TEXT ANDREAS K. VETTER
Eigentlich wäre es doch viel spannender, sich mit dem auseinanderzusetzen, was passiert, als mit dem, was ist. Das nämlich ist sofort erkennbar, statisch, definiert. Dagegen aber bewegen und verändern sich unsere Welt und die Dinge permanent. Die griechische Antike nannte dies »Metamorphose« — und darum soll es hier gehen.
»Lost in Translation« — wer kennt ihn nicht, den Filmklassiker mit Bill Murray und Scarlett Johansson, in dem sich zwei gegenseitig unbekannte Menschen zufällig in Tokyo treffen, einer für sie nicht zu ergründenden und unübersetzbaren japanischen Megastadt, die sie vermutlich gerade deshalb aufgesucht haben. Das intensiv spürbare Verlorensein jedoch gibt ihrer Begegnung eine gemeinsame Ebene, auf der sie sich treffen, reden und wie in einer Zwischenwelt leben — für ein paar Tage. Wer den Film sieht, genießt es, mit den beiden in diesen schwebenden Zustand zu geraten — leicht, offen, befreit. Man wünscht sich selbst den Mut oder die Souveränität für ein solches Dazwischensein, wie es die fremde Metropole den Hauptcharakteren im Film ermöglicht. Vielleicht weil es sich um etwas unterbewusst Wichtiges unserer Existenz handelt, das wir aber aus Vernunft oder Bequemlichkeit immer wieder unterdrücken: eine für alle Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen gültige Interimsbefindlichkeit, die typisch ist für Prozesse, für Evolutionen, für Formierungen. Es ist der Zeitpunkt des Wandels — mal kurz andauernd, mal durchaus mit spürbarer Dauer wirksam — der sich ganz gut ausdrückt im Begriff des Schwebens. Eine kongeniale Verbildlichung für einen solchen Prozess gelang dem Schweizer Künstlerpaar Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger mit seiner berührenden »Giardino calante« Installation auf der Biennale 2003 in Venedig: Im Schiff der Kirche San Staë begeben sich die Menschen unter eine dreidimensionale Raumsphäre aus Blüten und zarten Naturelementen, die aus dem Gewölbe herabzufallen scheinen, ohne einen direkt zu erreichen. Das, was sonst im Barock als floraler Schmuck an die Decke gemalt wurde und für die Schöpfung steht, wird in seiner Schönheit und Lebendigkeit körperlich und bewegt sich. Wir kommen damit dem Wunder des sprechenden Kirchenraumes näher, befinden uns quasi im Entstehungsvorgang, vom ideellen Knospen bis hin zur Fülle der Natur.
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger, »Giardino calante« (Installation), Kirche San Staë, Biennale 2003, Venedig
Während die flankierenden Zustände — also zum einen die Ausgangssituation und zum anderen das Neue — für uns fassbar sind, da man sie klar definieren und wegen ihrer Stabilität auch deutlich wahrnehmen kann, handelt es sich bei dem Dazwischen um ein Phänomen, dessen Art und Form zu fluid ist, um es »im Griff zu haben«. Immer wieder ist der Mensch gezwungen, jene Periode der Transformation zu akzeptieren, wobei er sich in den verschiedensten Dimensionen des Lebens damit konfrontiert sieht. Manchmal drehen sich Träume um jene Motive des angespannten Innehaltens, da wir es hier mit den intensivsten Momenten unseres Welterlebens zu tun haben — vielleicht passt Paul Virilios berühmte Formel vom »Rasenden Stillstand« hier ganz gut? Schlussendlich aber steht hinter aller Bewegung die Natur — vom Kosmischen bis hin zu unserem Planeten. Auf der sich permanent drehenden Erde definiert sich das Vitale, das Leben geradezu aus der Bewegung und Wandlung der Zustände: Entstehen, Wachsen, Untergehen. Sinnbilder dafür sind die Knospe oder die Larve, die sich zum Schmetterling entwickelt — und dies, ohne dass man der ursprünglichen Gestalt das wunderschöne Endstadium ansehen könnte, auch wenn es bereits in ihr liegt. In seiner Kultur, die der Mensch als Lebewesen für seine Gattung typisch entwickelte, lassen sich schon in den frühesten Epochen der Geschichte Reflektionen dieser allgegenwärtigen Metamorphose entdecken, wie dieses Phänomen des Gestaltenwechsels im antiken Griechenland genannt wurde.
Marina Abramović, »The Artist is Present«, MoMA New York, 2010
Kein Wunder also, dass sich neben der Philosophie auch die Kunst für jene in slow motion gesetzten Kipppunkte interessiert, für diese kurzen Zeiträume, in denen eine Lage in die nächste gerät. Eindrückliche Beispiele sind schnell gefunden: Michelangelo wählt für seine Florentiner Skulptur aus der Geschichte des David exakt die Minute, in welcher der Junge den Mut entwickelt, seinen Stein, den er in der Hand wiegt, auf den Riesen Goliath zu schleudern, Marina Abramovićs Performances führen die Anwesenden in eine unangenehme Lage, die sie zwingt, sich permanent gegen den Druck zu wehren, der anstrengenden oder aufwühlenden Konfrontation mit der Kunstaktion auszuweichen — nur wer es aushält, dass die Künstlerin beispielsweise stundenlang schweigend vor einem sitzt, nimmt letztlich teil. Genannt werden könnte auch der Südafrikaner William Kentridge mit seinen zumeist in Kohle gezeichneten Animationsfilmen. Wer sie sieht, kann seine Augen nicht mehr von ihnen lassen, da man anders als bei konventionellen Filmen mit sich ablösenden Einzelbildern den Prozess der Veränderung miterlebt und im aktuellen Filmstill sodann auch immer die Spuren des Vorausgegangenen zumindest kurz präsent bleiben. »So trägt jede Sequenz die Geschichte ihrer Entwicklung in sich. Was die Technik selbst mit sich bringt, ist ein Gefühl von Zeit«, so der Künstler. Die aufgezählten Fälle belegen die Intention der Kunst, die Rezipierenden auch wirklich und spürbar in ihre Sphäre zu holen — und zwar indem sie diese subversiv in eine prekäre Situation versetzen. Eine routinierte oder emotional schützende Wahrnehmung ist so nicht möglich. Stattdessen muss man sich dem Erleben dieser zwiespältigen Lage ausliefern.
William Kentridge, »Monument« (Stills), 1990
Warum aber fasziniert dies so? Eigentlich strebt der Mensch nach Ordnung, die das Leben im praktischen wie im kognitiven Sinne nur ein Vorher und Nachher gäbe. Unmittelbar vor der Einleitung der Veränderung und auch dazwischen liegen die Ambivalenz, das Hadern und Zaudern, eine sichere Lage zu verändern, die Angst vor dem ungewissen Ausgang — und das ist erst einmal unangenehm. Deshalb analysieren und planen wir, wo es nur geht, damit alles kontrolliert abläuft und die jeweiligen Resultate nicht überraschen oder unvorhersehbare Probleme erzeugen. Übergänge aber sind in einem organischen, metabolischen System, in dem wir ja leben, grundsätzlich unvermeidbar. Die Natur der Sache beinhaltet immer gleichzeitig auch ihre Veränderungsfähigkeit, ja sogar die sichere Veränderung dessen, was wir gerade erleben. Und die Menschheit hat schon immer darauf reagiert: In archaischen Gesellschaften entstanden beispielsweise Initiations- und Heiligungsrituale, bei denen ein spezifischer Zeitraum, eine symbolische Handlung und besondere Objekte den Übergang in eine neue Qualität performativ begleiten, wie die Aufnahme junger Männer in den Kreis der Erwachsenen. Der altägyptische Kult des Sonnengottes Ra arbeitete mit der Barke als Realverkörperung seiner Fahrt über den Himmel und durch die Unterwelt. Die Menschen feierten dies in Prozessionen, bei denen ein mit mystischer Aura aufgeladener Nilkahn vom Wasser zum Heiligen Ort bewegt wurde. Auch die christliche Theologie musste sich gleichsam mit der Zone zwischen der säkularen Wirklichkeit und der heiligen Sphäre auseinandersetzen. Sie entwickelte das Konzept des Limbus — ein nicht realer Warteraum der Seelen für das zeitlich nicht messbare, jedoch unvorstellbar Zwischenzustand bis zur Erlösung.
Norman Foster, Reichstagskuppel Berlin, 1999
Im faktischen Leben auf der Erde dagegen, das sich dauernd und oft unerklärlich wandelt, geben kultische und individuelle Rituale dem Menschen mehr Zeit und sinnliche Einwirkungen, um sich einzufühlen, zu verstehen — seit Urzeiten wurden deshalb die heiligen Stellen wie Altare oder Gräber umkreist. Wer sich um etwas dreht, kommt ins Denken, sieht mehr Seiten, erlebt in der Kreisbewegung einen kleinen Effekt des Endlosen, was ja typisch für die dauerhafte Mobilität des Kosmos ist. Insofern lieben nicht nur Kinder das kreisende Herumlaufen, auch Erwachsene genießen den formalen Zwang eines Rundwegs, vor allem, wenn sich wie bei einer Spirale bei jedem Schritt dezent etwas an der Perspektive ändert. Mit einer komplexen Umsetzung dieses Motivs operiert auch das architektonische Konzept Norman Fosters, der 1995 den Auftrag für die Neugestaltung der Kuppel über dem Berliner Reichstag erhielt. In ihr laufen die Besuchenden in einer Spiralbewegung nicht nur am Rand des transparenten Dachaufbaus kreisförmig nach oben, wo sie dann gleichsam über das Land blicken, das ja aus dem Gebäude heraus regiert wird. Sie können aber auch in den Plenarsaal hinunterschauen und ihren Abgeordneten beim Plädieren und Entscheiden zusehen. Der diskursive Prozess der Legislative spiegelt sich in der Bewegung der Bürger und Bürgerinnen in der ikonisch aufragenden Kuppel wider und macht sich damit in der performativen Bewegung aller bewusst.
Refik Anadol Studio für Bvlgari, Mailand: »Serpenti Metamorphosis« (Installation), 2021
Nicht durch Architektur, sondern mittels visueller Effekte wendet sich das Projekt »Serpenti Metamorphosis« des Medienkünstlers Refik Anadol dem hier behandelten Motiv zu. Die große, 2021 in Mailand umgesetzte Raum-Installation erzeugt dabei wandfüllende, sich immer wieder neu konfigurierende Flächen, die sich aus 200 Millionen Naturbildern in 3D variierend zusammenfügen und mit tierischen Protagonisten verbunden sind — Schlangen. Diese werden von einem immersiv operierenden Computerprogramm generiert: »… as poetic imagery mimicking natural transformations and snakes that seemed to slither and change throughout the installation«. Anadol hat dabei ein konkretes Ziel: »I welcome the machine as a collaborator, it allows me to make the invisible visible. Metamorphosis is really the perfect symbol to represent overarching ideas of evolution, growth, and precision in the world that surrounds us.« Der Einsatz von KI erlaubt es zudem, je nach Situation, einen Duft ausströmen zu lassen, der das Erlebnis synästhetisch werden lässt. Das Phänomen der permanenten Veränderung in der Natur wird gleichsam in eine ebenso volatile Verbildlichung geführt, die wiederum emotional wirkt und sich durch das reaktive Agieren des in ihr befindlichen Publikums jeweils verändert.
Rei Naito, »Matrix«, permanente Installation Teshima Art Museum, 2010
Während Anadols Medieninstallation im Prinzip eine artifizielle Setzung ist, erscheint in einer anderen künstlerischen Arbeit die Natur tatsächlich als aktiver Mitspieler und ist solcherart in ihrer metabolischen Bewegung erfahrbar. Die Japanerin Rei Naito bearbeitete hierfür den Boden einer eigens angelegten grottenartigen Betonarchitektur — dem Teshima Art Museum — durch eine spezielle Flächenform und punktierende Bohrungen so, dass das in der Gegend vorhandene natürliche Quellwasser auf die artifizielle Oberfläche heraufdrängt, in kleinen Tropfen, die sich dann frei bewegen: »Following the inclination of the floor they seem to race, overtaking each other and occasionally colliding and combining in larger puddles. Dancing in unexpected patterns, they finally gather and are drained through other holes. This splendid movement makes the water look lively, and not only a source of life but alive itself.« Anders als bei dem Blick auf einen Bach oder See nimmt man hierbei das Wasser eben nicht als Element der Landschaft wahr, sondern als sicht- und erfühlbaren Indikator der vitalen Naturkraft, des Drängens und Werdens — erlebt, im Bilden und Verrinnen jener kleinen Teiche den Lebensprozess, den scheinbar ewigen Zyklus des Entstehens und Vergehens der Naturformen. »Is there anything more moving than this moment of transformation?«, fragt die Künstlerin rhetorisch.
Auch das junge Berliner CGI-Studio PALAM befasst sich mit diesem faszinierenden Phänomen und holt es neben künstlerischen Aspekten gekonnt in die wirklichkeitsbezogene Sphäre der Produktwelt. Ihre mit neunmonatigem Arbeitsaufwand generierte immersive Installation »Metamorphosis« (ab Seite 80) gewinnt dabei ihren Reiz nicht nur mittels einer starken, von intensiven Orangetönen geprägten Ästhetik, sondern auch durch die visionäre Kraft der Computer Generated Imagery. Die magische Präsenz des automobilen Objekts entsteht dabei in einem technoiden Setting, auf einer aktiven »Bühne«, die sich sowohl auf Produktion als auch auf Präsentation ausrichtet und diese mit ihren Robotik-Moves bespielt: »The stage becomes a canvas where the fluidity of life is explored, offering an intellectual and sensory journey that captures the essence of transformative beauty.« In Bezug auf das Produktdesign geht es folglich nicht um ein Design, als die Form, die aus einem Material durch einen Wandlungsprozess generiert wurde, gleich ob diese nun kontrolliert entsteht wie bei einem Montage-, Druck- oder Gussvorgang. Denn dies thematisiert letztlich nichts anderes wieder als das Endprodukt. Viel mehr als der Weg und Zeitraum der Herstellung interessiert die Virulenz des Verfahrens, also des Wandlungsprozesses selbst, und dass diese Metamorphose Teil des Konzepts ist sowie in der Formgestalt präsent bleibt.
Was ist nach alldem nun das Resümee der Überlegungen, was die latente und explizite Botschaft jener so eindrucksvollen Projekte und Kunstwerke? Ihr zugrunde liegt jedenfalls die Einsicht, dass der Eindruck, etwas stünde still, nicht selten auf Einbildung oder Fehlinterpretation beruht — wobei es sich gleichzeitig aber auch um eine kognitive Strategie unseres Gehirns handelt, das weiß, dass wir im Rahmen unserer Analyse des Umfelds eine gewisse Ordnung und Struktur benötigen, um etwas in Ruhe wahrnehmen zu können. Das ist vollkommen in Ordnung, solange wir derart begabte Kreative um uns haben, die — wie Rei Naito oder Anadol — uns das visuelle, emotionale und letztlich auch intellektuelle Schweben der sich verändernden Zustände in wunderbare und erleuchtende Erlebnisräume fügen.
ARTIKEL ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №X »STATE OF THE ART« – SOMMER 2023/24