Die Arche Neri

Designerin, Architektin und Wissenschaftlerin Neri Oxman (Coverstory Chapter VI)

Image courtesy of OXMAN; Photo: Matthew Millman © OXMAN Photo: Matthew Millman. © OXMAN

Text | Sarah Wetzlmayr

Mehr als zehn Jahre lang leitete Neri Oxman die »Mediated Matter Group« am renommierten MIT. Nun hat die vielfach ausgezeichnete Designerin, Architektin und Wissenschaftlerin ihren Lebensmittelpunkt nach New York verlagert, wo sie mit ihrem transdisziplinär agierenden Team Zukunftsszenarien entwerfen möchte, deren Grundlage die unbedingte Verschränkung von Biologie und Technologie ist.

 

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Ausstellung »NATURE X HUMANITY« SFMOMA San Francisco, 2022

 

Mit Ausnahme des Broadway, der das weltbekannte Gittersystem diagonal durchkreuzt, sind die Straßen Manhattans so angeordnet, dass sie von oben betrachtet ein strenges Raster ergeben. Auch das 10-stöckige Art-Deco-Gebäude mit der Adresse 787 11th Avenue ist Teil dieses Systems. Auf insgesamt 36.000 frisch renovierten Quadratmetern werden hier künftig WissenschaftlerInnen, DesignerInnen, ArchitektInnen und BiologInnen zusammenarbeiten, die über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinausblicken möchten. Für Neri Oxman, multidisziplinär agierende Gründerin jenes Designstudios und Labors, das gerade im Inneren des 1927 errichteten New Yorker Gebäudes entsteht, ein Grundpfeiler ihrer Arbeit. Als »thinking outside the box« wird diese Herangehensweise gerne bezeichnet. Eine etwas ungewöhnlichere und damit für Neri Oxmans Denk- und Arbeitsweise passendere Alternative wäre: »Ausrasten«. Im besten Sinne des Wortes, versteht sich.

Anders als das New Yorker Straßensystem verlaufen die gedanklichen Leitlinien, an denen sich Oxman in ihrer Arbeit als Architektin und Designerin orientiert, nicht schnurgerade, sondern meist wellenförmig. Sie haben ihren Startpunkt im Garten ihrer Großmutter in Haifa oder an der Hebrew University Hadassah Medical School, wo Neri Oxman zwei Jahre lang Humanmedizin studierte. Manche bildeten sich auch erst am MIT heraus, jener renommierten Universität in Massachusetts, an der sie 2010 ihren PhD in Design Computation erhielt und an der sie danach die »Mediated Matter Group«, eine multidisziplinäre Forschungsgruppe, gründete und leitete. Obwohl sie einst unterschiedlichen Quellen entsprangen, haben all diese Gedanken- und Ideenströme dennoch eines gemeinsam — sie laufen, wenn auch manchmal auf Umwegen, auf eine Vision zu, die Neri Oxman in Interviews gerne folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Grow everything!«

Als Tochter eines Architekten und einer Architektin wurde sie in eine Welt hineingeboren, in der Gespräche und Diskussionen über das Entwerfen, Gestalten und Bauen an der Tagesordnung standen. Dazwischen zog es Oxman, die in der israelischen Stadt Haifa geboren und aufgewachsen ist, in den Garten ihrer Großmutter. »Sie hat mir beigebracht, Wolken zu zählen, Pilze zu sammeln und Blumen zu pressen«, erinnert sie sich. Vor allem hat sie ihre Enkeltochter aber gelehrt, »nie mit dem Staunen aufzuhören«1. Die Verschmelzung von Natur und Architektur, die sich schon in ihrer Kindheit in sie einschrieb, ist heute eines der Grundprinzipien ihrer Arbeit. Wobei Neri Oxman das organisch Gewachsene noch vor das von Menschenhand Gebaute stellt. »The architect of the future is a gardener«, sagt sie und der Einfluss ihrer Großmutter, die ihrer heranwachsenden Enkeltochter das Träumen lehrte, ist in diesen Momenten eindeutig zu erkennen.

An der Gestaltung ebenso interessiert zu sein wie an der fertigen Gestalt, ist für Neri Oxman eine weitere Grundvoraussetzung, die zukünftige ArchitektInnen in ihren beruflichen Alltag mitbringen sollten. Darüber hinaus hält sie es für essenziell, Gebäude — egal welcher Art — immer in Beziehung zueinander und nicht als voneinander unabhängig existierende Objekte zu betrachten. Braucht man ein konkretes Bild zum abstrakten Berufsbild, schlägt Neri Oxman Folgendes vor: »The architect of the future owns a microscope.« Ein Satz, der kaum mehr »typisch Neri« sein könnte — klar und bildstark. Übertroffen vielleicht nur noch von: »form follows pheromones«, einem Satz der ihr in den Sinn kam, als sie darüber nachdachte, wie robotische Arme eingesetzt werden könnten, um Pheromone zu produzieren, mit deren Hilfe sich Bienen möglicherweise in vorgefertigte Waben locken ließen2.

Das Bild der über ihr Mikroskop gebeugten Architektin legt darüber hinaus einen weiteren wichtigen Puzzlestein ihrer Philosophie frei: »Um Großes zu erreichen, müssen wir zuerst versuchen in ganz kleinen Einheiten zu denken.« Damit sich der mit freiem Auge kaum sichtbare Faden einer Seidenraupe in einen mehr als menschenhohen Pavillon verwandelt, braucht es aber vor allem eines: immenses Vorstellungsvermögen. Unterhält man sich mit der Designerin und Architektin, ist man sich rasch sicher, dass die Vorbedingung dafür die Fähigkeit zu staunen ist. Und zwar am besten so, wie es Kinder tun, wenn sie, wie Neri Oxman einst, den Garten ihrer Großmutter erkunden: mit offenem Mund und großen Augen. Heute hilft ihr dieser Zugang dabei, eine Skulptur zu erkennen, wo andere nur einen Haufen zu Boden gefallener Blätter sehen.

Von der Erkenntnis zur Kenntnis

Neri Oxman, die unter anderem für ihre Experimentierfreudigkeit bei der Suche nach neuen Materialien bekannt ist, wird nicht müde zu betonen, dass in Zukunft alle von Menschen hergestellten Materialien auf Basis einer Kombination natürlicher und synthetischer Verfahrensweisen entstehen werden. »In einer Welt, in der von Menschenhand geschaffene Materialien biokompatibel sind, lassen sich designte Produkte nicht mehr von natürlich gewachsenen Produkten unterscheiden«, bringt sie ihre Betrachtungsweise ohne große Umschweife auf den Punkt. »Material Ecology« nennt sich jene Disziplin, die sich der Verschränkung von Biologie und Technologie verschrieben hat und die es, aufgrund ihrer flirrenden Präsenz und ihres unermüdlichen Einsatzes, längst aus den Forschungsstätten hinaus in Museen und Magazine geschafft hat. Oxman beschreibt die Ausrichtung dieser noch sehr jungen Disziplin auf folgende Weise: »Ziel ist, durch den Einsatz neuartiger digitaler Bautechnologien, die natürliche biobasierte Materialien für groß angelegte Bauvorhaben nutzen, eine vollständige Synergie zwischen gewachsener und gebauter Umwelt zu ermöglichen.«

 

Image courtesy Neri Oxman and The Mediated Matter Group © Massachusetts Institute of Technology

TOTEMS, 2019, Mikrobielle Melanin Synthese

 

Mehr als zehn Jahre lang war die an das Media Lab des MIT angeschlossene »Mediated Matter Group« jener Ort, an dem all diese unterschiedlichen Ansätze und Herangehensweisen zusammenflossen. Ein Biotop an Ideen und Visionen — oder wie es Nicholas Negroponte, Mitbegründer des Media Labs, formulierte: ein Hort für talentierte Menschen mit der »licence to be weird«3. Die von ihr geleitete Arbeits- und Forschungsgruppe betrachtete Neri Oxman stets als eine Art Inkubator und verglich sie in Gesprächen gerne mit der Arche Noah. Ein Ort, an dem sie, wie sie immer wieder betonte, eine Designpraxis einführen wollte, mit der es gelänge, den ganz großen Krisen unserer Zeit zu begegnen.

Um ihre eigene Firma OXMAN auf die Beine zu stellen, zog es Neri Oxman nach mehr als einem Jahrzehnt am MIT schließlich nach New York — in das 10-stöckige Haus mit der Adresse 787 11th Avenue. Das auf der Arche angehäufte Wissen nimmt sie nun dorthin mit. Wissenschaft und ökologisches Unternehmertum sind für Oxman, die nun auch »Gründerin« und »Unternehmerin« zur langen Liste ihrer Berufsbezeichnungen hinzufügen darf, »das Yin und Yang des Strebens nach einer Wirkungsform, die sich von Natur aus gegen unternehmerische und politische Regime richtet«. Der Wechsel in die Industrie ermöglicht es ihr nun, »von der Erkenntnis zur Kenntnis, vom Wissen zur Praxis und vom Träumen zum Machen überzugehen«.

 

Image courtesy Neri Oxman and The Mediated Matter Group © Massachusetts Institute of Technology

AGUAHOJA, 2014–2020

Image courtesy Neri Oxman and The Mediated Matter Group © Massachusetts Institute of Technology

 

DIE NATUR ALS BIBLIOTHEK

Zuerst in kleinen, möglicherweise sogar mit freiem Auge kaum sichtbaren Einheiten zu denken, um anschließend etwas Großes zu bewirken, lautet einer jener Grundgedanken, die Neri Oxman bis heute begleiten. In der gemeinsamen Arbeit bedeutete das für sie und ihr Team unter anderem, mit einer Fülle unterschiedlicher Materialen zu experimentieren — eine Bibliothek zu entwickeln, die auf den ersten Blick eher wie ein Kuriositätenkabinett anmutet. In Anlehnung an den argentinischen Schriftsteller und Bibliothekar Jorge Luis Borges steht Neri Oxmans library of all things that matter — dazu passend: »mediated matter« — jedoch nicht für ein willkürliches Sammeln um des Sammelns willen, sondern für einen paradiesähnlichen Zustand. Der einst von Borges niedergeschriebene Satz »I have always imagined that paradise will be a kind of library« lässt sich, so Oxman, nämlich ganz einfach auch auf die Natur übertragen, allerdings ist ihr paradiesischer Anteil einer ständigen Bedrohung durch den Menschen ausgesetzt. »Ich habe die Natur immer als eine Art Bibliothek von kolossaler Größe und kosmischem Ausmaß betrachtet. Nur dass wir uns zu viele Dinge ausgeliehen haben, ohne sie wieder zurückzugeben, und jetzt den Preis dafür zahlen«, erläutert Neri Oxman in der für sie typischen Weise — mit einer Poesie, die niemals zur Pose wird, sondern immer der klaren Positionierung dient. Wobei sich diese Beschreibung auch auf ihre Arbeiten übertragen lässt.

Oder wie es ihre Kollegin, Freundin und Mentorin Paola Antonelli formuliert: »Was Dr. Oxman als Wissenschaftlerin so ungewöhnlich macht, ist ihr Sinn für Ästhetik. Sie hat keine Angst vor Schönheit. Sie ist deshalb ein Geschenk für die Architektur- und Designwelt, weil ihre Arbeit sowohl wissenschaftlich fundiert ist als auch auf ästhetischer und theoretischer Ebene funktioniert.4« Paola Antonelli, Kuratorin für Architektur und Design am MoMA, spielt von Beginn an eine wichtige Rolle für Neri Oxman. Das erste Treffen fand vor etwa 17 Jahren statt. Nicht nur das Zusammentreffen, sondern auch die Zugfahrt bis zum vereinbarten Treffpunkt hat sich tief in Neri Oxmans Gedächtnis eingegraben. »Ich wollte Paola Antonelli eine Arbeit von mir zeigen, weil sie damals gerade darüber nachdachte, sie in ihre Ausstellung ›Design and the Elastic Mind‹ aufzunehmen. Ich hatte deshalb mehrere Modelle und meinen Laptop dabei. Um sicherzustellen, dass ausreichend Platz für die Modelle vorhanden ist, habe ich zwei Amtrak-Tickets gekauft — eines für mich und eines für die Modelle. Nachdem ich die Fahrkarten gekauft hatte, musste ich kurz schmunzeln, weil ich mir dachte: Wenn diese Arbeit einen Platz im Zug verdient, muss ich einfach auf dem richtigen Weg sein. Paola verstand die Kernideen hinter dem Projekt und seine Algorithmen sofort und der Rest ist Geschichte.«

 

Image courtesy Neri Oxman and The Mediated Matter Group © Massachusetts Institute of Technology

Ausstellung »NERI OXMAN: MATERIAL ECOLOGY«, MoMA New York, 2020

 

NATUR TRIFFT LITERATUR

»What matters«, also welche Stoffe und Materialien jenes Potenzial erkennen lassen, nach dem Neri Oxman in ih- rer Arbeit sucht, ist in ihrem Fall alles andere als streng eingegrenzt. Melanin, Kolibakterien und Apfelschalen fanden bereits genauso ihren Weg in die scheinbar unendliche Bibliothek Oxmans wie die Schalen von Garnelen. Bei neuen Projekten ist das Material häufig der Startpunkt. »Aber nicht immer«, fügt Oxman rasch hinzu. »In unserer Arbeit versuchen wir immer wieder, uns an den Ursprüngen zu orientieren. Auf diese Weise sind wir schon mehrmals zur Erkenntnis gelangt, dass wir umso weiter in die Zukunft blicken können, je weiter wir gedanklich zurückgehen. Wenn wir bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen uralte biologische Modelle heranziehen, können wir uns über das Alltägliche hinausheben. Nur wenn wir uns an der Natur orientieren, kann es uns gelingen, ein Gleichgewicht zwischen dem Zeitgemäßen und dem Zeitlosen herzustellen.«

Inspiration findet Neri Oxman an unterschiedlichen Orten — nicht nur an natürlichen, sondern auch an fiktiven. Manchmal treffen dabei Natur und Literatur aufeinander. Das Projekt »Totems«5, das zuerst in Paola Antonellis Ausstellung »Broken Nature« und später in der Ausstellung »Material Ecology«4 im MoMA gezeigt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. So liegt der Ursprung des Projekts, das den möglichen Einsatz des Hautpigments Melanin2 in der Architektur zu erforschen versucht, im 42. Kapitel von Moby Dick. Und zwar in jenem Textabschnitt,»indemHerman Gegensätzeerscheinen, in Luft Melville versucht, die scheinbar widersprüchlichen Empfindungen, die von der Farbe Weiß ausgelöst werden, miteinander in Einklang zu bringen«, erinnert sich Neri Oxman. »Es war das Weiß des Wals, das Ishmael am meisten entsetzte, und doch assoziierte er mit genau diesem Weiß Schönheit und königliche Vorherrschaft. Am Ende des Kapitels geht Melville auf das Anderssein und den Albino-Wal ein. Ein ganzes Kapitel ist einer einzigen Farbe gewidmet. Wir haben daraufhin begonnen, die Bedeutung von Albinismus in der Natur und in der Kultur zu erforschen und kamen so auf Melanin.« Wenn es um die Arbeit an »Totems« geht, denkt sie außerdem gerne an jene Momente zurück, in denen sie als Gruppe gemeinsam Moby Dick rezitierten, während sie das von Pilzen produzierte Melanin dahingehend untersuchten, ob es möglicherweise ausreichend Schutz vor schädlicher Strahlung im Weltraum bieten könnte. Für Neri Oxman sind diese Augenblicke die aller kostbarsten — »in denen die Kultur nicht mehr von der Natur zu unterscheiden ist und umgekehrt sich beide zu einer Singularität vereinen«.

 

Image courtesy Neri Oxman and The Mediated Matter Group © Massachusetts Institute of Technology

Ein klares Wertesystem hilft ihr dabei, Fragen, Richtungen und Entscheidungen — wie beispielsweise bei der Suche nach neuen Materialien — zu überprüfen. »Solange man sich auf den eigenen moralischen Kompass bezieht und ein gutes Urteilsvermögen an den Tag legt, lösen sich vermeintliche Unterschiede zwischen Dingen, die auf den ersten Blick wie diametrale auf«, stellt sie fest und kommt in diesem Zusammenhang auf ihre Projekte »Silk Pavilion I & II«7 zu sprechen. Die drei Meter breite Kuppel von »Silk Pavilion I« (2013) wurde innerhalb von drei Wochen von insgesamt 6.500 lebenden Seidenraupen gebaut, die nur von einem Roboterarm unterstützt wurden. »Obwohl sich uns die Möglichkeit bot, mit transgenen Seidenraupen zu experimentieren, die als Bioreaktoren zur Herstellung rekombinanter, im Dunkeln leuchtender Proteine eingesetzt werden sollten, entschlossen wir uns schlussendlich dagegen. Aufgrund der synergetischen Beziehungen, die bei beiden Projekten zwischen den DesignerInnen, den Robotern und den Seidenraupen entstanden, ein Gewinn für alle Seiten. Wir haben die von Seidenraupen gesponnene Architektur gemeinsam entworfen und hergestellt, den Seidenraupen gleichzeitig aber auch eine gesunde Art der Metamorphose ermöglicht. Damit ist uns eine Abkehr von den jahrhundertealten Traditionen der Serikultur gelungen, die zur Folge haben, dass pro Produkt Tausende Seidenraupen sterben müssen«, erzählt Neri Oxman über jenes Projekt, das auch international sehr viel Aufmerksamkeit generierte.

Die Verbindung von Gewachsenem und Gemachtem, die gemäß des zu Beginn erwähnten Credos »Grow everything!« bei all ihren Projekten als eine Art Leitschnur fungiert, kommt in dem mehrteiligen Projekt »Aguahoja« 3 auf besonders eindringliche Weise zum Ausdruck. In »Aguahoja I« konzentrierte sich Neri Oxman mit ihrem Team auf die Entwicklung einer Roboterplatt- form für den 3D-Druck von Biomaterialien. Die Plattform wurde entwickelt, um Cellulose, Chitosan, Pektin und andere reichlich vorhan- dene Biopolymere in leistungsstarke, nachhaltige Hydrogele umzuwandeln, die mittels 3D-Druck zu Objekten verarbeitet werden können, die für Anwendungen unterschiedlicher Größenordnungen geeignet sind. Optisch verweist die Instal- lation auf einen ihrer Hauptbestandteile: 5.740 zu Boden gefallene Blätter wurden neben vielen anderen Materialien in »Aguahoja I« verarbeitet. »Die Sammlung von Biopolymer-Verbundstrukturen weist regelbare mechanische und optische Eigenschaften auf und reagiert auf die Umwelt in einer Weise, die mit synthetischen Gegenstücken unmöglich zu erreichen ist. Ein Designansatz, der organische Materialien und computergestütztes Design verwendet, verweigert sich der Kontrolle über die endgültige Form einer Struktur, indem er die Anfangsparameter nimmt, Daten aus der realen Welt mit einbezieht und einen Prozess der Formfindung oder des Wachstums entfaltet, der jenen, die man in der biologischen Welt beobachten kann, nicht unähnlich ist. Auf diese Weise arbeiten wir mit der Intelligenz der Natur und nicht gegen sie«, beschreibt Neri Oxman ihren Ansatz. Worauf es dabei letztendlich ankommt, ist die Sprache der Natur zu beherrschen — oder zumindest gewillt zu sein, diese (wieder) zu erlernen. Ansonsten würde sich, fügt sie hinzu, »die Kluft zwischen natürlichen und vom Menschen geschaffenen Systemen und Strukturen nur noch weiter vergrößern«.

 

Image courtesy of OXMAN. Photo: Matthew Millman © OXMAN
Image courtesy of OXMAN Photo: Matthew Millman © OXMAN

MAN­NAHĀTA, 2021, SFMOMA San Francisco

 

Der Blick zurück, der Neri Oxman oftmals wichtiger erscheint, als die Vorstellung als Allererste/r über eine noch nicht einmal vorstellbare Ziellinie zu laufen, nahm auch bei ihrem aktuellen Projekt, mit dem sie auch auf ihre neue Heimatstadt reflektiert, eine zentrale Rolle ein. »Man-Nahāta« ist eine im SFMOMA gezeigte Installation, die sich die Umwelt der Zukunft nicht als Betondschungel, sondern als Waldbiom vorstellt. »Sie kann Stonehenge neben Seagram beherbergen«, bringt es Neri Oxman auf den Punkt. »Biologisch abbaubare Flüchtlingsunterkünfte, die programmgesteuert in den Boden eingegraben werden können, um neues Wachstum zu fördern, werden neben robotergesteuerten Steinmauern existieren.«

Den Hintergrund für »Man-Nahāta« bildet »Megalopolis«, der demnächst erscheinende Film von Francis Ford Coppola, in dem ein Architekt und ein Wissenschaftler versuchen, New York City als Utopie mit einem intelligenten, unendlich anpassungsfähigen Material namens »Megalon« wiederaufzubauen. »In einer Reihe von Studien, die für den Film entstanden sind, werfen wir einen Blick zurück in die Zeit vor 1600, als Manhattan eine vielfältige, natürliche Landschaft mit Hügeln, Tälern, Wäldern, Feldern und Feuchtgebieten war, die Heimat des Lenape-Volkes und bekannt als Mannahatta, was Land der vielen Hügel bedeutet«, erklärt Oxman in einem Interview mit dem Magazin Biodesigned5. Mithilfe computergestützter Wachstumsalgorithmen stellte sie sich im Anschluss gemeinsam mit ihrem Team eine imaginäre urbane Zukunft vor. »In unseren Studien versuchen wir Synergien zwischen der kulturellen Vielfalt des heutigen Manhattan und der biotischen Lebensgrundlage des alten Manahattan zu entwickeln«, fasst Oxman zusammen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, dass das Gitter auf den Garten trifft — dass in ganz Manhattan passiert, was in Neri Oxmans neuer Forschungs- und Arbeitsstätte schon bald zur täglichen Arbeit gehören wird: Innerhalb eines Rastersystems Ideen entstehen und gedeihen zu lassen, die sich mit- und ineinander verstricken und in ihrer Verbundenheit über sich selbst und all die penibel gerasterten Trennlinien hinauswachsen.

TO MOTHER NATURE BY DESIGN

»Wann wird man damit tatsächlich etwas bauen können?«, ist eine Frage, mit der Neri Oxman in Gesprächen, Diskussionsrunden und Interviews regelmäßig konfrontiert ist. Wird der Druck zu groß, die eigene Arbeit nur nach ihrem potenziellen Anwendungsspektrum zu bemessen und zu beurteilen, lautet ihr Lösungsvorschlag: »Zoom out for perspective«. Denn wenn man das tut, erkennt man schnell, dass die dringendsten Probleme, die es zu lösen gilt, diejenigen sind, die am häufigsten vermieden werden, weil sie sich als zu schwierig oder zu »langwierig« darstellen: Klimawandel, Alzheimer und das konstante Schwinden empathischen Miteinanders, zählt Oxman in diesem Zusammenhang auf. »All das sind reale Probleme mit realen Folgen für unseren Planeten und unsere Spezies. Sie sind langwierig, komplex, vernetzt und systemisch. Daraus ergibt sich der außerordentliche Wert von Forschung, Erkundung, Kreation und Reflexion. Nicht jede einzelne Maßnahme muss eine Lösung für sich sein, aber die Summe aller Maßnahmen kann und sollte bedeutende Fortschritte bei diesen großen Herausforderungen bewirken«, bringt es Neri Oxman auf den Punkt. Gutes Design ist für die Neo-New-Yorkerin daher stets mehr als die pure Lösung von Problemen — es ist vielmehr eine ständige Suche nach neuen Problemstellungen. Ihr Freund und Kollege Bjarke Ingels formuliert es etwas anders, aber ähnlich wirkungsvoll: »Als Designer und Architekten geben wir der Zukunft eine Form. Wir geben der Zukunft, die wir gerne sehen würden, eine Form. Es geht um das Leben, das wir leben wollen.6«

 

Image courtesy of OXMAN Photo: Matthew Millman, OXMAN

AGUAHOJA PAVILION, 2018, SFMOMA San Francisco

 

Die Sprache der Natur zu sprechen und sie nicht als unerschöpfliche Quelle von Ressourcen, sondern als Partnerin im Prozess des Gestaltens zukünftiger Lebensräume zu betrachten, bedeutet für Neri Oxman jedoch nicht, all ihre Geheimnisse aufdecken zu wollen. Ganz im Gegenteil. »Wenn ich versuche, die Natur zu verstehen, suche ich nicht nach Antworten, sondern nach besseren Fragen und neuen Wegen, sie zu stellen. Ich habe keine Angst vor dem Nichtwissen. Die Natur ist geheimnisvoll, und das gilt auch für unsere Existenz auf diesem Planeten und im Universum. Geheimnisse sind ein guter Nährboden für Neuheit. Eine Frage mit einer Frage zu beantworten ist der Weg des Fortschritts.«

Sich immer wieder von der Natur überraschen zu lassen ist für Oxman, deren Arbeiten aktuell in einer großen Ausstellung im SFMOMA zu sehen sind, Teil ihres Alltags — beruflich wie privat. Neben ihrer Rolle als Verbündete im Designprozess erfüllt die Natur jedoch noch eine andere Funktion, die für jede Architektin und jeden Architekten von zentraler Bedeutung ist — die der Auftraggeberin, deren Wünsche es, wenn es nach Neri Oxman geht, zu 100 Prozent zu erfüllen gilt. Das lässt auch die bereits im mykenischen Griechisch belegte Redewendung »Mutter Erde«, mitsamt all ihrer Implikationen, als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Die Klimakrise als Folge all der nicht zurückgegebenen Dinge, die wir uns aus der natürlichsten Bibliothek der Welt ausgeborgt haben, macht eine radikale Rollenumkehr notwendig. Das Kind wird zur Mutter, die Mutter zum Kind. Neri Oxman schlägt deshalb vor, aus dem Hauptwort ein Verb zu machen — »to mother nature«. Oder in ihrem Fall: »to mother nature by design«.7 Wenn es jemandem gelingt, die Verantwortung, die damit einhergeht, mit dem stets staunenden inneren Kind in Einklang zu bringen, dann Neri Oxman.

 

Image courtesy of OXMAN. Photo: Matthew Millman. © OXMAN

GEMINI CHAISE LOUNGE, 2014, 42 SFMOMA San Francisco

Image courtesy Neri Oxman and The Mediated Matter Group © Massachusetts Institute of Technology

SILK PAVILION II, 2020

 

 

 

 

1 Neri Oxman has all the answers, MIT Media Lab via ELLE: 9.Aug.2019 https://www.media.mit.edu/articles/neri-oxman-has-all-the-answers/

 

2 Who Is Neri Oxman?, New York Times, 6.Okt.2018 3 https://www.nytimes.com/2018/10/06/style/neri-oxman-mit.html

 

3 Abstract: »The Art of Design«, S2/E2, Netflix

 

4 Who Is Neri Oxman?, New York Times, 6.Okt.2018 https://www.nytimes.com/2018/10/06/style/neri oxman-mit.html

 

5 The Three Questions: In Conversation with Neri Oxman,Biodesigned, 28.Feb.2022 https://www.biodesigned.org/neri-oxman/in-conversationx

 

6 Neri Oxman has all the answers, MIT Media Lab via ELLE: 9.Aug.2019 https://www.media.mit.edu/articles/neri-oxman-has-all-the-answers/

 

7 Neri Oxman has all the answers, MIT Media Lab via ELLE: 9.Aug.2019 https://www.media.mit.edu/articles/neri-oxman-has-all-the-answers/