise wurde der alte Mythos von der (Schweizer) Luxusuhr neu belebt, der Mythos von Uhrmacher:innen, die an ihrem speziellen Arbeitsplatz sitzend, bekleidet mit einem weißen Kittel und einer Lupe vor dem Auge, an einem Uhrwerk schrauben. Von Spezialist:innen, die ihre Handgriffe über Jahre immer weiter verfeinert haben, bis hin zu Artisans, die selten gewordenes (Kunst-)Handwerk am Leben erhalten und ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben. Und je kleiner das Werkstück, desto größer der Aufwand, lautet die von Thomas Wanka, dem ehemaligen Chefredakteur des deutschen Uhren-Magazins, aufgestellte Faustregel. Diesen Aufwand möchte man den Kund:innen gerne kommunizieren, ihn für sie sichtbar machen.
Was das Uhrwerk und dessen Gestaltung betrifft, war dieses lange Zeit eine verborgene Welt, die sich nur dem Uhrmacher oder der Uhrmacherin offenbarte. Die Uhrenträger:innen bekamen davon wenig bis gar nichts mit. Das änderte sich mit dem Siegeszug des Sichtglasbodens, der eine neue Transparenz mit sich brachte. Das Sichtfenster am Gehäuseboden lässt meist nicht nur einen Blick auf das Werk zu, sondern offenbart dessen formvollendete Dekoration. Ob Brücken, Kloben oder Platinen, ob Schliff oder Politur, hier sehen Uhrenliebhaber:innen, dass sich geschickte Hände fantasievoll auf kleinstem Raum ausgetobt haben. Als Teil der Finissage, der Fertigbearbeitung des Zeitmessers, erhalten verschiedene Einzelteile zierende Muster. Namhafte Manufakturen wie Cartier, Patek Philippe, Jaeger-LeCoultre, Vacheron Constantin oder Chopard treiben es auf die Spitze: Jedes Werk ist gleich aufwändig dekoriert, auch dann, wenn es unter einem blickdichten Gehäuseboden verborgen sein mag. Aber auch deutsche Luxusuhrenhersteller wie A. Lange & Söhne oder Glashütte Original,mit Sitz im sächsischen Uhrenstädtchen Glashütte, stehen den Eidgenossen in nichts nach.
Der wohl bekannteste Zierschliff ist der Wellenschliff. Das klingt auf Deutsch fast schon banal und hört sich auf Französisch, quasi der inoffiziellen Sprache der Uhrmacherei, gleich besser an: »Côte de Genève« (Genfer Streifen). Dabei handelt es sich um eine rippenförmige Dekoration aus breiten, geraden Streifen. Weithin gebräuchlich auch der Kreiselschliff, die »Perlage«, aus kleinen, dicht beieinanderliegenden Kreisen und der Sonnenschliff, »Soleil«, in Form von strahlenförmigen Rippen. Während die Genfer ihre Streifen haben, bestehen die Glashütter auf ihre eigene Spezialität. A. Lange & Söhne nennt seinen Schliff »Glashütter Streifen«, Patek Philippe wiederum wirft noch seinen hauseigenen »Rundschliff« ins Rennen — ein Muster, das in parallelen Bogen auf dem Rotor des Automatikwerks aufgebracht wird. Zuständig für diese diffizilen Arbeiten sind jeweils im eigenen Haus ausgebildete Handwerker:innen. Bei Patek Philippe heißen sie Artisans, bei A. Lange & Söhne Finisseur:innen. Ihnen gemeinsam ist Fingerspitzengefühl, Erfahrung, eine ruhige Hand und präzises Arbeiten. In den Ateliers von Patek Philippe etwa werden die Genfer Streifen mit Hilfe einer Buchsbaumscheibe aufgebracht, die eine seidige, gediegene Optik schafft. Ein Vorteil des hölzernen Werkzeugs: Beim Schleifen wird kein Material abgetragen. Die hölzerne Scheibe ist dem Vernehmen nach mit einer besonderen, aus Geheimzutaten bestehenden Paste bestrichen. Lavendel-Essenz soll sie angeblich enthalten.
Den Arbeitsvorgang beschreibt die Uhren-Journalistin Iris Wimmer-Olbort so: Die in einer Maschine angebrachte Schleifscheibe wird durch ein Fußpedal abgesenkt, um dann von der Hand des Artisans geführt und mit sorgfältig dosiertem Druck von einer Seite auf die andere über das Werkstück gezogen zu werden. Durch die parallelen, freihändig geführten Bewegungen entsteht das gewünschte, feine Wellenmuster der Genfer Streifen. »Vor allem durch die Kunstfertigkeit des Handwerkers, denn die Maschine gibt lediglich eine gewisse Stabilität und sorgt für das Rotieren der Schleifscheibe«, erklärt sie. Ähnlich erfolgt die Ausführung von anderen Mustern. Auch die Perlage wird durch eine von Hand geführte Vorrichtung aufgebracht. Für das Finish werden zwischen 35 und 50 Prozent der gesamten Fertigungszeit für ein Uhrwerk aufgebracht. Das kann man sich gut vorstellen, immerhin dauert alleine das Aufbringen eines Zierschliffs auf so winzige Teile wie Brücken schon 20 bis 25 Minuten.
Das Finish beinhaltet nicht nur den Streifenschliff oder die Perlage, auch das Anglieren der Kanten fällt darunter. Hier spiegelt sich nicht nur die Liebe zum Detail wider: Beim Anglieren werden die Kanten von Brücken, Kloben, Hebeln auf 45 Grad abgeschrägt und auf Hochglanz poliert. Auf diese Weise werden die Umrisse ästhetisch betont, in erster Linie aber winzige Grate, die beim Fräsen entstanden sind, entfernt. Geschieht dies nicht, könnten sich diese später lösen und den Gang eines Uhrwerkes empfindlich stören. Die Kunst dabei ist, dass die erzeugte Fläche auf ihrer gesamten Länge die gleiche Breite und den gleichen Winkel aufweisen muss. Sieht man sich die — oftmals selbstangefertigten — Werkzeuge der Graveur:innen und Angleur:innen an, fühlt man sich in längst vergangene Zeiten zurückversetzt. Bei Chopard zum Beispiel arbeiten diese Spezialist:innen mit feinen Feilen bis hin zu angespitzten Enzianwurzeln oder dem Mark der Äste des Holunderstrauchs, das sie zum Polieren der Werkteile verwenden. So lässt sich gut nachvollziehen, wie einst die (Uhren-)Bauern in den langen, kalten Wintern im Schweizer Val-de-Travers gearbeitet haben müssen. Viele dieser solcherart verzierten und polierten Kleinstteile verschwinden, wie erwähnt, danach unter Zifferblätter oder werden von anderen Bauteilen überdeckt. Also wozu die ganze Mühe? »State of the Art«, lautet die Antwort bei einem Besuch der Chopard-Manufaktur in Fleurier. Die Kund:innen bekommen, was sie sich von einem Stück der Haute Horlogerie erwarten dürfen — Finesse und Handarbeit bis ins kleinste Detail, auch wenn dies nicht zu sehen ist.
Komplett offenherzig präsentieren sich dagegen skelettierte Uhren — nicht nur vom Gehäuseboden, sondern auch von der Frontseite her hat man einen freien Blick auf das Werk, dessen Innenleben jeden Aficionado so fasziniert, und dessen Einzelteile bis auf eine tragende Grundsubstanz »durchbrochen« sind, wie es in Fachkreisen genannt wird. Seit den 1930ern gibt es skelettierte Uhren. Heute kann dies auch maschinell durchgeführt werden, aber die weitaus aufwändigere Verfeinerung per Hand ist es, die in der Haute Horlogerie angestrebt wird.
Ein Anspruch, den sich gerade auch Cartier auferlegt, wo man das Skelettieren zur Perfektion gebracht hat, wie die aktuellste Version des Uhrenmodells Santos-Dumont zeigt, das heuer erstmals mit einem skelettierten Uhrwerk ausgestattet wurde. Der Zeitmesser ist eine Hommage an den Flieger Alberto Santos-Dumont, für den Louis Cartier 1904 die erste moderne Armbanduhr entwickelte, die am Handgelenk getragen werden konnte. An ihr sieht man, worum es beim Skelettieren geht. Nicht nur um die kunstfertige Bearbeitung winziger Uhrwerkteile, die mit Virtuosität und Akkuratesse veredelt werden, sondern auch Fantasie und Kreativität. Nur so entsteht ein faszinierendes Kunstwerk. Das Endergebnis soll eben nicht nur interessante Durchblicke bieten, sondern auch bis ins kleinste Detail anmutig und ausgereift wirken.
Alles beginnt mit einem Muster, das auf Einzelteile des Werks, etwa der Platine, aufgebracht wird. Ziel ist es, bis an die Grenzen der funktionellen Stabilität zu gehen. Am Ende sollen nur die zierlichen Umrisse der Werkkomponenten und die nötigsten Verbindungen stehen bleiben, damit alles zusammenhält. Ist das Muster aufgebracht, beginnt die eigentliche Handarbeit: Zunächst werden winzig kleine Löcher in das Werkstück gebohrt. Durch diese wird das Sägeblatt einer Uhrmachersäge gesteckt, dann wird das Werkstück bearbeitet. Das erinnert irgendwie an eine Laubsägearbeit, wobei der Vergleich natürlich hinkt. Schließlich sägen Uhrmacher:innen in einer ganz anderen Dimension — ohne Lupe und einer ruhigen Hand geht hier nichts. Und so bewegt sich das hauchdünne Sägeblatt am Muster entlang bis nur noch das Skelett des Werkteils zurückbleibt. Danach werden die Einzelteile noch gebrochen, verfeinert, mit einer Polierfeile glänzend geschliffen, bevor sie wieder zusammengesetzt werden.
Die »Spur der Hand« von der Justin McGuirk spricht, ist besonders deutlich bei einem anderen Kunsthandwerk zu sehen, das die Menschheit seit Jahrtausenden begleitet. Mit Gravuren wurden bereits Tierknochen versehen. Wieso also nicht auch Uhrwerke? Die Frage ist rhetorisch zu verstehen. Und so greifen Graveur:innen in der Haute Horlogerie zu althergebrachten, nostalgisch wirkenden Werkzeugen wie Spitz-, Flach-, Oval-, Fadenstichel, etc., um Kalibern feinste Bilder, Ornamente oder Reliefs einzugraben. Ein Mikroskop ist dabei hilfreich. Immerhin spielt sich wieder alles auf kleinstem Raum ab. Span für Span wird das Material nach einem vorher festgelegten Muster mit dem Stichel abgetragen. »Eine Arbeit, die akribische Sorgfalt erfordert und nervenaufreibend sein kann«, schreibtIris Wimmer-Olbort. »Denn ein winziges Abgleiten mit der Hand kann das ganze Stück ruinieren.« Warum setzt man dann nicht auf die Präzision eines computergeführten Lasers, könnte man hier einwerfen. Die Antwort führt uns wieder auf die »Spur der Hand«: Es sind die kaum wahrzunehmenden Unregelmäßigkeiten, die wahre Handarbeit begleiten, solcher Art entstandene Muster sind unnachahmlich und machen letztendlich den Charme eines Produktes aus, das sich wie kein anderes über Argumente wie »Leidenschaft« und »Einzigartigkeit« verkauft, wie es Doris Rothauer (Kreativität & Kapital) sinngemäß ausdrückt.
Ebenso wie bei der Gravur lassen sich auch bei der uralten Technik des Guillochierens, bei der feine, kaleidoskopähnliche Muster auf dem Zifferblatt entstehen, Unregelmäßigkeiten entdecken. Seit dem 18. Jahrhundert sind guillochierte Dosen- und Taschenuhrdeckel beliebt. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts macht der legendäre Uhrmacher Abraham Louis Breguet das guillochierte Zifferblatt zu seinem Markenzeichen. Es hat auch dank der Marke Breguet, die heute zur Swatch Group gehört, den Weg in die Gegenwart gefunden. Auch wenn heute technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, um eine guillochierte Optik zu erzielen, werden doch jene Uhren besonders geschätzt, deren Zifferblätter von Hand guillochiert wurden. Uhrenmarken weisen daher stolz auf jene Modelle hin, bei denen dies der Fall ist.
Nicht ohne Grund: Selbst versierte Spezialist:innen benötigen einen ganzen Tag, um ein einzelnes Zifferblatt zu guillochieren. Sie arbeiten dabei mit einer Art Drehbank, in der das Werkstück eingespannt ist. An dieses wird ein Werkzeug herangeführt, ein Stichel aus Stahl oder auch mit Diamantspitze. Während die Drehbank manuell in Schwung gehalten wird, drücken die Handwerker:innen das Werkzeug mit dem gegebenen Druck dagegen und »stechen« ein vorgegebenes Muster in die Metalloberfläche. Die Guillocheur:innen müssen ihren Stichel dabei immer wieder absetzen, um einen neuen Durchgang zu beginnen, müssen auf die richtige Tiefe und Gleichmäßigkeit achten. Die liebevoll und zeitaufwändig hergestellten Oberflächen können Uhrkenner:innen dann nur noch mit Hilfe einer Lupe bewundern. Denn dort, wo auf den Stichel mehr Druck ausgeübt wurde, sieht man winzige Schatten.
Diese »Kunst des Einzigartigen« ist längst keine Spezialität europäischer Uhrenmarken. Handarbeit ist auch der Schlüssel eines jeden Schrittes in der Grand Seiko Uhrenherstellung. Während das Zifferblatt mit der maschinellen Herstellung einer Basisplatte beginnt, sind es die Handwerker:innen der japanischen Uhrenmarke, die jedem Zifferblatt seinen individuellen Charakter verleihen. Sie plattieren und beschichten die Basisplatten und nach dem Schneiden und Bohren setzen sie jedes Teil, einschließlich der Indizes und Zeiger, von Hand zusammen. Selbst die Pinzetten und anderen Instrumente, die die Uhrmacher:innen verwenden, um jedes Teil an der richtigen Stelle zu platzieren, sind Spezialwerkzeuge, die von den Kunsthandwerker:innen angepasst und eingestellt werden, um ihre Präzision zu bewahren und ihrem besonderen handwerklichen Stil zu entsprechen.
Die Schönheit der »Snowflake«- und »Sonnenschliffmuster«-Zifferblätter, die das Shinshu Uhrenstudio von Grand Seiko in der Stadt Shiojiri in der Präfektur Nagano, kreiert, sind die Verkörperung der handwerklichen Fähigkeiten der Uhrmacher:innen und haben eine besondere japanische Herkunft und Ästhetik. So wurde das 2005 kreierte »Snowflake«-Zifferblatt von der Oberfläche des Schnees inspiriert, der in der Region Shiojiri mehrere Monate im Jahr liegt. Das seidig schimmernde »Sonnenschliffmuster«-Zifferblatt wiederum fängt das Licht mit einer Vielzahl feiner Linien ein, die einen tiefen Glanz erzeugen. Zunächst wird eine Silberschicht auf die Basisplatte aufgetragen, die anschließend in einer speziellen Lösung gebürstet wird. Anschließend wird eine dicke Klarlackschicht aufgetragen und poliert, sodass eine glatte Oberfläche entsteht, auf die das Liniennetz gezeichnet wird. In jeder Phase wird jedes Zifferblatt von Hand bearbeitet und einzeln geprüft, um seine Perfektion zu gewährleisten, verspricht man.
Dieses Streben nach möglichst exklusiven Stücken hat letztlich einen positiven Nebeneffekt: Fast vergessene Techniken werden wieder aus ihren Nischen geholt. Fest steht, dass dank der Uhrenbranche (aber nicht nur dort) handwerkliche Fähigkeiten, die schon von vorgestern erschienen und in Vergessenheit zu geraten drohten, eine Wiedergeburt erleben. Die Branche betreibt »technologischen Artenschutz«, indem sie klassische Handwerkskünste vor dem Aussterben bewahrt.
Bei Patek Philippe etwa wird, wie seit den Anfangstagen vor über 180 Jahren, emailliert. Dabei handelt es sich um ein Material, das schon in der Antike verwendet wurde. Es ist, dem Kristall nicht unähnlich, eine Mischung aus Siliziumdioxid, alkalischen Bestandteilen und Blei. Es wird bei sehr hoher Temperatur geschmolzen und anschließend zu einem farblosen Pulver zermahlen. Durch kontrolliertes Brennen und die Zugabe von Oxiden erreicht man eine große Farbenvielfalt. Allein beim Emaillieren gibt es zahlreiche Unterarten, die wiederum ganz besondere Fertigkeiten voraussetzen.
Auf die Spitze treibt es Cartier. Mit dem Maison des Métiers d’Art hat man sich in La-Chaux-de-Fonds in einem denkmalgeschützten, umgebauten Bauernhof eine eigene Welt der Handwerkskünste geschaffen. Holzvertäfelungen und alte Kalkfliesen, die in der Umgebung zusammengesammelt wurden, traditionell mit Kalk verputzte Wände, entsprechendes Mobiliar: Man fühlt sich beim Betreten dieses schmucken Hofes in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. Das lichtdurchflutete, vierstöckige Gebäude beherbergt seit 2014 ein hochmodernes Institut, das sich mit überlieferten, teilweise jahrtausendealten Handwerkstechniken befasst. Die dort beschäftigten Mitarbeiter:innen haben sich fast ausnahmslos dem Kunsthandwerk verschrieben. Das beinhaltet auch Forschungs- und Recherchearbeit, wenn es etwa darum geht, sich einen bestimmten Handgriff anzueignen, ein spezielles Werkzeug herzustellen oder eine schon verlorengegangene Technik wiederzuerlangen.
So steht ein Handwerker vor einem Holzgestell, das entfernt an einen vorindustriellen Webstuhl erinnert. Es ist eine Eigenentwicklung, ein Unikat. Über eine Fußwippe wird ein dünnes Sägeblatt, ähnlich dem einer Laubsäge, in eine Auf-und-ab-Bewegung versetzt. So hat der Arbeiter die Hände frei, um feinste Holzplättchen präzise in die gewünschte Form zu schneiden. Aus zahlreichen solcher Plättchen, die sich aus dünnem, geschichtetem Holz zusammensetzen, entsteht dann nach stundenlangem Tun ein Tiermotiv. Es ist eine fitzelige Arbeit, die ein hohes Maß an Vorstellungsvermögen und Geschick bedarf. Die Holzeinlegearbeit wird am Ende eine exklusive Uhr aus der Métiers-d’Art-Kollektion von Cartier zieren.
Ein Stockwerk tiefer schaut eine Mitarbeiterin konzentriert in ein Mikroskop. Über einen Bildschirm kann man verfolgen, was sie tut: Mit Pinzetten legt sie extrafein gehämmerte Gold- und Platindrähte, die zuvor gekordelt, gewalzt, gedreht oder zu winzigen Ringen geformt wurden, zu einem Motiv zusammen. Ohne die Hilfe des Mikroskops wäre das eine fast unlösbare Aufgabe, sind die Drahtgeflechte doch nur wenige Millimeter klein. In diesem Zusammenhang könnte man sagen: Wo das menschliche Auge optischer Hilfsmittel bedarf, um der Hand der Uhrmacher:innen den Weg zu weisen, da beginnt die Wertschöpfung in der Uhrmacherei. Filigranarbeit nennt sich diese uralte Goldschmiedetechnik, die schon von den Sumerern beherrscht worden sein soll. Allerdings standen die nicht vor der Herausforderung, ihre Kunstwerke auf der Größe eines Zifferblatts unterbringen zu müssen. Das kann schon mehrere Monate in Anspruch nehmen. Das Endprodukt ist dementsprechend hochpreisig.
Handwerkliches Wissen ist in der Uhrenwelt daher eine harte Währung. Es wird gehütet wie ein Schatz. So wie diejenigen, die dieses Wissen ihr Eigen nennen. Diese Spezialist:innen sind gefragt und rar. Egal wen man besucht, sei es Cartier oder Patek Philippe, die vollen Namender Kunsthandwerker:innen werden nicht preisgegeben. »Wer Luxus verkaufen will und der Versuchung erliegt, die Produktion aus der Hand zu geben, riskiert den Tod der Marke«, hält Doris Rothauer fest.
Justin McGuirk wiederum merkt an, dass die Hand wieder groß im Geschäft sei. Er führt dies auf ein Verlangen nach Authentizität zurück, nach Geschichten, die hinter den Gegenständen stecken. Zu einem Gutteil sei diese Stimmung auch auf Nostalgie zurückzuführen, eine Möglichkeit, eine Welt auszubalancieren, die stark in Richtung Digitalisierung kippt. Möglicherweise erklärt sich so auch, warum die mechanische Uhr erneut ein Objekt der Begierde geworden ist, ist sie doch ihrerseits »in hohem Maß ein Verweis auf die Vergangenheit«, wie es Uhrenexpertin Maria-Bettina Eich ausdrückt. Das Bild einer versunkenen Welt des hingebungsvollen Handwerkertums verkörpert nicht nur eine »Tendenz zum sentimentalen Eskapismus«, meint dazu der englische Kunsthandwerkstheoretiker Glenn Adamson. Maria-Bettina Eich hält fest: »Es verbürgt auch die Rarität des Luxusobjekts Uhr: Ein Produkt, das auf Handarbeit durch Spezialisten angewiesen ist, lässt sich nicht in unbegrenzten Massen produzieren.«