Text Maximilian MIGOWSKI | Fotografie Robert RIEGER
Auf den Spuren eines wahrhaftigen Garderobenklassikers treffen wir den Gründer eines in Berlin geborenen Start-ups für perfekt passende Herrenanzüge, der uns in sein Erfolgskonzept einweiht und von der schmalen Gratwanderung bei der Herstellung intrikater Hybridprodukte berichtet.
Der Begriff Mode scheint in Berlin so dehnbar und vielfältig wie fast nirgends sonst auf der Welt. Haben die Hauptstädter doch ein ganz besonderes Verhältnis zu den Dingen in ihrem Kleiderschrank und die Art und Weise sich zu kleiden spielt in der täglichen Selbstinszenierung und Vermarktung eine enorme Rolle. In einer Stadt, die historisch wie gegenwärtig von polarisierenden, aufeinander krachenden Lebensentwürfen geprägt ist, scheint es auch wenig überraschend, dass die Distinktion von Mitmenschen über das äußere Erscheinungsbild erfolgen muss. Doch genauso vielseitig wie die Berliner sind, so sehr ähneln sie sich oftmals auch in ihrem Bedürfnis nach Unverkennbarkeit und erwecken den Anschein einer Masse an pseudoindividuellen Antikonformisten, die so zwanghaft davon besessen scheinen, nicht mit ihrem Sitznachbarn verwechselt zu werden, dass sie nahezu alle zu den gleichen Mitteln greifen um jenes zu verhindern. Da wirkt es doch glatt erfrischend, wenn sich dieserorts jemand einer vermeintlich so banalen, so augenscheinlich unspektakulären Silhouette wie der des Anzugs widmet — einer Konstellation an Einzelteilen, die fast schon im ideologischen Widerspruch zur Künstlermetropole steht, oder in dieser, zumindest in konventioneller Erscheinung, als spießig gilt. Der Herrenanzug. Kaum ein anderes Kleidungsstück weist eine längere modische Kontinuität auf, als das Ensemble aus passendem Unter- und Oberteil — Jacke, Weste und Hose. So stellt er seit bald 400 Jahren den eleganten Klassiker in der Garderobe des westlichen Mannes dar.
Wo und wann genau welche Einflüsse und Inspirationen die Entwicklung prägten, ist indes schwierig nachzuvollziehen — aber das, was wir heutzutage unter einem Herrenanzug verstehen, lässt sich am ehesten auf die eleganten Kostüme des europäischen Adels zurückführen, die den retrospektiv übermäßig dekorierten Mehrteiler vor der Französischen Revolution um 1790 herum ablösten. Ab diesem Zeitpunkt bewegte man sich in Richtung einer zunehmend zurückhaltenden Verzierung des Stoffes, wohingegen raffiniertere Schnittkonstruktionen zunehmend der Tragbarkeit und Alltagstauglichkeit des Anzuges voran halfen. Mit der Geburt des Dandys im späten 18., beziehungsweise frühen 19. Jahrhundert, findet jedoch die eigentliche Geburt des Anzugtragens, wie wir es heute kennen, statt. Der Dandy ist, auch 2019 noch, der Inbegriff des gut gekleideten Gentlemans. Gleichsam schniek wie sportlich ist der damalige Anzug einerseits Zeuge weiterentwickelter Schneiderskunst, andererseits auch ein modisches Statement. Der viktorianische Mann von Welt trägt eine dem Torso nachempfundene V-Form aus Hemd — gern gerüscht, auch Dichterbluse genannt —, Weste, Jackett und Hose, allesamt dem Körper anschmiegend. Spult man nun über die Dekaden hinweg nach vorne, gelangt man ins 20. Jahrhundert. Der Anzug ist hier zwar nach wie vor in manchen Kreisen Ausdruck europäisch geprägter Bourgeoisie, diffundiert allerdings auch zwischen den Klassen als Uniform für eine sittliche, anständige Darbietung des Selbst — beruflich, sowie freizeitlich zum Kirchgang oder Tagesausflug. Am Ende ist und bleibt der Anzug allerdings über die Geschichte hinweg bis ins Präsens auch ein Stück weit der Dresscode eines Lebensgefühls — eines Lebensgefühls, das jedoch in Anbetracht der Variationsvielfalt der Anzüge gar keine so spezifische Ausprägung kennt, wie man vielleicht oberflächlich annehmen würde. Doch was sich wohl geändert hat, ist, wie, wann und wo wir den Anzug tragen. Es ist ein Phänomen, das mit Zeitgemäßheit, Zeitgeistlichkeit zutun hat: »Mode ist — so sehr wie kein anderes Produkt — abhängig vom Zeitgeist. Und der Zeitgeist ist in ständigem Wandel«, erklärt auch Martin Purwin, Mitgründer der Berliner Maßschneiderei Purwin & Radczun.
Hier, im Altbau-Atelier am Tempelhofer Ufer, rekapituliert der gebürtige Düsseldorfer seinen Werdegang und erzählt von seiner durch den Großvater in die Wiege gelegten Affinität für Textilien, dem Geschäft mit der Bekleidung. SAL. lautet der Name des jüngst von Purwin ins Leben gerufenen Unternehmens. Das Label, welches man ganz informell auch als Maßmode-Start-up bezeichnen könnte, soll dem statischen Image des Anzugs einerseits eine Politur verpassen, andererseits die von vielen Seiten wachsende Begeisterung für aus dem Schneiderhandwerk Entstandenes bespielen. Zwar subtil in seiner Natur, so ist es doch bemerkbar, dass auch mit wachsendem Bewusstsein gegenüber der korrupten, ausbeuterischen Ader des Fast Fashion Modells, die Sehnsucht nach weniger ersetzbarer, hochwertigerer, langlebigerer Tracht erwacht. »Der Name rührt von meinem Großvater. Salomon, kurz Sal«, erklärt Purwin. »Er hatte in den Zwanzigerjahren eine Textilagentur, hat Rohware angeboten, Baum- und Schurwolle nach Deutschland importiert. Dadurch habe ich quasi familienbedingt schon eine gewisse Tendenz zum Textilen entwickelt.« »Düsseldorf war und ist schon lange Zeit das deutsche Zentrum, der Umschlagplatz für Mode. Damals, in meinen Anfängen, war ich dort für eine italienische Firma angestellt, die eine der größten Hersteller von Klamotten in Europa war. Mitunter arbeitete ich hier mit Labels wie Armani, Valentino, Ungaro, Dior und so weiter«, resümiert Purwin, dessen traute Beziehung zum Metier auf jahrelanger Beschäftigung in europäischen Distributionshäusern im Auftrag global bekannter Designer beruht. Besagte Häuser sind in stetigem Tausch mit Brands auf der ganzen Welt, so kommen also oftmals Teile verschiedenster Designer aus ein und derselben Stätte. »In Agenturen dieser Art hat man mit 20 verschiedenen Marken zu tun, wenn man also ein bis zwei Mal den Arbeitgeber wechselt, kann man sich rund 60 Labels auf die Kappe schreiben«, so Purwin. »Man hat immer so eine romantische Vorstellung davon, wie irgendwelche Designer mit Sitz in Paris oder Mailand ihre Stücke im Atelier entwerfen und zusammenschneidern. Dieser Eindruck fällt dann natürlich so ein wenig in sich zusammen, es ist plötzlich alles nicht mehr halb so glamourös, wie man sich das vorgestellt hatte. Die Dinge, die hinter den Kulissen passieren, rauben da natürlich auch die Magie, gerade wenn man an die Produktionen, die Bezahlung der Leute dort denkt. Die Romantik verfliegt.«
Zwar haben seine Schilderungen einen durchaus ernüchternden Effekt, sowohl auf ihn selbst als auch auf alle die, mit denen er diese teilt, dennoch konnten diese Erfahrungen Martin Purwin nicht abschrecken. Nach beruflichen Stationen im Marketing und Vertrieb der Jeansmarke G-Star oder in Beratungs- und Organisationspositionen für Labels wie Ellesse oder der über die Jahre hinweg mehrfach neuerfundenen Bread & Butter Modemesse, sah er schließlich die Zeit gekommen, seine Ideen zur Selbstständigkeit umzusetzen. »Inspiriert vom Thema Maßschneiderei und anlehnend an meine Erinnerungen an diese tollen Herrenausstatter in Italien, Frankreich oder England, haben wir dann beschlossen, ein kleines Team aufzubauen, eine eigene Fertigung ins Leben zu rufen.« Mit seinem Geschäftspartner Boris Radczun möchte sich der damals Mittdreißiger gelerntes Branchen Knowhow zu Nutze machen und ein Berliner Äquivalent zu Traditionsschneidereien in Paris, Mailand, London oder New York auf die Beine stellen. Trotz zunächst eher suboptimalen Aussichten durch Mangel an qualifizierten, potenziellen Mitarbeitern. »In Deutschland ist die Schneiderei wirklich ein aussterbendes Gewerbe. Wenn man bei der Handwerkskammer anruft und denen sagt, man bräuchte einen Schnittmacher, lachen die dich aus«, erzählt er uns ebenfalls lachend. Schließlich geraten die beiden glücklicherweise an ihren heutigen Leiter der Werkstatt, James Whitfield. »Er hat bei Anderson & Sheppard gelernt und später gearbeitet. Sie sind legendär, sie haben damals die ersten wirklichen Frauenhosen gemacht, Marlene Dietrich gekleidet, schneidern heute für Prince Charles.«
Was den Look der Ware ihres neuen Alte-Schule- Betriebs angeht, bewegt man sich zwischen den kulturtypischen Ästhetiken verschiedener Landesstile: »Die englische Schneiderei ist traditionsgemäß eher etwas steif, sehr formell, wohingegen die italienische sehr weiche, sehr fließende Schnitte präferiert. Anderson & Sheppard ist eines der einzigen Häuser in England, das sich auch diese weicheren Elemente zu eigen macht. Das hat perfekt gepasst zu dem, was wir vorhatten. Die Italiener haben schon einen recht extremen Stil, was ihre Verarbeitungsmethoden angeht, ihre Anzüge sind oft sehr tailliert, aber dann mit breiten Schultern und kurzen Jacken, wohingegen die Engländer immer eher zu lang, zu groß gehen und ein etwas prüderes Auftreten bevorzugen. James war also, als jemand der von einem Haus kommt, das genau diese Schnittstelle bedient, ein perfektes Mitglied für unser Team und das Vorhaben dahinter. Wir wollten uns in dieser Mitte bewegen und haben also auch dadurch unseren eigenen Stil gefunden.«
Doch damit ist es für Purwin nicht getan, er möchte einen weiteren, einen außergewöhnlicheren, jugendlicheren und obendrein kommerzielleren Beitrag zur Nische beisteuern. Zwar war man dabei, das Atelier zu etablieren und eine treue kaufkräftige Stammklientel aufzubauen, doch bleibt die Anzahl derer, die sich einen maßgefertigten Anzug für knapp 4.000 Euro kaufen möchten recht gering. »Selbst die, die sich das leisten können, gehen dann eher noch für 1.500 Euro zu Prada, zumal da auch noch mal das Label, der Markenname mitspielt. «Und das Geschäft mit dem Anzug ist kein einfaches. Im Gegenteil: Viel mehr noch, als es vielleicht im weiblichen Sektor der Fall scheint, sind gerade Männer wenig flexibel, unabhängig davon, ob sie den Anzug als Investment in höchste Qualität oder als rein zweckdienliche Klamotte definieren. In Anbetracht der vielen etablierten Hersteller, die seit langer Zeit auf dem Markt sind, wirkt es da nahezu unmöglich, als Quereinsteiger preislich und/oder mit Fokus auf Qualität aufzufallen und zu reüssieren. »Wir haben eben festgestellt, dass man im Upper End zu sehr im Vergleich mit schon wesentlich größeren, bekannteren Marken steht und es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, ist, sich da zu behaupten. Da drunter hat man dann als nächstes das Hugo Boss Level, also so zwischen 500 und 800 Euro. Hugo Boss ist der größte Anzugmacher der Welt, mit einem Umsatz von rund 2 Milliarden. Hier kommt man nicht rein. Der Kunde denkt hier auch weniger Richtung Maß, sondern eben auch eher an das Label«, erläutert Purwin. »Der Durchschnittspreis, den man in Deutschland für einen Anzug zahlt, liegt bei 280 Euro. Das kommt zustande aus dem großen 500/600er-Segment um Boss und dem ganz günstigen H&M- oder C&A-Bereich bei circa 160 – 180 Euro.« Er kalkuliert, dass man »für 280 – 290 Euro […] aber schon etwas echt Vernünftiges machen kann. Wir haben versucht, unser Produkt genau auf diese Schnittmenge zu konzipieren. In England gewebte Schurwolle, in Europa genäht, nach unseren Schnittmustern, für die unsere Maßschneider ihre Expertise angewandt haben, um beim Weiterreichen an die Manufakturen sicherzugehen, dass es auch möglichst nach unserer Handschrift aussieht. All das wollten wir so günstig wie möglich zur Verfügung stellen, ohne Abstriche in der Qualität machen, ohne nach Asien gehen und schlechte Arbeitsbedingungen verantworten zu müssen.« Durch eine vertikale Verkaufstaktik, also direkt von Macher zu Verbraucher, spart sich SAL. die sonst übliche Großhandelsmarge, wahrt Exklusivität und kann sich auf wesentliche, dem Kunden wichtige Charakteristika konzentrieren. »Ein maschinengenähter Anzug benötigt in der Regel um die 90 Minuten. Komplett von Hand muss man mit 70 bis 80 Stunden rechnen. Die Marge von einem 4.000 Euro von Hand genähtem Anzug ist also eigentlich viel enger, als bei einem von Maschine. Auch ein teurer 1.000 Euro Anzug, der im Werk mit Maschine genäht wurde, kostet in der Produktion nicht mehr oder weniger, als ein günstiger. Unserer Meinung nach ist es nur fair ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis zu gewährleisten«, verspricht Purwin. »Das Schwierigste und Spannendste an der ganzen Sache ist, dass wir letztlich von einem Basic Produkt sprechen. Es ist nichts Modisches, in dem Sinne. Hier wird nicht nach Trends gearbeitet, weder bei SAL., noch in der Maßschneiderei. Es geht um Klassiker. Das Abbilden eines traditionellen, dunkelblauen Anzugs, den man aber eben in Material und Passform auf einem Niveau anbietet, dass er theoretisch auch maßgeschneidert sein könnte. Der Teufel, und damit auch der Erfolg, liegt hier einfach im Detail.«
Die Hybridisierung zweier auf den ersten Blick möglicherweise konträrer Attribute ist es, was SAL. im Vergleich zu anderen Anbietern wohl unterscheidet. Allem voran das Preisschild mitsamt der von dem Neu-Label gehaltenen Versprechen erweist sich als attraktiv, auf mehreren Ebenen. »Viele Leute wollen ein Maßhemd, ein Maßprodukt, realisieren aber nicht zwingend, dass auch dieses in der gleichen Fabrik in Asien hergestellt wurde, wie das von der Stange. Es gibt eben einen riesigen Unterschied zwischen Maßkonfektion und Maßschneiderei. Man will sich in der Romantik des Maß-Begriffs wiegen, lässt sich aber von Firmen täuschen, die gezielt versuchen, das eine für das andere zu verkaufen«, legt Purwin dar. »Das passiert ja nicht nur bei uns in der Bekleidungsindustrie, sowas kann man auch wunderbar im Lebensmittelzweig observieren. Der Verbraucher wird mal mehr mal weniger dreist getäuscht, weil, klar, es ist jedem lieber zu sehen oder zu hören, dass irgendwas aus der Nähe kommt und nicht von irgendwo her, unter Gott weiß was für Bedingungen eingeflogen werden musste. Da ist man dann als potenzieller Käufer gezwungen, besser Acht zu geben, wenn einem sowas wichtig ist«, fährt er fort. »Ich sage ganz ehrlich, SAL.-Teile werden in einer Fabrik gemacht. Sonst könnten wir das Modell so nicht durchziehen. Aber es gibt eben gute Fabriken und schlechte, es ist nicht alles über einen Kamm zu scheren. Anzug ist eben auch nicht gleich Anzug.«
Um zum Ende hin ein wenig konkreter auf den Texteinstieg zu sprechen zu kommen, illustriert der Mann vom Fach, an wem man sich eigentlich den Anzug vorstellen muss. Hat SAL. denn mit Standort in der eher subversiv gestylten Millionenstadt das Potential zu »des Berliners Neue Kleider«? »In Frankfurt hat man zum Beispiel eher die Anwälte, Bankiers, Geschäftsmänner. In Berlin haben wir eher Künstler, Galeristen, Musiker. In Düsseldorf dann wieder eher die Händler, Immobilienmakler. Mit der günstigen Marke bedienen wir natürlich eher jüngere Käufer. Im Maßatelier haben wir es so mit Ende 40, Anfang 50 zu tun, was im Vergleich zu anderen Betrieben noch eine recht junge Klientel ist. Mit SAL. blicken wir eher auf Paar-Und-Dreißig, Leute im ersten Part ihrer Karriere.« »Wenn Leute viel Anzug tragen, fühlen sie sich geradezu befreit, wenn sie es nicht müssen. Wohingegen hier in Berlin das ganz anders aussehen kann. Einer unserer Kunden ist ein erfolgreicher Maler. Er hat uns erzählt, dass er den ganzen Tag von früh bis spät im Blaumann in seinem Studio steht, vollgekleckert mit Farbe, dreckig bis dorthinaus. Er hat dann einfach total Lust darauf, abends auszugehen, etwas Schickes, einen Anzug zu tragen. Es ist hier — wie bei so vielen anderen Dingen auch — das Wollen von Dingen, die man sonst nicht haben kann.« Seine beim Überfliegen anderer Gespräche mit am häufigsten genannte, sowie liebste, aber doch berechtigterweise aussagekräftigste Anekdote ist ein Verweis auf Bela B von Die Ärzte. Der Wahlhamburger Punkrocker habe wohl einst etwas nach dem Motto gesagt, dass es der einzige Weg gegen ein heutzutage in Jeans, T-Shirt und Sneakern gekleidetes Establishment vorzugehen sei, einen Anzug zu tragen. Vielleicht unter’m Strich doch ein wenig überspitzt, wo doch SAL. kein allzu rebellischgeladenes Ideal verkörpert, so ist der Gedanke hinter jenem Statement doch ein sehr guter, gerade als Instrument für Purwin. Schließlich liegt dem Wort »Tradition« ja nicht umsonst auch die Buchstabenkombination für »Anti« bei.