TEXT Clemens Paul Steinmüller
Während sich Marken früher primär über technische Merkmale, Funktion oder Preis definierten, verlagert sich die strategische Differenzierung heute zunehmend auf die gestalterische Ebene. Design ist in den vergangenen Jahrzehnten zusehends zum entscheidenden Faktor der Identitätsbildung geworden. Genau deshalb richtet Chapter XIII unter dem Ausgabentitel »Identity« den Blick auf jene Elemente, die Identität formen – und auf die Spannungsfelder, die dabei entstehen können. Beiträge aus Automobil-, Yacht– und Interior Design, aus der Haute Horlogerie, Architektur und Kunst zeigen, wie vielfältig sich Fragen von Identität und Gestaltung behandeln lassen.
Es gibt Momente, die man gerne als stiller Beobachter erleben würde. Etwa jenen Augenblick, in dem Vorstand, Marketing, Technik und Design über die Zukunft einer Marke diskutieren. Drei davon sind sich erstaunlich schnell einig — nämlich, dass die Entwürfe des Designers so nicht funktionieren können: zu gewagt für Markt und Zielgruppe, zu teuer in der Umsetzung, zu weit entfernt von der etablierten Markenidentität. Und vom Ingenieur kommt wie immer der Einwand, das Ganze sei ohnehin technisch und physikalisch weder sinnvoll noch realisierbar. Vier Disziplinen, vier Wirklichkeiten, ein gemeinsames Produkt. Doch wenn es gelingt, jene unterschiedlichen Perspektiven intelligent miteinander zu verbinden — vorzugsweise, indem man dem gestalterischen Blick mehr zutraut als üblich — entsteht genau dort jene klare Markenidentität, die Konsument:innen später für ganz selbstverständlich halten.

Natürlich ist dieses Bild stark vereinfacht, doch es nimmt Bezug auf eine Entwicklung, die in vielen Branchen das Verhältnis zwischen Strategie, Technik und Gestaltung grundlegend verändert hat — und mitunter Konfliktpotenzial birgt. Während Markenidentität früher primär über technische Merkmale, Funktion oder Preis definiert wurde, verschiebt sich die Strategie heute deutlich stärker auf die gestalterische Ebene. Design wurde in den vergangenen Jahrzehnten zusehends zum entscheidenden Faktor in der Identitätsbildung von Marken. Und nicht zuletzt deshalb ist »Identity« auch ein ausgesprochen spannendes Ausgabenthema für ein Designmagazin wie Chapter.

Dass Design damit eine Verantwortung übernimmt, die in klassischen Unternehmenslogiken lange nicht vorgesehen war, greift auch Mobility Design Professor und Chapter Autor Lutz Fügener in seinem Essay über die »Kunst der Unterscheidung« (ab Seite 90) auf. Am Beispiel der Automobilindustrie beschreibt er, wie diese Entwicklung mitunter sogar »traumatische Zustände« bei einem CEO mit Ingenieurshintergrund auslösen kann: »Entscheidungen in Milliardenhöhe hängen plötzlich an gestalterischen Konzepten, die sich weder zuverlässig prognostizieren noch in Tabellen erfassen lassen.«

Auch Autorin Sarah Wetzlmayr greift in ihrem Beitrag »Markenzeichen « (ab Seite 48) Spannungsfelder im Automobildesign auf, allerdings aus einer anderen Perspektive. Im Gespräch mit führenden Designern wie Marek Reichman (Aston Martin) oder Domagoj Dukec (Rolls-Royce) erörtert sie, wie stark sich Marken beispielsweise über wiedererkennbare Formcodes definieren und welche Spannungen entstehen, wenn Tradition, Marktlogik und gestalterische Innovation aufeinandertreffen. Zentral ist dabei die Frage, wann ein Element eine ikonische »Hauskonstante« darstellt und wann es zum Dogma oder gar gestalterischen Ballast wird.

Ein verwandtes Prinzip zeigt sich beim Blick auf das Uhrendesign (ab Seite 74). Auch hier entsteht Identität durch ein Wechselspiel aus jahrzehntelang kultivierten Designdetails, technischer Machbarkeit und Innovation. Die Welt der Haute Horlogerie macht deutlich, wie sehr selbst kleinste gestalterische Konstanten wie Zeigerformen, Lünettengeometrien oder Schrauben, die einst aus funktionalen Gründen entstanden sind, heute Markenidentitäten prägen.

Einen ganz anderen Aspekt im Verhältnis von Identität und Gestaltung behandelt Prof. Dr. Andreas K. Vetter in seinem Essay »Wirkräume« (ab Seite 58). Er zeigt, dass Architektur ihre Wirkung nicht ausschließlich aus sich selbst bezieht, sondern erst im Zusammenspiel von Nutzung, Erwartung und Deutung Identität ausbildet. Räume haben keine feste Bedeutung, sie werden zu Projektionsflächen, auf denen sich gesellschaftliche Vorstellungen und persönliche Erfahrungen einschreiben.

Ein Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Setzung findet sich auch in unserer Coverstory zu Colin King (ab Seite 28) wieder. Man könnte versucht sein, seine Arbeit als Dekorieren auf hohem Niveau abzutun, doch dieser Eindruck greift bei näherem Hinsehen erstaunlich kurz. Hinter Kings international gefragter Tätigkeit als Interior Stylist stehen klare konzeptionelle Linien und ein feines Gespür dafür, wie sich Bedeutung durch minimale Verschiebungen erzeugen lässt. Seine Arrangements zeigen, dass Identität oft dort entsteht, wo sie kaum sichtbar scheint: im Detail, im Weglassen und in der Kunst, Räume subtil zu verändern.

Auch das museum in progress verändert Räume und Kontexte: weg vom Musealen, hinein in den öffentlichen und medialen Raum. Die künstlerischen Interventionen (ab Seite 122), die seit vergangenem Jahr zum festen Bestandteil jeder Chapter Ausgabe gehören, zeigen diesmal Werke von Romuald Hazoumè und unveröffentlichte Arbeiten von Marina Faust. Beide beleuchten Identität aus künstlerischer Perspektive: Hazoumè durch seine aus »Bidons« geformten Köpfe, die Migration, Globalisierung und postkoloniale Realität thematisieren. Marina Faust durch ihre Portraits, die Identität als etwas Zusammengesetztes, Wandelbares und niemals Abgeschlossenes begreifen.
Und dass sich Fragen von Gestaltung und Identität vom Automobildesign über Interior- und Uhrendesign bis hin zur Architektur und künstlerischen Intervention behandeln lassen, zeigt vor allem eines: jene vielfältige, aber klare Identität, für die Chapter steht.

