Text und Fotografie Robert ROTIFER
Die Lebenskosten treiben Londons Kunst- und Musikschaffende an die äußersten Ränder der Insel. Für Südenglands Küstenstädte bedeutet das ein unvorhergesehenes Revival.
Ein später Sommertag an der südenglischen Küste. Durch ein fast vier Meter hohes, gewölbtes Schiebefenster kommt eine sanfte Brise herein geweht. Zwischen uns und dem offenen Meer nichts als ein 180 Jahre altes schmiedeeisernes Balkongitter, am Himmel ein dottergelber Mond. Und da sitzen Andreya Triana und Aram Zarikian in ungestresster Zufriedenheit, so als hätten sie die Lotterie des Lebens gewonnen. Haben sie ja auch, auf gewisse Weise, dank ihrer guten Antennen und ein bisschen Mut zum Risiko.
Machen wir uns nichts vor, Großbritannien im Jahre 2018 ist kein sonderlich einladender Ort. Dank der vom Brexit-Referendum verursachten Unsicherheit, einem knappen Jahrzehnt radikaler Sparpolitik und horrenden Lebens- und vor allem Wohnkosten ist das Dasein dort heute meist mehr Herausforderung als Genuss, nicht zuletzt für jene, die versuchen, von prekären Kreativberufen zu leben. Andererseits sind gerade jene Kreativen dann oft wieder ziemlich gut im Finden von Alternativen. »In diesen Zeiten sieht man sich ins Eck gedrängt«, sagt Andreya, »also muss man sich eine andere Realität erschaffen.«
Für die junge Sängerin und Songschreiberin, die nächstes Jahr ihr vielversprechendes, drittes Album veröffentlichen wird, bedeutete das, gemeinsam mit ihrem Boyfriend, dem aus Österreich stammenden Schlagzeuger Aram Zarikian, ihre Heimatstadt London hinter sich zu lassen und 60 Meilen Richtung Süden an den untersten Rand der Insel zu ziehen. Was die beiden seither in ihrem ersten Jahr in einer spektakulären Wohnung an der Strandpromenade der Seestadt St. Leonards-on-Sea gefunden haben, bezeichnet sie als nicht weniger als »Freiheit«, und diese bedeute für sie wiederum »den ultimativen Reichtum. Der besteht darin, nicht etwas tun zu müssen, das man hasst, um damit Geld zu verdienen. Keine Kompromisse machen zu müssen. Sich nicht stressen zu lassen. Ich lebte viele, viele Jahre als Musikerin in London, und wusste nie, wie ich meine nächste Miete zahlen sollte. In der Nacht konnte ich nicht schlafen, fürs Essen blieben pro Woche zehn Pfund übrig. Das ist keine Existenz. Man fühlt sich dabei als Mensch entwürdigt.«
Die Antwort auf die Misere des Lebens im Moloch London nennt sich »Coastal Living« — die massenhafte Flucht der Bohème ins Exil an der Seaside. Verwahrloste ehemalige Seebäder, die seit Jahrzehnten zum Ruin verurteilt schienen, sind das neue gelobte Land der von der gnadenlosen Hauptstadt in die Diaspora gedrängten Kunst- und Musikschaffenden. In London lebten Andreya und Aram in einem konvertierten Lagerhaus an der als Künstler-Blase stadtbekannten Fountayne Road in der nicht gerade ungefährlichen Vorstadt Tottenham. In St. Leonards-on-Sea dagegen residieren sie nun für einen Bruchteil der Kosten wie die Queen. Buchstäblich. Ihr Wohnzimmer mit Blick aufs Meer war nämlich einst das Schlafzimmer des 1835 erbauten Sommer-Domizils der Königin Adelaide. Ein Vorbesitzer hat die Wohnung im während des Kriegs von einer Fliegerbombe zur Hälfte zerstörten Haus zu einem offenen Wohnbereich auf drei Ebenen samt Badezimmer mit wie eine Diskokugel glitzernden Spiegelfliesen ausgebaut. Dank angenehm niedriger Hypothekenraten können Andreya und Aram sich nebenher noch ihr eigenes Probestudio und — für spontane Übernachtungen — ein kleines Zimmer im eineinviertel Stunden Bahnfahrt entfernten London leisten. »Wenn ich in London in Tottenham wohne und einen Job in Fulham habe, brauche ich auch eine Stunde dorthin«, erklärt Aram. Die Distanz zur Hauptstadt sei also »kein großes Ding«. Und statt die speckigen Straßen Nordlondons zu durchstreifen, wirft er sich hier morgens zur Auffrischung gern einmal in die gar nicht so kalten Fluten des Ärmelkanals.
In der Parallelstraße hinter dem Haus — bis vor kurzem noch eine gefürchtete No-Go-Gegend — sprießen bereits Galerien, Second Hand-, Antiquitäten- und Delikatessenläden. Bei unserem Spaziergang kommen wir an einer pittoresken alten Kneipe vorbei, die ein paar neugefundene Freunde gerade zu einem Musik-Lokal umbauen. Selbst das benachbarte Hastings, medial verrufen als verelendete Endstation voller verhärmter Brexit-Wähler, stellt sich bei näherer Betrachtung als romantisch verwinkeltes Städtchen heraus. Dessen windschief an einen steilen Hügel gebaute Häuser gehen teils bis auf die Tudor-Periode zurück. In jedem zweiten Pub an der George Street ist des Abends Live-Musik zu hören, und die in den Fels gehauene, zu einer Konzerthalle umgebaute georgianische Kirche St Mary in the Castle nimmt sich aus wie eine Mini-Version der Royal Albert Hall. Mit dem Unterschied, dass auch ein kleiner Veranstalter sich leisten kann, sie für Gigs zu mieten. Westlich von St. Leonards in Bexhill-on-Sea hat der ehemalige Head of Music des Londoner Roundhouse das Booking für den De La Warr Pavilion übernommen und holt nun auch größere Acts hinaus in die (ehemalige) Provinz. Demnächst wird Andreya dort im Vorprogramm von Corinne Bailey Rae ihren ersten Gig in der neuen Heimatstadt spielen.
Was hier und in anderen südenglischen Küstenstädten im Gange ist, markiert nichts weniger als die Umkehr der Schwerkraftgesetze der britischen Popkultur.
Seit es den Rock’n’Roll gab, war London der natürliche Anziehungspunkt für alle gewesen, die sich mit Musik einen Namen machen wollten. In den Neunzigerjahren begann mit dem Steigen der dortigen Hauspreise ein Teil der Musikszene ins bunte, raubeinig glamouröse Brighton abzuwandern, bis ihnen Leute wie Fatboy Slim und Nick Cave nachfolgten und das Leben dort genauso teuer wurde wie in der Metropole. Anfang der Nullerjahre wiederum entwickelte sich Whitstable an der Nordküste der südenglischen Grafschaft Kent von einem vergessenen Fischerstädtchen samt Zementfabrik zu einer Art Prenzlauer Berg am Meer. Aber die DFLs (kurz für »Down From London«) wagten sich über ihr kleines Strandhüttenreservat nicht hinaus. Mikey Collins war einer der ersten, die sich diesem Snobismus zum Trotz bis auf die Halbinsel Thanet — statistisch eine der ärmsten Provinzen Großbritanniens — in die heruntergekommene Hafenstadt Ramsgate vorwagten. 2011, nach Jahren auf Tournee als Drummer der Band Allo Darlin’, beschloss Collins, dort mit seiner Frau Georgia zwischen versifften Wett-Büros, Ein-Pfund-Shops und Säufer-Pubs eine Café Bar mit Live-Musik aufzumachen. Ihre Londoner Freunde hielten das für optimistisch bis wahnwitzig, aber inzwischen ist Collins Besitzer einer gemeinsam mit seinen Kompagnons zu einem Studio namens Big Jelly umgebauten, alten Kapelle. Dort nimmt er mit Produzenten wie Jolyon Thomas Bands wie Mt. Wolf oder Metronomy auf.
Und weil ihm das noch nicht reicht, hat er neuerdings die Ramsgate Music Hall übernommen, wo Leute wie Jarvis Cocker oder Neneh Cherry vor enthusiastischem, von der Londoner Blasiertheit unbeschädigtem Publikum ihr Live-Programm ausprobieren. Die Nachbarschaft ist fraglos immer noch verwahrlost, aber Lokale wie der kulinarische Plattenladen Vinyl Head, Harbour 28, das Artillery Arm oder die dem Oberdeck eines Schiffs ähnelnde Royal Harbour Brasserie an der äußeren Hafenmauer zeigen, dass dieses »Land der Möglichkeiten« (Collins) sich rapide zu einem Konkurrenten seiner prominenteren Nachbarstadt Margate zu entwickeln beginnt. Die dort dem Meer entgegen ragenden weißen Keile der 2011 eröffneten Galerie Turner Contemporary verkörpern das gut gemeinte, aber die örtliche Bevölkerung eher befremdende Konzept der Regeneration durch zeitgenössische Kunst. Indessen hat sich die gegenüberliegende Old Town von Margate in ein nostalgisches Upcycling-Paradies für Retro-Hipster verwandelt.
Die auf der kreativen Wiederverwertung von altem Plunder basierende Ästhetik der Shops und Bars ist ganz typisch für den kultivierten Shabby Chic, der einen Großteil der Revitalisierungen in allen südenglischen Küstenorten vereint. Einerseits hat das mit dem immer noch reichen Angebot an ausrangierten, alten Einrichtungsgegenständen zu tun. Andererseits reflektiert sich darin wohl auch eine gewisse Sentimentalität im Charme des »Coastal Living«. Ein wehmütiges Bedürfnis nach Restaurierung alles Alten, das — selbst wenn ungewollt — gut mit der verklärenden Vergangenheitssehnsucht der Brexit-lastigen, ansässigen Bevölkerung zusammengeht. »Wenn man hierher kommt«, sagt Mikey Collins, »fühlt es sich oft an, als hätte jemand die Zeit zurückgespult.« Am von der Old Town aus gesehen entgegengesetzten Ende von Margates teils gentrifizierter, teils noch von Slot Machines dominierter Seepromenade findet sich der ebenfalls im Retro-Stil renovierte Lunapark Dreamland. Dort hält jährlich das aus London hierher abgewanderte Indie-Label MoshiMoshi Records sein mittlerweile legendäres By the Sea Festival ab.
Die in jüngerer Vergangenheit hinzugestoßene Bohème ist indessen angesichts steigender Hauspreise bereits an den noch billigeren Stadtrand ins Viertel Cliftonville abgewandert. »Als wir uns Anfang 2011 Läden in Margate ansahen, zog der Makler einen roten Strich rund um die Gegend und sagte ›Da solltet ihr nicht hingehen‹«, erzählt Collins, »Das waren Straßen wie die Ethelbert Road und Northdown Road in Cliftonville. Genau die Gegenden, die jetzt die hippsten sind.«
Dort gäbe es zum Beispiel ein Lokal namens Cliffs: Café-Bar, Konzertlokal, Plattenladen, Friseur, Kaffeerösterei und Yoga-Studio in einem, betrieben von Ed Warren, der sich sein Leben als Lichtdesigner für Bands wie Mumford & Sons verdient. Oder der vom ehemaligen Rough Trade East Manager Spencer Hickman und der Künstlerin Kimberley Holladay gegründete Platten-, Wein- und Whisky-Laden Transmission Records. Oder Radio Margate, eine Mischung aus (Konzert)Lokal und Radiosender-Stützpunkt unter der Ägide des eigenbrötlerischen Genies Ghostpoet. Nicht zu vergessen The Albion Rooms, einst unter dem Namen Palm Court Hotel berüchtigt als die mieseste Absteige der Stadt, demnächst — wenn alles gut geht — Bar, Studio und Hotel der Libertines.
Ende August machte Pete Doherty Schlagzeilen, als er im Dalby Cafe in Cliftonville dessen sagenhaft überdimensioniertes, aus vier Eiern, vier Würsten und maßlos viel Speck, Zwiebeln, Pilzen und Bohnen bestehendes Mega Breakfast innerhalb der für einen hundertprozentigen Diskont zu schlagenden Deadline von 20 Minuten vertilgte. Solange sich solche Dinge in Margate abspielen, hat die Gentrifizierung der Küstenstädte von Kent jedenfalls noch nicht gewonnen. Anderswo, in St. Leonards-on-Sea, gibt Andreya Triana zu, es sei wohl »unvermeidlich«, dass die DFLs auch in ihren neuen Kolonien, so wie zuvor in Brighton oder Whitstable, die großteils verarmte lokale Bevölkerung aus ihren derzeit noch billigen Straßen verdrängen werden. »Aber hier gibt es kein wir gegen die«, sagt sie, »Leute wie wir haben dieser Community doch so viel zu bieten.« Wer sieht, wie in ihrer Nachbarschaft vor kurzem noch desolate Straßenzüge aufblühen, kann dem kaum widersprechen. Fest steht, dass die Bohème nach dieser letzten Zuflucht nicht mehr weiterziehen können wird. Mit der Küste hat sie auf dieser Insel ihre »Final Frontier« erreicht.