Museum in Bewegung

Kunstinitiative museum in progress

Andreas Scheiblecker, © museum in progress, Courtesy: Galerie Thaddaeus Ropac

TEXT DZENANA MUJADZIC |  ERSTMALS VERÖFFENTLICHT IN CHAPTER №X »STATE OF THE ART« – SOMMER 2023/24

Seit drei Jahrzehnten nun hat das museum in progress es sich zur Aufgabe gemacht, zeitgenössische Kunst demokratischer zu gestalten und sie somit einer so breiten Öffentlichkeit wie möglich zugänglich zu machen. Durch ihre integrativ niederschwelligen Aktivitäten auf höchstem künstlerischen und operativen Niveau transformiert die gemeinnützige Kunstinitiative mediale und öffentliche Räume in flexible Trägerstrukturen für ihre Projekte abseits der metaphorisch dicken Mauern klassischer Kultureinrichtungen.

»Die Ursache der Projekte von museum in progress liegt in der Zukunft (frei nach Beuys)!«, schreibt Kaspar Mühlemann Hartl in seinem einleitenden Text zum Sammelband »museum in progress. Kunst in öffentlichen und medialen Räumen — DURCH EIN ENDE REIN & DURCH DAS ANDERE DURCH [ & DANN NOCH EINMAL ]«, welcher einen Überblick über die bisherigen Werke der Kunstinitiative museum in progress gibt. Der Verweis auf die zunächst paradox klingende Behauptung des großen deutschen Künstlers Joseph Beuys »Die Ursache liegt in der Zukunft« bezieht sich auf die (Auf-) Gabe der Kunst gesellschaftliche Tendenzen frühzeitig zu erfassen und lässt sich plausibel auf den Gründungsgedanken hinter dem museum in progress umlegen. Denn, wenn zeitgenössische Kunst die Vermittlerin von etwas Zukünftigem ist, erscheint auch ihre Entstehung, Distribution und ihr Konsum abseits der klassischen kulturellen Infrastruktur logisch. Von Kathrin Messner und Josef Ortner in Wien gegründet, operiert die Kunstinitiative mit dem programmatischen Namen museum in progress seit 1990 jenseits traditioneller Präsentationsformen für zeitgenössische Kunst und nutzt Freiräume als temporäre Aktionsräume für Kunst-Interventionen, etwa auf Plakatflächen, Gebäudefassaden, in Konzertsälen, im Fernsehen oder sogar an Bord von Flugzeugen.

 

© museum in progress / Martha Jungwirth

 

Martha Jungwirth, »Das trojanische Pferd«, 2019, »Eiserner Vorhang«, museum in progress, Wiener Staatsoper,2019/2020

 

© museum in progress / Martha Jungwirth

 

Medienspezifisch, kontextabhängig und temporär — die Praxis von museum in progress spielt vor allem mit dem Gedanken, dass Raum für Kunst im Kopf anfängt. »Von museum in progress hatte ich gelernt, dass Museen zuallererst Software und nicht Hardware sind, und dieser Gedanke ist heute zeitgemäßer und wirksamer denn je«, bringt es Massimiliano Gioni, aktuell künstlerischer Leiter der Fondazione Nicola Trussardi in Mailand und des New Museum in New York, auf den Punkt und führt fort: »Höchst interessant ist, dass meine Begegnung mit museum in progress mit dem Eröffnungsjahr des Museo Guggenheim in Bilbao zusammenfiel. Das Guggenheim in Bilbao mag heute bekannter sein, doch für mich wird museum in progress immer den Weg in die Zukunft weisen.« Die kulturell bedeutsame Position der progressiven Kunstinitiative wurde schon früh von führenden Museen wie dem MoMA in New York oder dem Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam erkannt, die ihre Werke bereits um die Jahrtausendwende in ihre Sammlungen aufnahmen. Max Hollein, Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York City, beschreibt das Projekt als eine »… seit ihrer Gründung höchst einflussreiche, schwer greifbare aber umso wirksamere Institution, immer der Zeit voraus«.
Eine mögliche Antwort auf den immer aktuellen Diskurs um die Zukunft der Museen und klassischer Ausstellungsflächen gibt das museum in progress unter anderem im Bereich Zeitungskunst und Multiples in Magazinen. Seitens der Initiative heißt es, weltweit gäbe es keine andere Institution, die in Umfang, Vielfalt und Qualität vergleichbare Werkgruppen realisiert hätte und weiters: »Dabei ist zu betonen, dass die vielfältigen Arbeiten der internationalen Künstler:innen spezifisch für den Medienraum konzipiert wurden und keine Reproduktionen von Kunstwerken darstellen, sondern als Multiples funktionieren, als eigenständige Werke in der Auflage des Mediums. Folglich ist die einzelne Zeitung beziehungsweise das einzelne Heft ein Original und Sammlerstück.«

 

Andreas Scheiblecker, © museum in progress, Courtesy: Galerie Thaddaeus Ropac

 

Anselm Kiefer, »Solaris (für Stanislaw Lem)«, 2023, »Eiserner Vorhang«, museum in progress, Wiener Staatsoper, 2023/2024

 

Auch mit seiner Ausstellungsreihe »Eiserner Vorhang« beweist das museum in progress große (gesellschaftspolitische) Sensibilität für das Zeitgeschehen. Seit 1998 verwandelt sich bei jenem Projekt der eiserne Vorhang der Wiener Staatsoper — eigentlich eine bauliche Brandschutzeinrichtung, die das Bühnenhaus im Falle eines Brandes vom Übergreifen auf angrenzende Gebäudeteile und den Publikumsraum schützen soll — in eine Ausstellungsfläche zeitgenössischer Kunst.
Dem Konzept der Ausstellunsgsreihe geht die Debatte um den originalen eisernen Vorhang des Künstlers Rudolf  Hermann Eisenmenger voraus. »Im Kern der Kontroverse lag eine übergreifende Thematik, die in der Öffentlichkeit jedoch nur am Rande diskutiert wurde: die Beteiligung österreichischer Kunstschaffender in der NS-Zeit und der Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit diesem Erbe«, heißt es auf der Webseite der Initiative erklärend. Bedeutet, Eisenmengers umfassende Rolle im nationalsozialistischen Regime — er malte Propagandabilder mit Swastikas und bekam von Hitler den Ehrenprofessor verliehen—, die Undurchsichtigkeit der damaligen Auftragsvergabe sowie die holprige Entscheidungsfindung durch eine großteils für diesen Zweck unqualifizierte Jury. Tatsächlich hing der kontroverse Vorhang von 1955 bis 1995 prominent und großteils unhinterfragt, bis Operndirektor Ioan Holender öffentlich dazu aufrief, das Werk Eisenmengers als symbolische Geste zu entfernen. Folglich entwickelt die Kunstinitiative museum in progress einen Vorschlag, der sich durchsetzte und bis heute realisiert wird: Seitdem wird jährlich ein neues Werk gestaltet, das jeweils eine Spielzeit lang zu sehen ist, zuletzt von Anselm Kiefer mit seinem Werk »Solaris (für Stanislaw Lem)«. In der Vergangenheit wirkten beispielsweise Kunstschaffende wie John Baldessari, David Hockney, Cy Twombly, Kara Walker, Franz West, Rosemarie Trockel, Jeff Koons, Tauba Auerbach oder Maria Lassnig — Namen so überlebensgro. wie der 176 Quadratmeter umfassende Vorhang selbst. Die applizierten Großbilder werden nach innovativen Verfahren produziert und installiert, die Herstellung erfolgt dabei auf einem PVC-Netz, welches mittels Magneten auf dem eisernen Vorhang fixiert wird. Durch diese Technik bleibt der originale eiserne Vorhang Eisenmengers, der in Wien denkmalgeschützt ist, unberührt. Aufgrund Vorgabe des Denkmalamtes ist dieser in den Sommermonaten jeweils für drei Monate zu sehen.

 

© museum in progress / Cao Fei

 

Cao Fei, »The New Angel«, 2022, »Eiserner Vorhang«, museum in progress, Wiener Staatsoper, 2022/2023

 

© museum in progress / Cao Fei

 

Selbstverständlich zeichnet sich für die Künstler:innenauswahl eine ebenso hochkarätige, unabhängige, internationale Jury verantwortlich, welcher — neben Daniel Birnbaum und Bice Curiger — auch der einflussreiche Kurator Hans-Ulrich Obrist vorsteht. Lange bevor er zum Superstar der Kunstszene avancierte, hat Obrist als kongenialer Partner viele Projekte der damals noch jungen Kunstinitiative — in der er ideale Voraussetzungen fand, um außergewöhnliche Projekte zu realisieren — kuratiert und ist dieser bis heute in einer beratenden Funktion erhalten geblieben. Josef Ortner, mit dem er bis zu dessen Tod 2009 auch freundschaftlich verbunden war, beschreibt er als »Wegbereiter unter den Museumsgründern des 20. Jahrhunderts. Sein Denkansatz bestand darin, über die Institution, wie wir sie kannten, hinauszugehen und neue Rituale für Räume zu ersinnen, in denen uns Kunst begegnet.« In seinem Statement zum museum in progress erwähnt er weiters das Internet als eine bereits frühe Präsentationsform von Kunst der Initiative: Die Transmedialität des Internets birgt den Gedanken hinter einem »immateriellen« Museum bereits in sich, bietet einen demokratischeren Zugang zu Kunstinhalten jenseits starrer Mediengrenzen. Mit der Gründung des digital museum in progress — einem virtuellen Ausstellungsraum für zeitgenössische digitale Kunst — will die Kunstinitiative mit ihrem progressiven Anspruch an sich selbst Schritt halten und beschreibt das Projekt, das sich in einer noch sehr frühen Phase befindet, als »Erlebnisraum für neue Formen der Kunst« und auch »Plattform für Künstler:innen, die mit neuesten Technologien und digitalen Medien arbeiten«. Ein aktuelles Bespiel für die medienübergreifende Kunstpräsentation des museum in progress ist das Projekt »raising flags«, das seit 2023 an verschiedenen Standorten, in virtuellen Ausstellungsräumen und in den Medienräumen von Zeitungen und Magazinen realisiert wird, und für das 35 internationale Künstler:innen Flaggen gestalteten, darunter klingende Namen wie Thomas Bayrle, Wade Guyton, Martha Jungwirth, Laure Prouvost, Christian Robert-Tissot oder Erwin Wurm.

 

© Ayan Biswas, Courtesy: sā Ladakh festival

 

»raising flags«,  museum in progress, Ladakh, 2024

In zwei Projektphasen geteilt, befasst sich der erste Teil unter dem Titel »Nationalflaggen der Ideen« mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in herausfordernden Zeiten, der zweite Teil — »The essence of wind and the wind of change« — , wie der Titel bereits vermuten lässt, mit der Bewegung im Wind und dem Wind des Wandels im übertragenen Sinn — zu sehen an zahlreichen Standorten, darunter Wien oder auch Ladakh (Indien) im Rahmen des Festivals sā (Juni 2024) und demnächst am Festival sommer.frische.kunst in Bad Gastein (Juli 2024). Wobei der Aufruf seitens der Kuratoren Kaspar Mühlemann Hartl und Alois Herrmann zur Fortführung besteht: »Institutionen, Firmen, aber auch Privatpersonen, die über die Möglichkeit verfügen, eine Flagge öffentlich sichtbar zu zeigen, sind eingeladen, sich an dem Projekt zu beteiligen.« Sicherlich keine zufällige Aufforderung, wenn man bedenkt, dass das museum in progress von seinen Gründungsmitgliedern Kathrin Messner und Josef Ortner als soziale Skulptur (frei nach Beuys!) verstanden wurde, dessen Verständnis aus dem »erweiterten Kunstbegriff« resultiert, welcher die Kunst nicht auf ein abgeschlossenes Werk beschränkt, sondern das kreative Denken und Handeln des Individuums, auch in seiner Kollektivität, mit einbezieht. Eine Überlegung, die das unkonventionelle Museum, seit jeher in seinem Wirken einschließt.