Mit seinen Möbeln und Alltagsgegenständen überwand Diego Giacometti fortwährend die Grenze zwischen Kunst und Gestaltung. Jahrzehntelang stand der 1985 verstorbene Künstler im Schatten seines älteren Bruders, nun widmet ihm das Bündner Kunstmuseum in Chur eine große Retrospektive.
»Diego’s importance to his older brother Alberto is just beginning to be widely recognized«, schrieb die New York Times im Jahr 1985 über den damals 82-jährigen Künstler Diego Giacometti, der jahrzehntelang im Schatten seines berühmten Bruders Alberto stand. Noch länger dauerte es, bis das künstlerische Schaffen Diego Giacomettis, der seinen Bruder mehr als drei Jahrzehnte lang künstlerisch unterstützte, endlich Aufmerksamkeit erfuhr und als eigenständiges Werk gewürdigt wurde.
Doch zunächst an den Anfang zurückgespult: Alberto und Diego Giacometti kamen 1901 und 1902 in der Schweiz zur Welt. Die beiden Brüder wuchsen gemeinsam mit zwei weiteren Geschwistern in einer Familie auf, die von der künstlerischen Tätigkeit ihres Vaters, des Malers Giovanni Giacometti, geprägt war. Diego widmete sich zunächst dem Zeichnen und versuchte sich an Radierungen, absolvierte später eine kaufmännische Ausbildung und folgte schließlich seinem älteren Bruder, der in der französischen Hauptstadt Bildhauerei bei Antoine Bourdelle studierte, nach Paris. Als Alberto einige Aufträge zur Gestaltung und Fertigung von Einrichtungsgegenständen erhielt, begann sich der handwerklich geschickte Diego vermehrt für die Arbeit seines Bruders zu interessieren und unterstützte ihn bei Gipsabgüssen, der Herstellung von Gerüsten und seiner bildhauerischen Tätigkeit.
Während des Zweiten Weltkriegs belegte Diego Giacometti Kurse an der Skandinavischen Kunstakademie und schuf erste eigene Skulpturen – darunter einige außergewöhnliche Tierskulpturen. Ab 1950 konzentrierte er sich vor allem auf die Gestaltung von Möbeln und kunstvollen Alltagsobjekten. »The brothers were very different. Alberto was supremely self-confident, highly cultivated and insatiably curious. Diego was more instinctive, more physical and sometimes impenetrably self-effacing«, beschreibt Michael Brenson in der New York Times die Unterschiede zwischen den Brüdern. Was sie jedoch einte, war ihr besonderes Gespür für Maßstab und Form – ebenso wie ihre große Leidenschaft für die künstlerische Arbeit und das dazugehörige Handwerk.
Nach dem Tod seines Bruders im Jahr 1966 verwirklichte Diego Giacometti zunehmend seine eigenen künstlerischen Visionen, wobei sein Hauptfokus auf der Gestaltung kunstvoller, oft filigraner Möbel lag. Er entwarf Salontische, Sessel und Konsolen aus Glas und Bronze. Daneben entstanden zahlreiche Skulpturen mit stark surrealistisch anmutender Formsprache – Einflüsse, die sich mitunter auch in seinen Möbelstücken wiederfinden, etwa beim »Tisch in Form eines Gerippes«. Für die weltbekannte Kronenhalle-Bar in Zürich gestaltete Giacometti mehrere Möbelstücke, für die Fondation Maeght die gesamte Inneneinrichtung des »Café Diego« in Saint-Paul-de-Vence. Sein letzter großer Auftrag sorgte für internationale Aufmerksamkeit und machte ihn einem breiteren Publikum bekannt: Diego Giacometti entwarf die gesamte Innenausstattung des im September 1985 eröffneten Musée Picasso in Paris – vom Mobiliar über Treppengeländer und Türbeschläge bis hin zu Deckenleuchten. Letztere erinnern mit ihrer filigranen Struktur an große Vogelkäfige und wurden aus mit Gips überzogenem Eisen gefertigt. Die feierliche Eröffnung des Museums erlebte der Künstler jedoch nicht mehr: Diego Giacometti verstarb im Juli 1985 in Paris. Da er viele seiner Arbeiten verschenkte oder privat verkaufte, ist sein Gesamtwerk bis heute nicht vollständig dokumentiert.
Das Bündner Kunstmuseum in Chur widmet dem Künstler eine groß angelegte Ausstellung, die noch bis zum 9. November 2025 zu sehen ist. Zum ersten Mal werden Giacomettis Möbel nicht in einem Design-, sondern in einem Kunstkontext präsentiert. Die Schau entstand in Zusammenarbeit mit dem Musée des Arts décoratifs in Paris, wo sich der Nachlass Diego Giacomettis befindet. [SW]