Der Lauf der Zeit nimmt Fahrt auf

Faszination Geschwindigkeit

Photo Credit: Lamborghini

Text Sarah WETZLMAYR

Die Balance zu halten, wenn Geschwindigkeit und Wachstum zu einer scheinbar undurchdringbaren Einheit verschmelzen, scheint insbesondere in der Welt der Supersportwägen zu einer immer schwierigeren Aufgabe zu werden. Für Hiroshi Tamura, den »Godfather des Nissan GT-R«, zählt aus geklügeltes Balance Management deshalb zu den wichtigsten Aufgaben seines Jobs. Und Mitja Borkert, Chefdesigner bei Lamborghini, erzählt, welche schönen Seiten Stillstand haben kann.

TATSACHE IST:

Der Lauf der Zeit ist keine gemütliche Joggingrunde durch den Park. Und das ist ausnahmsweise kein Phänomen, das sich die Digitalisierung auf die ohnehin schon vollgekritzelte Kappe schreiben muss. Bereits 1877 machte der humoristische Dichter Wilhelm Busch mit dem Vers »Einszweidrei, im Sauseschritt läuft die Zeit; wir laufen mit« darauf aufmerksam, dass sich die Menschheit der Diktatur des Sekundenzeigers untergeordnet hat. Bewegt sich etwas, so passiert das vielleicht nicht auf Sinn stiftende Weise, stets aber im Uhrzeigersinn. Aus dem Sauseschritt wurde schon bald ein Dauerlauf und Geschwindigkeit immer häufiger mit Wachstum gleichgesetzt. »Die moderne Gesellschaft wird durch eine beinahe schicksalhafte Verbindung von Wachstum und Geschwindigkeit bestimmt«, schreibt unter anderem Hartmut Rosa in seinem Buch Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Stillstand bedeutet demnach nicht, dass man sich einfach nicht vom Fleck bewegt, sondern führt unweigerlich zu einer Art von Rückschritt. Oder auch gleich zu mehreren, je nachdem, wie schnell das Rad der Zeit sich gerade dreht. »Die Geschichte der menschlichen Evolution ist eine Beschleunigungsgeschichte«, bringt es der Journalist Godehard Weyerer in einem Artikel für Deutschlandfunk Kultur auf den Punkt.

Mit dem Satz »Die Geschichte der menschlichen Evolution ist eine Mobilitätsgeschichte« ließe sich dieser Gedankengang auf ähnliche, wenn auch etwas weniger dramatisch klingende Weise zusammenfassen. Und hier kommt das Automobil ins Spiel. Einerseits als Sinnbild für technischen Fortschritt, andererseits als praktisches Werkzeug, das es einem ermöglicht, in relativ kurzer Zeit viel zu sehen und zu erleben. »Wer doppelt so schnell lebt, wer nur die Hälfte der Zeit benötigt, um eine Handlung auszuführen, ein Ziel zu erreichen oder eine Erfahrung zu machen, kann die Summe von Erfahrungen und damit des eigenen Lebens in einer Lebensspanne verdoppeln«, erklärt auch Hartmut Rosa in seinem bereits erwähnten Text.

Dazu kommt noch ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich auf der Pendelstrecke zwischen verschiedenen Erlebnissen und Erfahrungen ganz nebenbei ergibt — und der im weiteren Verlauf des Artikels eine entscheidende Rolle spielen wird: Das Vergnügen, das manche Menschen empfinden, wenn sie sich etwas schneller als üblich durch die Landschaft bewegen. Normieren lässt sich das jedoch nicht. Das liegt einerseits am individuellen Empfinden, andererseits aber auch daran, dass sich die Wahrnehmung von Geschwindigkeit im Laufe der Geschichte gravierend verändert hat. Als Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Eisenbahnstrecken in England eröffnet wurden, warnte man in ärztlichen Mitteilungen vor dem Geschwindigkeitsrausch, der dadurch entstünde. Bei einer Reisegeschwindigkeit von 35 oder gar 50 km/h würde es zwangsläufig zu irreversiblen Schäden der menschlichen Gesundheit, der Psyche und der Wahrnehmung kommen. Heute lässt einen diese Aussage nur schmunzeln.

 

Photo Credit: Nissan

Als 2016 eine neue Evolutionsstufe des Nissan GT-R präsentiert wurde, markierte das den Zeitpunkt der umfangreichsten Änderungen seit der Markteinführung im Jahr 2007. Aus Designperspektive ist vor allem die veränderte Gestaltung des Kühlergrills auffällig.

 

»Geschwindigkeit, so scheint es mir, bereitet uns das einzige wahrhaft fortschrittliche Vergnügen«, schrieb auch der britische Autor Aldous Huxley, den man normalerweise mit anderen Rauschzuständen als jenem, der durch hohes Tempo entsteht, in Verbindung bringen würde. Doch gibt es den sogenannten Geschwindigkeitsrausch überhaupt?

»Üblicherweise geht man beim Rauschbegriff immer von einer Zuführung psychoaktiver Substanzen aus. Eine Analogie herzustellen, ist trotzdem berechtigt, denn es gibt nennenswerte Gemeinsamkeiten. Schließlich gehen mit Rausch- oder Erregungszuständen immer auch physiologische Aktivierungen einher. Der Pulsschlag geht in die Höhe, die Temperatur steigt, hormonelle Prozesse werden in Gang gesetzt. Das passiert auch beim Schnellfahren«, erklärt Verkehrspsychologe Rainer Christ. Er untermauert seine Argumentation mit einem Beispiel aus dem Rennsport: »Messungen zeigen, dass Rennfahrer vor dem Start einen Puls von etwa 180 haben. Ähnlich wie bei Rauschmitteln mobilisiert Geschwindigkeit körperliche Reserven und Ressourcen und verändert das eigene Empfinden und Erleben.« Ein anderes Thema, das Rainer Christ in diesem Zusammenhang für zentral hält, ist die Selbstwirksamkeit. Was der Begriff in diesem Kontext für ihn bedeutet, erklärt er folgendermaßen: »Die Person, die lenkt, das Fahrzeug also in Grenzsituationen bringt, spürt etwas, unternimmt etwas, erzeugt Wirkung. Es ist eine Form von erweiterter Selbstbestätigung oder eben Selbstwirksamkeit.« Wird dieses gute Gefühl immer wieder mit dem Auto und nicht etwa mit sozialen Beziehungen verknüpft, entsteht der Wunsch, immer wieder danach zu suchen, weiß Rainer Christ, der unter anderem Nachschulungen aufgrund von Schnellfahrdelikten betreut. All diese positiven Gefühle bündeln sich dann rund um das Auto.

»Meine Kursteilnehmer sagen beispielsweise oft zu mir, dass ihre Autos ›nicht blöd zurück reden‹. Je weniger interessante Alternativen es im eigenen Umfeld gibt, desto eher bleibt jemand beim Thema Auto hängen.« In vielen Fällen versteht der Psychologe und Soziologe woher dieser Drang kommt, versucht diesen dann aber umzulenken. »Ich frage sie, ob sie sich den Kick nicht woanders holen können. Im Sport zum Beispiel. Im Straßenverkehr steht soziales Verhalten im Vordergrund und nicht der Wunsch, Emotionen auszuleben.« Oberstes Gebot sei es schließlich, Unfälle unter allen Umständen zu vermeiden.

In der Verknüpfung von Geschwindigkeit und Leistung, dem ständigen Drang, sich zu vergleichen und dem Wunsch selbst in Grenzsituationen die Kontrolle zu behalten, spiegelt das Automobil die eingangs geschilderten Überlegungen zur gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit wider. Teilweise zumindest. Und natürlich kann auch nicht jeder Mensch mit diesem Vergleich tatsächlich etwas anfangen. Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung sollte also nicht sein, dass jemand der oder die mit einem Supersportwagen durch die Gegend brettert, folglich im sozialen Abseits landet. Ganz und gar nicht.

Hiroshi Tamura, als Chief Product Specialist für die Weiterentwicklung des Performance- und Geschwindigkeitsmonsters Nissan GT-R1 zuständig, lacht, wenn man ihn auf das Thema Tempo anspricht. »Hier in Japan sind auf den Autobahnen 100 km/h, in seltenen Fällen 120, erlaubt. Es muss also um etwas anderes gehen.« Dieses Andere ist, wie der »Godfather of GT-R« — ein eher schmächtiger Mann mit einem übersprudelnden Enthusiasmus für Fahrzeuge — erläutert, einmal mehr jener Fahrspaß, von dem auch Rainer Christs KursteilnehmerInnen immer wieder enthusiastisch berichten. Genauer gesagt, »the ultimate pursuit of driving pleasure«, so das Leitmotiv des GT-R, das vorgibt, wo Nissan mit seinen Fahrzeugen hinmöchte. Und der sollte auch dann vorhanden sein, wenn die Grenzen des Möglichen noch nicht einmal im Ansatz sichtbar sind. »Für uns geht es vor allem darum, dass sich Leistung, Aerodynamik und Bremssystem in perfekter Balance befinden. Eine unserer Hauptaufgaben ist also Balance Management. Das halte ich für extrem wichtig, wenn es darum geht, einen Supersportwagen wie den Nissan GT-R weiterzuentwickeln«, erklärt Hiroshi Tamura, der seinen Skyline GT-R R32 einst selbst von 600 auf 800 PS aufrüstete, dann aber wieder zurückrudern musste, weil die Balance nicht mehr jene war, die ihm den bereits angesprochenen Fahrspaß ermöglichte.

 

Photo Credit: Nissan

Der erste Nissan Skyline GT-R, bekannt als PGC10, feierte sein Debüt auf der 15. Tokyo Motor Show im Jahr 1968. Ursprünglich als viertürige Limousine erhältlich, wurde er ab März 1971 auch als Coupé angeboten.

 

Stimmt die Balance, sollte der GT-R, der angesichts ständig steigender Leistung nicht umsonst den Beinamen »Godzilla« trägt, von Fahrenden als Verlängerung des eigenen Körpers wahrgenommen werden, betont Tamura. »Das bedeutet auch, dass bei uns immer die Kunden und Kundinnen im Mittelpunkt stehen. Meine Hauptaufgabe ist es also, absolute Kundenzufriedenheit sicherzustellen.« Daran, dass es der perfekt ausbalancierte »Godzilla«, dessen Ursprung im 1969 auf den Markt gebrachten Nissan Skyline 2000 GT-R liegt, längst zur Ikone geschafft hat, besteht für Hiroshi Tamura keinerlei Zweifel. »Warum ich das so empfinde, beantworte ich immer gerne mit meiner eigenen Geschichte. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal einen Nissan Skyline GT-R4 gesehen und dieser erste Eindruck hat mich nie mehr so richtig losgelassen. Ich weiß, dass sehr viele Menschen, die bei Nissan arbeiten, so eine Geschichte erzählen können.« Die Frage, wann die neue Modellgeneration, der Nissan GT-R R36, auf den Markt kommen könnte, beantwortet Hiroshi Tamura mit einem verschmitzten Lächeln. »Bevor wir zu diesem nächsten großen Sprung ansetzen, ducken wir uns erstmal. Und springen dann umso höher.« Wie er das genau meint? Schauen wir mal. Denn »Godzilla« ist, wie wir wissen, schon in geduckter Position eine Größe für sich.

 

Photo Credit: Nissan

Geht es um das Thema Fahrspaß, hat auch Mitja Borkert, Chefdesigner bei Lamborghini, viel zu erzählen. Denn auch beim italienischen Hersteller von Supersportwägen steht das Fahrerlebnis ganz oben auf der Prioritätenliste. Die Frage, was Lamborghini zum Inbegriff für Supersportwägen macht, beantwortet der Designer auf folgende Weise: »Das ist sicherlich die ganz besondere und einzigartige Anmutung und Erscheinung eines Lamborghini. Aber es geht auch um die unglaubliche Geschichte, wie Ferruccio Lamborghini angefangen hat. Der unternehmerische Ansatz, einen neuen Weg einzuschlagen. Der außergewöhnliche Wille, anders zu sein.« Dieses Streben nach Außergewöhnlichkeit schlägt sich, so der gebürtige Deutsche, auch in einer einzigartigen Design-DNA nieder. Und führte, davon ist Mitja Borkert überzeugt, zur am besten erkennbaren Silhouette, die es gibt. Ein Argument, das nicht einfach aus der Luft gegriffen ist, sondern seinem eigenen, ganz privaten Erfahrungsschatz entstammt. »Einmal habe ich zu Hause die Silhouette einer Skizze eines Lamborghini gezeichnet. Mein Sohn mit gerade mal zwei Jahren sagte sofort ›Papa, es ist ein Lamborghini…‹, da wurde mir klar, wie stark diese Wirkung ist. Es gibt nicht viele Firmen und noch weniger Autos mit diesem starken Wiedererkennungswert. «

Als wohl wichtigstes Beispiel dafür erwähnt er die starke Neigung der Seitenfenster, die mit dem Countach, der 1971 in Genf erstmals vorgestellt wurde, geboren wurde. Im Gespräch mit dem Chefdesigner wird schnell klar, dass der Design-DNA bei Lamborghini ein außergewöhnlich hoher Stellenwert zukommt. Unweigerlich drängt sich an dieser Stelle die Frage nach der Priorität von Performance und Leistung auf. Schließlich wurde mit dem Sián erst vor kurzem das stärkste und schnellste Modell im aktuellen Lamborghini- Portfolio vorgestellt. »Die Nr. 1 Motivation einen Lamborghini zu kaufen, ist das Design, aber auch die Leistung. Wir bauen High-Performance-Autos mit High-Performance-Oberflächen. Unsere Autos erreichen hohe Höchstgeschwindigkeiten und haben eine großartige Leistung, auch um zum Beispiel ein fantastisches Rennstreckenerlebnis zu haben. Deshalb schaffen wir gezielt das richtige Design, wenn wir eine limitierte Auflage wie den Sián oder ein rennstreckenorientiertes Auto wie den Huracán STO entwickeln.«

 

Photo Credit: Lamborghini

Der Lamborghini Countach gilt als Begründer der Design-DNA von Lamborghini. Sein typisches Erkennungsmerkmal besteht in einer einzigen Längslinie, die Front- und Heckbereich optisch miteinander verbindet.

 

Die Aerodynamik ist, wie der Designer hervorhebt, dabei natürlich essentiell, aber auch bei den Rennwägen wie dem Huracán Super Trofeo wird diese gemeinsam entwickelt, denn »wir sind Designer, die die technischen Anforderungen vollständig verstehen«, so Borkert. Die Kraft, die in einem Lamborghini steckt, soll aber auch auf gestalterischer Ebene ihren Ausdruck finden. Geht es nach Mitja Borkert, passiert das bei den Fahrzeugen des italienischen Herstellers in erster Linie über die beiden für Lamborghini wohl typischsten Designelemente — das Sechseck und das Y, die 1967 mit dem Marzal geboren wurden. »Hinter einer Form wird immer ein Gedanke stehen und sicher auch eine Funktion. Aber manchmal folgt die Funktion der Form. Bei Lamborghini geht es auch um die große Show, aber die Leistung muss immer die allerbeste sein«, fügt der Chefdesigner abschließend hinzu. Der Sprung zurück von der Fahrt im 600-PS-Monster zum Geschwindigkeitsrausch bei 50 km/h, ist nicht nur gefühlsmäßig ein unüberwindbarer. Trotzdem geht es letztendlich immer um das eigene Zeitgefühl. Wenn Hiroshi Tamura davon spricht, dass sich in einem Nissan GT-R auch an Tempolimits angepasste Ausflüge auf Freilandstraßen wie Highspeed anfühlen, könnte er nebst all den technischen Komponenten, die ein solches Fahrerlebnis möglich machen, vielleicht genau auf dieses subjektive Empfinden anspielen.

Die Zeit läuft zwar (und manchmal auch davon) und auch die unser Zeitalter prägende Verbindung von Geschwindigkeit und steigender Leistung, beziehungsweise Wachstum, lässt sich alles andere als einfach von der Hand weisen, trotzdem ist die Annahme, dass sich die Summe von Erfahrungen bei angezogenem Tempo verdoppeln oder gar verdreifachen lässt, eine trügerische. Vielleicht ist es, wie beim Nissan GT-R, auch in diesem Fall in erster Linie eine Sache von Balance und Balance Management. Und die Sache mit dem Stillstand? Die sollte man vielleicht so sehen wie Mitja Borkert den Lamborghini Sián: »Wir haben ein Auto geschaffen, das mit Form und Länge spielt. Ein Auto, das man sich auch auf einem Concours d’Élégance-Feld gut vorstellen kann. Man nimmt ein gutes Glas mit einem edlen Getränk und genießt es beim Betrachten aus verschiedenen Perspektiven. « Klingt eher nach Dekadenz als nach Innehalten und Achtsamkeit? Ist es in diesem Fall auch. Solange es sich richtig anfühlt, ist aber auch dagegen nichts einzuwenden.